(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 1/94) < home RiV >
Deutsche Identität
I.
"Identität" zeichnet sich als Begriff durch unüberbietbare Klarheit ("A = A"), also notwendigerweise auch durch ungemütliche Kargheit aus. Sobald er aber der Obhut der Logiker entglitten und in die Hände von Moderatoren, Leitartiklern und Akademie-Managern geraten ist, braucht man Kargheit nicht weiter zu befürchten und darf auf Klarheit nicht mehr hoffen. Was gibt es nicht an "Identitäten", die man diskutieren und hinterfragen muß: Die "weibliche Identität", die Identität "der Moderne", der bürgerlichen Gesellschaft, von Gruppen, Ethnien und "Bewegungen" ... und schließlich dann auch die "deutsche Identität". Daß der Wortgebrauch auch außerhalb von Mathematik und Logik oft seinen guten Sinn hat, steht außer Frage. Die nachgerade inflationäre Verwendung der Vokabel indessen legt den Gedanken nahe, daß die kluge Abhandlung Scheuerles über "das Wesen des Wesens" (AcP 163, 429 ff.), jenen "wunderwebenden Begriffswirrwarr", wie ein Maßanzug auch für die "Identität" geschneidert sein könnte -vorweg schon mit der dort angeführten Berufung auf Schelling: "Das Gefährlichste für den Menschen ist die Herrschaft dunkler Begriffe." Das mag im einzelnen sein, wie es will; denn jedenfalls eine Beobachtung Scheuerles läßt sich für den vorliegenden Zweck übernehmen: die so beliebte Anrufung des "Wesens", meint er, sei zwar unklar, nicht selten gefährlich und stets entbehrlich, aber doch keineswegs inhaltlos; im Gegenteil ... So auch hier: jeder ahnt, fühlt, merkt und weiß nachgerade, daß unter der plakativen Aufschrift der deutschen "Identität" Grundlegendes, Aufregendes, ein kollektives Erbe insgesamt zwar nicht eigentlich verhandelt wird, aber letztlich aufgerufen oder gemeint ist - irgendwie. Dieser dunkle Kern verdient alle Aufmerksamkeit, nicht die Schale aus Worten; und eine bescheidene Sammlung von Impressionen mag interessanter sein als ein großer Streit um Begriffe.
II.

1. Hauptverhandlung einer Kleinen Strafkammer; ein Rauschgift-Fall der üblichen Art. Ein biederer Schöffe, der bisher kein Wort gesagt, nur sinnend vor sich hin und in den Saal geguckt hatte, öffnet der Wärme wegen die Jackenknöpfe. Wie man dann sieht, sind es Hosen-träger, die seine Beinkleider halten. Der Verteidiger fixiert den Mann, runzelt die Stirn und entläßt ihn nicht aus seinen sich immer düsterer umwölkenden Blicken, was der Mensch mit Unschuldsmine zu übersehen scheint - nein: was er tatsächlich gar nicht wahrnimmt! In einer Sitzungspause tritt der Vertei-diger zum Vorsitzenden: Er - der Rechtsanwalt - werde zu über- legen haben, ob er den Schöffen nicht ablehnen müsse; und auf die erstaunte Rückfrage: ob dem Richter denn nicht aufgefallen sei, daß der Schöffe Hosenträger in den Nationalfarben der "BRD" trage. Der Angeklagte hingegen sei schließlich Kurde, könne solch' hervorgekehrten Nationalismus auf den Tod nicht leiden und stehe natürlich unter dem Eindruck, daß seine Sache bei einem augenscheinlich "Rechten" und Ausländerfeind in denkbar schlechten Händen liege. ... Ob nicht zunächst der Herr Vorsitzende selbst die provokative Selbststilisierung des Schöffen zum Anlaß nehmen wolle, ihn nach seiner Einstellung zu Ausländern allgemein sowie Kurden und Asylbewerbern im besondern zu befragen. ...

2. Das Hamburger Schauspielhaus gibt Hamlet. Wem solche klassischen Dramen von der Schulbank her noch einigermaßen vertraut und geläufig sind, dessen Aufmerksamkeit und Interesse richtet sich weniger darauf, was deklamiert wird, als wie man es spielt, zur Geltung bringt und darbietet. Diesmal gibt es den Shakespeare - Gott sei dank! - ziemlich originalgetreu, ohne überflüssige Zutaten oder auf-gesetzte Effekte; und so kommt die Handlung des 1. Aktes, wie es sich gehört, an das Ende der 4. Szene, wo Marcellus (nachdem Hamlet, der Geistscheinung seines ermordeten Vaters geflügelte Wort zu sprechen hat: "Es ist was faul im Staate Dänemark" (nach Schlegel; im Original: "something is rotten in the state of Denmark"). Aber nein, das sagt er heute nicht, sondern nur:"es ist was faul im Staate" - soviel und nicht mehr!

