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Eindrücke vom schwedischen Strafverfahren

Wir waren einer Einladung von Jan Alvå nach Malmö und Lund gefolgt. Wir, das waren Vladimir Poludnyakov, Präsident des Stadtgerichts St. Petersburg, meine Frau als Dolmetscherin und ich. Der Zweck unseres einwöchigen Aufenthalts in Schweden war es, etwas über das schwedische Strafverfahren zu erfahren.

Jan Alvå ist Präsident des tingsrätt (Eingangsgericht) in Lund und Strafrichter.

Ein Fall: Angeklagt waren 5 Heranwachsende wegen verschiedener Diebstähle (Haftsache). Die Verhandlung fand im großen Sitzungssaal des tingsrätt statt, modern eingerichtet. Vor dem etwas erhöhten, breit angelegten Richterpodium saßen an langen Tischen auf der einen Seite der Staatsanwalt und ein Referendar, auf der anderen Seite die fünf Angeklagten, neben sich die Verteidiger. Der Zeugenplatz mit Tisch war ein wenig zurückversetzt, so daß jeder der Prozeßbeteiligten das Gesicht des Zeugen sehen konnte. Die Sessel im Gerichtsrund waren für jeden der Prozeßbeteiligten einheitlich. Roben werden in Schweden nicht getragen.

Als die Angeklagten hereinkamen, vermißte ich die Vorführbeamten. Sie sollen irgendwo im Saal in Zivil gesessen haben. Vladimir Poludnyakov war irritiert. "Warum gibt es keine Gitterkäfige, laufen die Angeklagten nicht weg?" "Warum?", war die Antwort eines unserer schwedischen Begleiter, "einer ist mal vor Jahren aus dem Fenster gesprungen (Erdgeschoß), sonst ist bisher nichts passiert".

Jan Alvå mit drei Schöffen auf der Richterbank leitete die Verhandlung. Die Strafakte hatte er nicht gelesen, obgleich er es hätte tun können. "Das mache ich nur in schwierigen Fällen", sagte er vor der Verhandlung.

Das schwedische Strafverfahren ist eine Mischung aus reinem Anklageprozeß und Inquisitionsverfahren. Die Befragung des Angeklagten erfolgte durch den Staatsanwalt, nachdem er zuvor die jeweiligen zur Diskussion stehenden Anklagepunkte verlesen hatte. Die Angeklagten antworteten kurz und knapp. Die Verteidiger stellten ergänzende Fragen. Gelegentlich schaltete sich Jan Alvå, der sichtlich um eine ruhige und aufgelockerte Verhandlung bemüht war, mit eigenen Fragen ein. Die Zeugenbefragung durch den Staatsanwalt und die Verteidiger erfolgte ähnlich präzise. Einer der geladenen Zeugen hatte sich wegen Krankheit entschuldigt. Die Protokollführerin, eine Referendarin, stellte mit der Wohnung des Zeugen eine telefonische Verbindung her. Die Vernehmung des Zeugen wurde per Telefon durch Lautsprecher in den Sitzungssaal übertragen. In einer Sitzungspause fragte ich Herrn Alva, ob er das immer so mache. "Vielfach ja", meinte er, "warum soll ich prüfen, ob der Zeuge wirklich krank ist?". In ähnlicher Gelassenheit und Konzentration wurde das Verfahren zu Ende geführt. Nach Vernehmung zur Sache wurden die Angeklagten kurz zur Person angehört, alsdann knapp gefaßte Plädoyers; nach kurzer Beratung des Gerichts die Urteilsverkündung. Es wurden drei bis sechs Monate Gefängnis verhängt, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. Eine unsere Gewohnheiten entsprechende mündliche Urteilsbegründung habe ich nicht wahrgenommen. Gegen dieses Urteil ist Berufung an das Berufungsgericht (hövrätter) möglich. Eine Appellation an das höchste Gericht (högsta domstolen) bedarf der Zulassung, die jedoch nur in seltenen Fällen von besonderer Bedeutung erfolgt.

Einen Tag später hielt Vladimir Poludnyakov an der Universität Lund einen Vortrag über Rechtsreformen in Rußland. Anschließend führten wir ein Gespräch mit Prof. Hans Klette von der strafrechtlichen Fakultät. Ich wollte wissen, wie das Verhältnis zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung in Schweden ist. Prof. Klette erläuterte, daß eine dem deutschen Rechtssystem vergleichbare Wechselbeziehung zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung in Schweden nicht bestehe. Das Appellationsgericht liefere auch zu wenig Fälle (allenfalls 100 im Jahr), die einer wissenschaftlichen Auswertung zugänglich wären. Im übrigen - so schien es mir - für Professoren eine nutzlose Arbeit, wenn die Erkenntnisse der Universität von der Praxis kaum zur Kenntnis genommen werden. "Dazu hätten wir auch keine Zeit", ergänzte Jan Alva. Übrigens: Mit gewissem Stolz berichtete mir Prof. Klette, daß seine Frau Bürgermeisterin von Lund sei. Die Stadt würde überhaupt in der Spitze nur von Frauen regiert. Die Vorgängerin von Frau Bürgermeisterin Klette ist jetzt Justizministerin. Die an einem Abend von mir an die Justizministerin gestellte Frage, ob in Schweden das Problem der Gleichberechtigung diskutiert wird, hätte ich mir sparen können. Ein solches Problem gibt es in der Tat nicht.

Daß die schwedische Justiz bei der Bevölkerung in hohem Ansehen steht, spürt man nicht nur an den von natürlichem Respekt gegenüber dem Gericht getragenen Verhandlungen. Es sind auch die Gerichte selbst, die in ihrer vorbildlichen Ausstattung selbst in den Wartebereichen mit Sesseln und reichem Bilderschmuck viel Zuwendung gegenüber den Bürgern verraten. Als ich am letzten Tag die Gerichte in Malmö in ihrer ähnlich vorzüglichen Ausstattung besuchte, überkam mich tiefe Scham angesichts der erbärmlichen Verfassung etwa unseres Strafjustizgebäudes in seinen Fluren und in einem Teil seiner Sitzungssäle. Dabei erinnerte ich mich an entsetzte Äußerungen von Kollegen aus Stuttgart, welche kürzlich Sicherungsmaßnahmen im Strafjustizgebäude inspizierten. Sinngemäß meinten sie, die Prozeßbeteiligten, die das Strafjustizgebäude über den Eingang zum Sicherheitstrakt betreten müßten, würden den katakombenähnlichen Zugang zum Sitzungssaal mit Ängsten und Zorn auf den Staat zurücklegen.

Schweden war aber auch sonst wieder eine Reise wert. Die natürliche Gastfreundschaft, die wir genießen durften, war bewundernswert. Jan Alvå plant die Ausrichtung internationaler Justiztage in Lund für Anfang Mai 1994. Anläßlich der Justiztage in Hamburg 1992 hatte er zahlreiche Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen anderer ausländischer Gerichte herstellen können. Ich habe Jan Alvå für den Hamburgischen Richterverein meine Unterstützung zugesagt. Vielleicht ist sogar die Universitätsstadt Lund mit seinem bemerkenswerten tingsrätt ein besseres Pflaster für internationale Begegnungen von Richtern und Staatsanwälten.

Roland Makowka