Als wir am Pfingstsonnabend bei Einbruch der Dunkelheit mit unserem Pkw auf dem malerischen Marktplatz der kleinen Stadt Kazimierz, etwa 60 km westlich von Lublin, eintrafen, warteten dort bereits der VRiLG Dr. Jacobi mit Jacek Baranowski und Andrzej Kuba, die wir von den Hamburger Justiztagen her kannten, auf uns. Sie freuten sich, daß alle vier Hamburger Pkw trotz ganz unterschiedlicher Abfahrtszeiten nach über 1.000 km - zumeist Landstraße - innerhalb 1/2 Stunde wohlbehalten in Kazimierz eingetroffen waren. Dieses zeitnahe Eintreffen war auch wichtig. Denn der Marktplatz war als Treffpunkt vereinbart worden, weil eine konkrete Beschreibung des Weges zu unserem ersten Quartier nicht vorlag. Die Fahrt war also auch ein kleines Abenteuer.
Wir wohnten an den ersten fünf Tagen im komfortablen Gästehaus "Albrechtowka" des polnischen Justizministers, das mitten im Wald auf einem Hügel über der Weichsel lag. Schon an diesem ersten Abend lernten wir die herzliche Gastfreundschaft der Polen kennen, die uns auch in den folgenden Tagen immer wieder auffallen sollte. Trotz unseres späten Eintreffens wurde vom Personal des Gästehauses bis in die Nacht hinein keine Mühe gescheut, uns bestens zu versorgen.
Wie war es zu dieser Reise gekommen?
Dr. Jacobi hatte die Verbindung nach Lublin, lernte Jacek Baranowski, der in Hamburg promoviert, als Praktikanten in seiner Strafkammer kennen. Zu den Hamburger Justiztagen 1992, die u.a. die Rechtsentwicklung im Osten nach Öffnung der Grenzen zum Thema hatten, kam Jacek Baranowski nach Hamburg und brachte den damaligen Präsidenten des Wojwodschaftsgerichtes Lublin Andrzej Kuba mit. Sie veranlaßten auch die Gegeneinladung nach Polen.
Kuba ist inzwischen als Ministerialdirektor im Justizministerium in Warschau tätig.
In Hamburg ging die Initiative für die Reise von Dr. Jacobi, Dr. Makowka und dem Richterverein aus. Wertvolle Unterstützung gab der Vizekonsul Dr. Andrzej Kremer vom polnischen Generalkonsulat in Hamburg.
Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe zeigte Interesse an der Reise. Beteiligt waren insgesamt 9 Kolleginnen und Kollegen aus Staatsanwaltschaft, Oberverwaltungsgericht, Amtsgericht, Landgericht und Oberlandesgericht.
Uns erwartete ein interessantes Programm: 5 Tage Kazimierz,
2 Tage Krakau, Teilnahme an Gerichtsverhandlungen in Lublin, Besichtigung der Gerichtsgebäude in Lublin und Krakau, Besuch im polnischen Justizministerium und im Sejm - der polnischen Volksvertretung - in Warschau, Führungen durch Kazimierz, Pulawy, Lublin, Warschau und Krakau, Opernbesuch in Warschau, um nur einiges zu nennen.
Ich denke, für alle Teilnehmer der Fahrt war ganz wichtig der nicht organisierte, private Gedankenaustausch mit unseren polnischen Kolleginnen und Kollegen. Hierzu hatten wir schon am Pfingstsonntag ausgiebig Gelegenheit, als uns neben Baranowski und Kuba Richterinnen und Richter aus Lublin bei einem Stadtrundgang in Kazimierz und in Pulawy begleiteten. Kazimierz beeindruckt durch seine schöne Umgebung und mit vielen architektonisch interessanten Bauten aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Pulawy war um 1800 ein bedeutendes politisches und kulturelles Zentrum Polens. Davon zeugen der große Landschaftspark mit zahlreichen eindrucksvollen Schlössern und Bauten.
Den Abend verbrachten wir zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen aus Lublin. Wir waren zu einem großen Essen eingeladen, bei welchem sich Andrzej Kuba und Dr. Makowka mit ihren Toasts gegenseitig übertrafen. Anschließend feierten wir mit Tanz in die Nacht hinein auf der Terrasse des Gästehauses. Die Verständigung war im allgemeinen in englisch oder französisch möglich. Außerdem hatten wir in Baranowski und Kuba ausgezeichnete Dolmetscher.