Später am Abend Diskussion darüber: Man gibt zu bedenken, die Verkürzung der berühmten Sentenz sei - rein literarisch -Schauergeschichte nun einmal am dänischen Königshof der Vorzeit spiele. Aber als durchgreifendes Argument könne dies letztlich nicht gelten.

Denn moralisch, politisch, volkspädagogisch,"gerade jetzt" und überhaupt wäre es mißlich gewesen, peinlich und einfach unzulässig, auf einer deutschen Bühne mit anklagendem Finger gegen das Ausland zu deuten mit einer Sentenz, die doch erst einmal wir selbst zuhause, bei uns im eigenen Nest zu verarbeiten hätten; wieviel sei doch hier, in der Bundesrepublik faul und oberfaul. ...

3. In einer "politischen" Akte, die ich Mitte der 80iger Jahre oder etwas später in die Hand bekam, fanden sich Ermittlungs-protokolle gegen eine Gruppe zotteliger Burschen, die u.a. im Verdacht nach § 86 a StGB (Verwendung verfassungsfeind-licher Kennzeichen pp.) standen. Die Polizei hatte tatkräftig recherchiert, Vermerke gemacht und Indizien zusammengetragen.

Auch dieses (sinngemäß wiedergegeben): "In der Gaststätte "Zur Eiche" wurde von der Gruppe der Beschuldigten laut und offenbar demonstrativ die verbotene (erste) Strophe des Deutschlandliedes abgesungen."

Zusatz: Ende 1992 tat die schleswig-holsteiner Kultus-ministerin Marianne Tidick kund, sie sei "ziemlich entsetzt" darüber, in einem viel benutzten Schulliederbuch ihres Landes das Deutschlandlied vollständig und unkommentiert zu finden.

4. Im Evangelischen Kirchengesangbuch steht ein altes Lied aus Reformationszeiten, geschrieben und vertont vom 1496 geborenen thüringischen Hofkapellmeister Johann Walter: "Wach auf, wach auf du deutsches Land". Kräftig angestimmt, ergibt es einen kernig-brausenden siebenstrophigen Gesang, der das Kirchenschiff füllt und die Mauern durchdringt. So drang dieses Lied - allerdings in der Kümmerform irgendwelcher aufgeregten Medien-Mitteilungen - auch an das Ohr der eben erwähnten Ministerin: zu ihrem Befremden und Entsetzen, wie sie die Presse wissen ließ. Das seien nationalistische Töne; der Anklang zu Naziparolen liege auf der Hand ... und später abschwächend: Sie müsse darauf aufmerksam machen, daß Lieder, die in einem bestimmten historischen Kontext entstanden seien, heute für Fehlinterpretationen durchaus Anlaß gäben. Der Presse zufolge war der Sprecher der Nordelbischen Kirchen-leitung dann schlagfertig genug, der Ministerin postwendend den vollständigen Text des Liedes zuzufaxen, dessen erster Vers lautet:
 

Wach auf, wach auf, du deutsches Land!
du hast genug geschlafen.
Bedenk, was Gott an dich gewandt,
wozu er dich erschaffen.
Bedenk, was Gott dir hat gesandt
und dir vertraut sein höchstes Pfand,
drum magst du wohl aufwachen."

III.

Das war nicht mehr als ein Sammelsurium von Erinnerungen, die das Stichwort sozusagen angesogen hatte. Beim Niederschreiben fallen mir nun noch hier und dort passende Seitenstücke ein. Zum Theater z.B. der "Amadeus" von Peter Shaffer: Eine wacker und witzig dargebotene Bergedorfer Schüleraufführung der bekannten (aber möglicherweise unhistorischen) Mozart-Salieri-Tragödie. Dort wetterte das deutsche Genie - wie es schien: hemmungslos - gegen die öde und glatte Herkömmlichkeit der welschen Oper, das ewig-langweilige italienische Geplätscher, dem er etwas Unvergleichliches, eine deutsche Oper in deutscher Sprache entgegensetzen werde. ... Ungewohnte Töne von einer Bühne herab; und doch war es viel weniger, als davon noch weiter im Textbuch stand, das sich allerdings streng an dokumentarisch verbürgte Sentenzen Mozarts hält. Die Schüler hatten lange und ernsthaft überlegt, wie weit im Zitieren sie der Werktreue wegen gehen könnten und sollten, und was aus den bekannten "politisch-moralischen Gründen" ungesagt bleiben müsse.

