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Reden, um nichts zu sagen

Die deutsche Sprache ist ein Himmelsgeschenk. Sie erlaubt uns, alles - fast alles, vieles jedenfalls -, was wir mitteilen wollen, klar zu sagen, anschaulich, genau und unmißverständlich. Für das französische "faire", "mettre", "prendre", "aller" sind uns jeweils einige Dutzend Verben zur Hand; und wo der Engländer mit "to get" auskommen muß, haben wir eine schier unausschöpfliche (wenngleich nicht beliebige) Auswahl. Ein kostbarer Schatz, von dem die Literatur - die "schöne", aber auch die sachliche - Zeugnis ablegt! Auch unser Alltag, die redselige Gegenwart? Die Frage stellen, heißt sie verneinen; und es ist üblich, beliebt und auch nicht ganz abwegig, den Beweis durch maliziöse Zitierungen sogenannter Sprechblasen anzutreten, mit denen Politiker durch's Land und vor die Mikrophone traben. Erhard Eppler, selbst jahrzehntelang ins politische Geschäft verwoben, zugleich aber ein Schulmeister von Herkommen und Geblüt, hat Parteifreunden und Gegnern unlängst Deftiges ins Stammbuch geschrieben: "Kavalleriepferde beim Hornsignal - Die Krise der Politik im Spiegel der Sprache" (Suhrkamp Nr. 1788, 1992).

Die Fairness indessen verlangt den Zusatz, daß die Sprache der Politiker zwar nicht besser, aber im Grunde auch nicht schlechter ist als jedermanns. Da sie indessen zu ständigem Reden sich genötigt fühlen, fallen ihre Mißtöne lauter in unser Ohr als das Blasen anderer.

Fassen wir also uns erst einmal an die eigene Nase:

Ich glaube, es war beim Korrigieren einer juristischen Hausarbeit, daß mir der ständige, sich penetrant wiederholende Gebrauch der Wendung "es ist davon auszugehen ..." (in tatsächlichen und rechtlichen Zusammenhängen) erstmals auf die Nerven fiel. Das mag 10, 15 oder auch 20 Jahre her sein; aber wie es einem so geht: ist man erst einmal in bestimmter Hinsicht allergisch geworden, entdeckt man den Stein des Anstoßes allenthalben; und so habe ich seither bemerkt, daß in der juristischen Literatur, der veröffentlichten Rechtsprechung zumal, mehr als eigentlich erträglich von irgend etwas oder irgendwoher "ausgegangen" wird oder (angeblich) werden muß.

Was ist dagegen einzuwenden? Unser Ausgangspunkt ist das Gesetz (i.w. Sinne, als "Rechtslage"). "Nach § 433 II BGB ist davon auszugehen, daß der Käufer den Kaufpreis zahlen muß": wer schreibt so? Allenfalls ein zweites Semester! "Vom Beweisergebnis xyz ist auszugehen ..."; auch das ist nicht falsch, sofern der Leser zuvor mit einer Beweiswürdigung bedient worden war. Aber der formal korrekte Satz ist leer und vollkommen entbehrlich. In der Regel dreht es sich auch keineswegs um solche Pleonasmen, sondern um Erschleichung. Die Redewendung täuscht ein Stück Begründung vor, die dem Leser - zuweilen oder häufig -vorenthalten worden war. Wirkliches Interesse darf nämlich nur die Frage beanspruchen, ob der "Ausgangspunkt" berechtigterweise als Prämisse herangezogen wird; und auf Anhieb ist jedes Mißtrauen erlaubt, ob das Gericht oder der Schriftsteller, der so daherredet, es sich dabei - beim Begründen! - nicht zu billig gemacht hatte.

Die politische Rhetorik hat den Schnack nicht erfunden; sie ist aber, wie man im Jugendjargon sagt, auf ihn "voll abgefahren". Nehmen wir an, ein Kanzler, ein Parlamentarier, Minister, Gewerkschaftler, Kulturreferent, Staatssekretär oder ein Verbandsmanager soll sich vor dem Mikrophon, vielleicht gar laufenden Kameras, zu oder über irgendetwas äußern: Finanzen, Renten, Konjunktur, Streik, Intendantenkrise, Entwicklungshilfe, dubiose Geschäfte, Vorabmeldungen, UNO-Beschlüsse, zu Rußland, Serbien, AWACS, Somalia oder weiß der Himmel, wozu sonst. Der Befragte wird regelmäßig gleich anfangs kundtun, er gehe davon aus, daß dieses oder jenes künftig der Fall sein werde, oder daß der Sachverhalt so und so gelegen habe.

Weitere Beschreibung und Beispiele sind entbehrlich; jeder kennt die Prozedur!