Wir erlebten diese polnischen Kolleginnen und Kollegen durchweg als aufgeschlossene Gesprächspartner. Die Äußerungen über ihre berufliche Tätigkeit zeigten, daß sie in der Grundeinstellung mit uns übereinstimmten. Ich will die wichtigsten beruflichen Grundlagen, die mir in Gesprächen deutlich wurden, einmal mit Unabhängigkeit und sozialer Verantwortung umschreiben. Von daher erklärt sich wohl auch, daß auf keiner Seite auch nur die geringsten Berührungsängste zu erkennen waren. Es gab auch kein Aneinandervorbeireden und keine grundlegenden Mißverständnisse. Wir erkannten bald viele Gemeinsamkeiten unserer Arbeit.
Hierzu muß man wissen, daß die Rechtsprechung in Polen und die Stellung der Richter von der gesamten Entwicklung her nicht mit der in anderen Staaten des früheren Ostblocks verglichen werden kann. Bezeichnend ist etwa, daß es in Polen schon seit Beginn der 80er Jahre - damals trat Solidarnosc zum ersten Mal in die Öffentlichkeit - eine Verwaltungsgerichtsbarkeit gab. Die politischen Umwälzungen der letzten Jahre haben zwar auch begrenzt zu Überprüfungen von polnischen Richtern geführt, wie wir anhand einiger Beispiele erfuhren. Vom Umfang des überprüften Personenkreises her sind diese Maßnahmen aber wohl nicht mit denen in unseren neuen Bundesländern zu vergleichen.
Da uns ständig einige Richterinnen und Richter aus Lublin begleiteten, hatten wir immer Gelegenheit zum Gedankenaustausch, sei es in den Gerichtsgebäuden, bei Stadtrundgängen oder abends beim Grillen von Krakauer Wurst am Lagerfeuer in Kazimierz.
In den Wojwodschaftsgerichten, vergleichbar unseren Landgerichten, diskutierten wir mit den jeweiligen Präsidenten und weiteren Mitarbeitern die Gerichtsorganisation, Arbeitszeit und Belastung der polnischen Richterinnen und Richter. Wir erfuhren, daß der Beruf in der Mehrzahl von Frauen ausgeübt wird. Wichtige Gesetzesvorhaben wurden von unseren Gastgebern erläutert. Probleme bereiten hier insbesondere die gesetzlichen Grundlagen für die Umgestaltung der Wirtschaftsordnung zur Marktwirtschaft.
Den Ablauf des Strafverfahrens konnten wir in einigen öffentlichen Verhandlungen verfolgen. Die Sitzordnung entsprach der üblichen Handhabung bei uns. Auch im Verlauf der Hauptverhandlung erkannten wir keine wesentlichen Unterschiede.
Vom stellvertretenden polnischen Justizminister wurden wir offiziell empfangen. Er erläuterte in fließendem Deutsch die schwierige Situation in Polen im allgemeinen und auch besonders in jenen Tagen, nachdem sich gerade das Parlament aufgelöst hatte und die Regierung zurückgetreten war. Bei einem gemeinsamen Mittagessen im Restaurant des Sejm und einem Opernbesuch im Warschauer Opernhaus Teatr Wielki hatten wir weitere Möglichkeiten, mit ihm interessante Gespräche zu führen. Im Gebäude des Sejm konnten wir die Atmosphäre nach einer Parlamentsauflösung erleben: Abgeordnete und Journalisten diskutierten, interviewten und stellten sich den Fotografen.
Die polnischen Richterinnen und Richter sind zwar unabhängig, können nach der Verfassung grundsätzlich auch nicht aus ihrem Beruf entfernt werden, ihre wirtschaftliche Situation ist allerdings bescheiden. Hier wirkt sich noch die sozialistische Rangfolge aus, wonach Juristen und Mediziner eher im unteren Bereich der Einkommensskala rangieren. Ein Richter verdient je nach Alter und Beschäftigungsstelle etwa zwischen 5 Mio und 9 Mio Zloty (PLZ), wovon für Wohnungskosten durchschnittlich etwa 1 Mio bis 2 Mio PLZ aufzubringen sind. Für 1 Mio PLZ muß man derzeit rund 100,-- DM bezahlen. Was Nahrung und Kleidung anbetrifft, kann man in Polen allerdings für 1 Mio PLZ etwas mehr kaufen als in Hamburg für 100,-- DM. Wir hätten jedoch große Schwierigkeiten, mit den polnischen Gehältern auszukommen, selbst wenn man einmal die fast unerschwinglichen Preise von importierten technischen Geräten unberücksichtigt läßt. Unzufriedenheit war allerdings darüber bei unseren polnischen Gastgebern nicht festzustellen. Viele äußerten eher Sorge über die jetzt immer deutlicher zutage tretende Schere zwischen Arm und Reich als Folge der entstehenden Marktwirtschaft.