Zu Flagge (Nationalfarben: Hosenträger!) und Hymne (II. 3) läßt sich die Vermutung beisteuern, daß die von der Ministerin vermißte Liederbuchkommentierung wohl im Abdruck des BVerfG-Beschlusses vom 07.03.1990 hätte bestehen sollen (NJW 1990, 1985 ff.). Schließlich ist es dem BVerfG ja gelungen, die beiden Staatssymbole (Farben und Hymne) so schamhaft zu verstecken und sie mit spitzfindigen Sätzen gegenüber Verunglimpfungen so schutzlos zu stellen (vgl. oben und BVerfG v. 07.03.90 NJW 90,1982; zum ganzen mit sarkastischer Glosse: Sendler NJW 1993, 2157 f. [2158]), daß man in den obigen Fällen II. 1. und II. 3. mildernde Umstände einfach wird gelten lassen müssen: Für den Verteidiger, der aus den unglücklichen Hosenträgern gleich einen Strick drehen will, und für den Polizisten, der immerhin die Schlüssigkeit des Gedankens für sich hat, wenn er meint: wenn schon die zum Feiern erkorene erste Strophe (zur Genesis dieser Zweckbestimmung vgl. NJW 1988, 1294 ff. (1297)) von verfassungswegen weder wirkliche Achtung noch ernsthaften Schutz verdiene, dann müsse jedenfalls der Hymnenrest wohl illegal sein.

Nun zum Schluß - und wieder im Ernst: Deutschland leidet (psychoanalaytisch gesprochen) unter einer pathologischen Ich-Schwäche. Nun pflegt man mit der "deutschen Identität" meistens das genaue Gegenteil zu verbinden, nämlich eine Fülle unerfreulicher, ja erschreckender Befunde, in denen die Mißgestalt Wilhelms II. ("denn es soll am deutschen Wesen einmal noch die Welt genesen") wiedererstanden zu sein scheint, wenn nicht gar noch schlimmere Bilder heraufbeschworen werden: Hypertrophien und Exzesse nationaler Ich-Bezogenheit! Über die Fülle übler, höchst widerwärtiger Beispiele dafür kann man im Grundsatz gar nicht streiten. Aber es fragt sich, ob der Widerspruch nicht ein nur scheinbarer ist, weil in Wirklichkeit die beiden Pole: nationale Duckmäuserei und völkische Hybris zueinander passen und gehören wie die zwei Seiten der nämlichen Medaille. Darüber ist viel Literatur verfaßt worden, und ich habe keinerlei Ehrgeiz, sie zu mehren. Um es kurz zu machen, beschränke ich mich erstens auf die allgemeine Empfehlung, die Betrachtungen weltläufiger ausländischer Beobachter zu Rate zu ziehen. Ihr gelegentliches Unverständnis für die Pathologie der deutschen Seele - Churchill über die Deutschen: man hat sie entweder an der Gurgel oder auf den Knien - kann unser Verständnis der Lage nur fördern. Zweitens möchte ich auf das jüngste Buch des jüdischen Franzosen Alfred Grosser: "Mein Deutschland" (1993) aufmerksam machen. Dort findet man den Begriff "deutsche Identität" zwar nirgends. Dennoch geht es um nichts anderes: Um unsere Geschichte und Gegenwart, um "Vergangenheitsbewältigung" als geglückte und mißlungene Leistung; und immer wieder um Deutschland und das Ausland,Ausländer und Deutschland, wobei der Autor Vergleiche (wie sie hier zulande durchweg verpönt sind) nicht nur nicht scheut, sondern auf deren Notwendigkeit er beharrt; und die fallen mal so, mal so aus. ... Über vieles, vielleicht über alles läßt sich streiten; aber darauf kommt es nicht an. Es sind seine schlichte Normalität und der beharrliche Gerechtigkeitssinn des Autors, die ihm Kredit verschaffen, auch und gerade soweit er den lieben Deutschen ernste Kritik ins Stammbuch schreibt (aber er schont seine französischen Konpatrioten ebensowenig). Ein Therapeutikum also für unsere nationale Verquältheit! Gibt es eine bessere Empfehlung?

Günter Bertram