(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 3/93) < home RiV >
Als der Staat
arm geworden...

Als der Staat arm geworden war, baute er keine Straßen mehr. Die Museen, Theater und Schwimmhallen wurden geschlossen. Kindergärten wurden aufgelöst, die Denkmalpflege und die Entwicklungshilfe wurden eingestellt.

Rechtsgutachten wurden zu der Frage in Auftrag gegeben, welche staatlichen Aufgaben sonst reduziert oder privatisiert werden könnten. Für die Justiz wurde beschlossen, alles, was nicht "verfassungsfest" ist, zu beseitigen. Die Gerichte außerhalb der Landeshauptstädte wurden stillgelegt. Das Registerwesen wurde privatisiert. Die Strafanstalten wurden geschliffen, nachdem die Gefangenen privaten Schließ-Unternehmungen zugeführt worden waren. Ausgenommen waren ganz schlimme Fälle, die in die noch bestehenden Gefängnisse anderer EG-Länder verschubt wurden.

Der Berufsstand des Rechtspflegers wurde eingefroren, mit ihm der gesamte nichtrichterliche Dienst. Deren Arbeiten wurden den verbliebenen Richtern beigegeben, die ausnahmslos als Einzelrichter in erster und letzter Instanz fungierten. Damit konnte auf die Berufungs- und Revisionsgerichte verzichtet werden. Zur Erledigung der unentbehrlichen Register- und Schreibarbeiten wurden den Richtern Personalcomputer zugeteilt. Die Fertigkeit im Umgang mit EDV-Geräten wurde zur Einstellungsvoraussetzung gemacht.

Mit der Einsparung des nichtrichterlichen Dienstes entfielen auch die Zustellbeamten und Gerichtsvollzieher im Zivilverfahren. Die Vollstreckung zivilrechtlicher Urteile wurde ausgesetzt. Verhandlungen in Strafsachen fanden in den Räumen der privaten Bewahranstalten statt. Vorführbeamte mit Handschellen wurden nicht mehr benötigt, ein Bedarf an staatlich unterhaltenen Sitzungssälen bestand nicht mehr.

Die Zuständigkeiten der Staatsanwaltschaften wurden dadurch reduziert, daß die Zahl der Kriminalbeamten laufend verringert wurde. Da die Dunkelziffer nicht aufgeklärter Straftaten gleichzeitig zunahm, erwiesen sich statistische Kriminalitätserhebungen als nutzlos, als eher gefährlich und wurden eingestellt. Hiermit einhergehend konnten die statistischen Landesämter personell abgebaut werden. Der Lehrstuhl für Kriminologie an den Universitäten wurde gestrichen.

Als Folge dieser Entwicklung wurde es notwendig, die Justizpolitik mit neuen Inhalten zu versehen. Es ging darum, die Auswirkungen staatlicher Armut den justizgläubigen Bürgern als sinnvolles Reformwerk verständlich zu machen. In einem ersten Schritt wurde die Juristenausbildung geändert. Sie wurde aus den juristischen Fakultäten der Universitäten herausgelöst und freien Repititorien anvertraut, die in zweijährigen Lehrgängen den Teilnehmern die notwendigen Grundkenntnisse im Recht vermittelten. Auch ein juristisches Studium im Rahmen von Fernlehrgängen wurde für zulässig gehalten. In einem zweiten Schritt wurde den Bürgern versprochen, daß die Justiz dem Rechtsschutzbegehren der Bürger nunmehr noch zügiger und sogar kostensparender entsprechen würde. Begleitend hierzu wurden die Gerichtsgebühren, die der Richter selbst vor Beginn der Verhandlung zu erheben hatte, der Höhe der Streitwerte angeglichen.

So nahm die Zahl der Prozesse in Zivil- und Strafsachen stetig ab. Die Richter klagten nicht mehr über Arbeitsüberlastung. Den Menschen wurde die Lust am Prozessieren genommen. Es galt als unschicklich, Besitztümer zu sichern und zu verteidigen. Man teilte die Habe mit den Begehrenden. Straftaten wie Diebstahl oder Raub kamen nicht mehr vor. Die Diskussion über die Strafbarkeit von Ladendiebstählen und Beförderungserschleichung verlor an Aktualität.

Die staatliche Armut führte letztlich dazu, daß Lehrerstellen eingespart und Schulen geschlossen werden mußten. Die Bildersprache wurde wieder eingeführt, um denen, die des Lesens nicht mehr kundig waren, einprägsame Einsichten im Glauben und im Recht zu vermitteln.