Wer einmal Bilder des im Krieg zerstörten Warschau gesehen hat, kann nur mit Bewunderung den Wiederaufbau - insbesondere der inneren Stadt und des Schlosses - betrachten. Das hohe Ansehen polnischer Restauratoren, Architekten, Bauhandwerker und Künstler findet hier eine glanzvolle Bestätigung. Wir wurden daran erinnert, daß polnische Restauratoren auch das Aussehen markanter Gebäude in Hamburg (z.B. Ramada-Hotel, Hanse-Viertel) geprägt haben.
In Krakau ließ es sich der Präsident des Wojwodschaftsgerichtes nicht nehmen, persönlich uns die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu zeigen. Diese frühere polnische Hauptstadt ist noch heute für viele Polen das Zentrum polnischer Kultur. Sie hat mit dem Wavel-Schloß eine Stätte, die wegen ihrer historischen Bedeutung jeder Pole einmal im Leben besucht haben muß. Die uns begleitende junge Kollegin aus Krakau zeigte uns allerdings auch, daß die Skulpturen am Wavel-Schloß teilweise kaum noch in ihrer Schönheit wahrnehmbar sind. Denn Krakau ist auch der Ortsteil Nova-Huta, der mit dem metallurgischen Kombinat weithin zum Symbol für Luftverschmutzung und Umweltschädigung wurde.
Dann Lublin, nicht weniger sehenswert als Warschau und Krakau. Eine Stadt der Renaissance mit einer weltberühmten katholischen Universität, vor dem Krieg ein Zentrum jüdischen Lebens. Die Altstadt ist teilweise vom Verfall bedroht, wenngleich auch hier die Restaurierung in Angriff genommen wird. Wir hörten, daß ungeklärte Eigentumsverhältnisse - die Häuser gehörten vertriebenen oder ermordeten Juden - den Wiederaufbau erschweren. Da in die Häuser über Jahre nichts investiert wurde, verfielen sie nach dem Krieg, die Bewohner zogen in die Neubauviertel am Stadtrand. Heute finden hier zum Teil soziale Randgruppen eine Unterkunft. Die Schönheit und Ausgewogenheit der Architektur dieser Altstadt ist zum Glück auch im Verfall sichtbar geblieben.
Lublin ist auch Majdanek. Das riesige Areal des Konzentrations- und Vernichtungslagers liegt heute in einem Vorort der sich ausdehnenden Stadt. Nur ein kleiner Teil der ursprünglich vorhandenen Baracken konnte erhalten werden, darin die Gaskammern in ihrem ursprünglichen Zustand. Ein besonderer Gedenkstein erinnert daran, daß hier an einem einzigen Tag 18.000 Menschen erschossen wurden.
Der junge polnische Wissenschaftler, der uns durch das Lager führte, ist dabei, die Geschichte Majdaneks zu überarbeiten. Die Länder der ehemaligen Sowjetunion sind jetzt bereit, die nach der Befreiung dorthin gebrachten Lagerdokumente für die Forschung zur Verfügung zu stellen. Davon erhofft man sich eine Klärung vieler offener Fragen. Wir erfuhren, daß in Majdanek nicht nur Juden, sondern auch in großer Zahl nichtjüdische Polen, Russen und Menschen anderer Volkszugehörigkeit ermordet wurden.
Fast 50 Jahre nach der Befreiung des Lagers 1944 wird die Besucherzahl klein. Polnische Schulklassen, die früher zahlreich Majdanek - das neben Auschwitz-Birkenau am besten erhaltene Vernichtungslager - aufsuchten, erscheinen nur noch vereinzelt. Als wir zum Lager kamen, verloren sich vielleicht noch 10 andere Besucher in dem weiten Gelände. Für unseren jungen Begleiter stellte sich von daher das Problem, wie auch in Zukunft das Interesse - insbesondere bei jungen Leuten und Schulkindern -geweckt werden könne. Er sah eine Möglichkeit darin, das Geschehen in Majdanek unter Einbeziehung größerer Zusammenhänge der Menschheitsgeschichte darzustellen.
Majdanek - für uns ein bedrückendes Thema. Während der Tage in Polen geschah der Anschlag auf Ausländer in Solingen. Uns blieb nicht verborgen, daß diese Nachricht aus Deutschland wenigstens einige unserer polnischen Begleiter nicht unberührt ließ. Für uns Anlaß zu Gedanken darüber, wie wir dazu kamen, daß wir mit so viel Sympathie und Herzlichkeit in Polen empfangen wurden.
Raimund Kniep