Auch Ehrhard Eppler nimmt die Redewendung "Ich gehe davon aus ..." auf's Korn:

"Wer politisch zu entscheiden hat, weiß nur selten alles, was er dazu wissen müßte. Zum einen hat er gar nicht die Zeit, all das vorhandene Wissen zu verarbeiten, das - notwendigerweise - ein Wissen über Vergangenes ist. Und zum anderen kennt er die Zukunft nicht, in der seine Entscheidung Wirkungen zeitigen soll. Wieviel Prozent der Autofahrer werden auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen, wenn das Benzin doppelt so teuer wird? Sicher, da gibt es Experten, die Prognosen anfertigen, aber letztlich vermuten auch sie, sie wissen nicht. Soll der Bund den Unternehmern, die in der früheren Sowjetunion investieren, Anlagebürgschaften geben, die, geht die Investition im Chaos unter, den Steuerzahler belasten? Niemand weiß, wie es in Rußland oder Georgien in drei Monaten oder gar in drei Jahren aussehen wird. Aber die Entscheidung will getroffen sein, denn auch die Verweigerung der Bürgschaft hat Folgen, ja, sie kann zu dem Chaos beitragen, das alle fürchten. Kurz: Wer politische Entscheidungen zu fällen hat, muß dies aufgrund von Vermutungen tun. Und ebendies zuzugeben, fällt Politikern schwer... "Ich gehe davon aus" verwischt die Grenzen zwischen Wissen und Vermuten, und ebendies macht den Ausdruck so ungeheuer attraktiv... und erlaubt es, ein bißchen wissender zu scheinen, als man ist. Daher kommt er dem Geltungsbedürfnis des Sprechers entgegen. "Ich gehe davon aus", sagte im Februar 1991 ein bekannter sozialdemokratischer Politiker, "daß der amerikanische Präsident seine Bodentruppen im Irak vorerst nicht einsetzt." Wußte er vielleicht doch etwas, wo wir alle nur spekulieren konnten? Natürlich nicht, aber die Formulierung ließ es offen. Trotzdem ist sie unverbindlich. Niemand hat etwas Unwahres behauptet. "Ich rechne damit, ..." wäre verbindlicher. Der Politiker könnte gefragt werden, was da alles in seine Rechnung eingehe. Und später könnte jemand sagen, er habe sich verrechnet. Wenn nur der Ausgangspunkt sich - leider - verschoben hat, was kann er dafür? "Ich gehe davon aus ..." erlaubt also auch, für eigenes Irren veränderte Umstände verantwortlich zu machen. Schon Dolf Sternberger hatte darauf hingewiesen, die hier vorgeführte Redeweise sei geradezu epidemisch geworden und habe "auch den alltäglichen Sprachgebrauch der Passanten und Konsumenten ergriffen...". Die schönen, allerdings bescheideneren Geistestätigkeiten des Annehmens, Vermutens, Erwartens, Fürchtens und Hoffens schienen dem Untergang verfallen zu sein.... "Natürlich", meint Eppler, "haben die Politiker und Publizisten, die seit dreißig Jahren immer häufiger erklärten, sie gingen von irgend etwas aus, dies nicht getan, um bewußt und absichtlich den Grenzstrich zwischen Wissen und Vermuten auszulöschen. Sie haben einen Ausdruck aufgegriffen, den sie brauchbar, hilfreich, praktisch fanden. Und die Politiker von heute reden so, wie sie's gelernt haben, ohne viel darüber nachzudenken. Wer sie fragen wollte, warum sie "ich gehe davon aus" sagen und nicht "ich vermute", "ich nehme an", "ich halte für wahrscheinlich", würde wohl nur ein ratloses Kopfschütteln als Antwort bekommen. Das ändert aber nichts an der Funktion dieses Ausdrucks."

Lassen wir die Kirche im Dorf: es gibt schlimmere Sprachsünden als die hier aufgespießte; und all' diese Sünden haben es selbst in ihrer argen Summe bislang nicht vermocht, unsere schöne Sprache zugrunde zu richten. Indessen sollten wir auch nicht gar zu sorglos bleiben. Wenn in der Natur, in Flora und Fauna, stetig weitere Arten verschwinden, unwiederbringlich ausgerottet werden und die Monokultur allenthalben wächst, so erkennen wir darin inzwischen die Schrift an der Wand.

"... und geht es draußen noch so toll, unchristlich oder christlich, ist d o c h die Welt, die schöne Welt, so gänzlich unverwüstlich...!", klingt es noch hübsch-sorglos in Theodor Storms Oktoberlied.

Leider i s t die Welt "verwüstlich" - leicht und schnell, bis auf ihren Grund. Wir sorgen uns - mit Recht! -; und ein bißchen tun wir für die "Umwelt" inzwischen auch, mal hier, mal dort. Sollte die Sprache, ein nicht ganz nebensächlicher Teil unserer geistigen Lebenswelt, solche Aufmerksamkeit nicht auch verdienen? Auch hier wächst die Monokultur. Teigig-hohle Plastikvokabeln verdrängen und verschlingen den Reichtum lebendiger Wörter; zwischen jenen klebt nur noch Redekitt, statt daß vitale Muskeln und Sehnen sie verbänden...

Dabei ist mir um die Juristensprache noch am wenigsten bange. Hinter den Hantierungen und Kulissen unserer Zunft walten kräftige Interessen der Gesellschaft, die sich letztlich ihren auch sprachlich halbwegs adäquaten, technisch zureichenden Ausdruck zu verschaffen wissen werden.

"Wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben", befindet Immanuel Kant; und Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann schärfen ihren Zivilrechtseleven diese Sentenz unermüdlich ein, von Auflage zu Neuauflage. Für mein bescheidenes petitum kann ich mit einer so dramatischen Geste nicht aufwarten. Aber farbloser, grauer, öder, verzweckter, bürokratisch-langweiliger wird jedenfalls in unseren Breiten und Längen das Menschenleben werden, wenn die sprachliche "Flurbereinigung" immer weitertreibt. Ich gehe nicht davon aus: ich fürchte es.

Günter Bertram