In dieser Zeit landeten mehrere Handvoll Menschen, die der Armut des Staates entfliehen wollten, als Schiffbrüchige auf einer einsamen Insel im Pazifik an. Ihr Frachter war Leck geschlagen und gestrandet. Die in Not geratenen Menschen erprobten das Überleben. Sie sammelten Reisig, gingen auf Jagd und bauten Hütten. Als zwischen den Schiffbrüchigen Streit aufkam, entwarfen sie in der ihnen geläufigen Bildersprache eine Satzung und ein Schiedsgericht. Dabei kamen sie zu der Überzeugung, daß ihre kleine Gemeinschaft nur dann bestehen könne, wenn Verstöße gegen die Satzung auch geahndet werden würden. Auch kleine Diebereien wurden als gemeinschaftsgefährdend empfunden. So richteten sie für die Unbelehrbaren aus festem Holz kärgliche Karzer ein.

Mit diesen freiheitsentziehenden Karzern begann das Unheil von neuem, und es wurde größer, je mehr Nachkommen und Karzer das Inselvolk hervorbrachte.

Als der Staat arm geworden war, behielten aber die reichen Mitglieder ihre Güter. Für sie galten die Beschränkungen der Armut nicht. Schlechte Straßen überwanden sie mit Helikoptern. Sie richteten sich Privatmuseen und Privattheater ein. Als sie um die Erhaltung ihrer Besitztümer in Streit gerieten, genügte ihnen nicht das dem Volke verschriebene einfache Bilder-Recht. Sie stellten Rechtsgelehrte ein, die das gemalte Recht ein wenig differenzierter auslegen sollten. Da bloße Rechtsgutachten zur Lösung ihrer Konflikte auf Dauer nicht ausreichten, schufen sie sich eine eigene Gerichtsbarkeit mit gut bezahlten Richtern und modernen Gefängnissen.

Und so begann auch bei ihnen das Unheil von neuem. Sie glaubten auch nicht dem Richter, der als erster entschieden hatte. Also richteten sie weitere Gerichtsinstanzen ein, um den endgültigen Richterspruch ein wenig hinauszuschieben.

Es gab nun zweierlei Recht: Das Recht der Bildersprache für den einfachen, armen Menschen und das schwierige Rechtswerk der Reichen und ihrer Rechtsgelehrten.

Und so hielt es die Justizpolitik wiederum für angeraten, in eine Justizreform einzutreten.

Zur Vorbereitung des großen Reformvorhabens versammelten sich im Auftrag der Ministerien die Vertreter der Armen und der Reichen, um die Erfahrungen ihrer Geschichte aufzuarbeiten. Sie verfaßten eine Resolution:"- Das Recht ist so wichtig wie das täglich Brot. Aber so wie das täglich Brot gegessen, muß das Recht, will es ebenfalls sättigen, vollziehbar sein.

- Je ärmer der Staat, um so reicher muß das Recht sein. Der Reichtum des Rechts offenbart sich jedoch nicht in der Vielzahl von Instanzen, von Richtern und Gefängnissen. Die Regeln des Rechts sind dazu geschaffen, Konflikte zu verhindern, von der Idee her, die Justiz überflüssig zu machen.

- Also muß das Recht humanisiert, zum Anliegen eines jeden Menschen gemacht werden. Es müssen Schulen des Rechts geschaffen werden, in denen die Bereitschaft zum friedlichen Miteinander geübt wird. Alle modernen Mittel der Öffentlichkeitsarbeit müssen dafür eingesetzt werden, den Menschen einsichtig zu machen, daß staatliche Gerichte keine geeigneten Institutionen sind, Konflikte auf Dauer zu regeln und zu vermindern. Den Gerichten müssen andere, von Bürgern geschaffene friedenstiftende Einrichtungen vorgelagert sein. Der Gang zum Gericht darf nur als letzter Akt persönlicher Notwehr empfunden werden.

- Die Justizpolitik sollte ehrlicher werden. Sie sollte sich deutlich zum staatlichen Versagen bekennen, auch zum Versagen in der Kriminalpolitik, und dem Bürger nichts versprechen, was ein noch ärmer werdender Staat nicht einhalten kann. Wenn aber die Justizpolitik die Gebote der Offenheit und Mäßigung weiterhin mißachtet, dann - so ist zu vermuten - liegt hierin die eigentliche Armut des Staates."

Justizminister kamen zu dem Ergebnis, daß die Reformkommission mit den vorgenannten Thesen ihren Auftrag nicht erfüllt hätte. Sie vermißten vor allem konkrete Vorschläge zur Entkriminalisierung, zum künftigen Gerichtsaufbau, zur Reduzierung der Richter und Staatsanwälte und zu einem neuen Pensenschlüssels. Die Justizminister empfahlen, die Resolution nicht zu veröffentlichen. Im übrigen waren sie der Meinung, daß sich die tiefgreifenden Probleme rechtsstaatlicher Rechtsverwirklichung nicht durch einfältige Einsichten und Fabeln lösen ließen. Dem pflichteten die Anwalts- und Richtervereinigungen in einer Protestnote bei.

Roland Makowka