Auf dem Schreibtisch unseres Vorsitzenden häufen sich zuweilen die Wehklagen. Aber dann dringen auch Lichtstrahlen durch trübes Gewölk. So der folgende Brief:
"Es sind mehr als 30 Jahre, in denen ich in unterschiedlichen Funktionen Kontakte und zum Teil auch "Erlebnisse" mit der Hamburger Justiz hatte. Wir neigen in unserer Gesellschaft dazu, "wenn uns Angenehmes widerfährt", dies mehr oder weniger als selbstverständlich hinzunehmen, auch vor Gericht. Widerfährt uns Negatives (oder das, was wir dafür halten), haben wir uns angewöhnt, darüber lauthals Klage zu führen.
In diesen Tagen hatte ich ein Erlebnis mit der Hamburger Justiz, übrigens "angenehmer" Natur, das so ungewöhnlich war, daß ich von der oben beschriebenen Regel abweichen und über ein "positives" Erlebnis doch einmal ein paar Worte verlieren möchte.
Hintergrund der Geschichte sind zwei fürchterlich verfeindete Parteien, übrigens Brüder, die sich mit Zivilklagen bis hin zum Oberlandesgericht, Schiedsgerichtsverfahren und Strafanzeigen überzogen, insgesamt wohl schon mehr als ein Dutzend Fälle. Strittig waren Vermögenswerte von wohl mehr als 60 Mio DM.
In einem dieser Verfahren, eigentlich nur einer relativ unbedeutenden Streitigkeit am Rande, hatte das Landgericht Hamburg eine einstweilige Verfügung erlassen, deren Aufhebung ich (natürlich zu Recht, ...) im Namen einer der beiden Parteien beantragte. In der mündlichen Verhandlung hätte über die Sache kurz beraten und dann entschieden werden können.
Es geschah etwas ganz anderes. Der mit der Sache befaßte Einzelrichter stellte die übliche Frage, ob eine vergleichsweise Regelung dieser Streitsache möglich sei, und erhielt zur Antwort, daß dies theoretisch zwar denkbar sei, im Hinblick auf viele andere Verfahren aber keine Lösung darstelle, so daß wohl entschieden werden müsse. In den nun folgenden sechs Stunden (!) bemühte sich der Richter darum, mit Hilfe der Parteien bzw. ihrer Anwälte sich in die vielfältigen, vor verschiedenen Gerichten anhängigen oder demnächst anhängigen Sachverhalte einzuarbeiten und formulierte schließlich über den gesamten Streitgegenstand einen mehrere Seiten umfassenden Vergleichsvorschlag. In einer weiteren Verhandlung - formell immer noch wegen der Frage der Aufhebung oder Nichtaufhebung einer einstweiligen Verfügung - bedurfte es noch einmal mehr als drei Stunden, um die völlig zerstrittenen Parteien dazu zu bewegen, ihre gesamten straf- und zivilrechtlichen Ansprüche zu vergleichen und zu erledigen. Ökonomisch war dies nicht nur ein ungewöhnliches, sondern auch ein scheinbar unrationelles Verfahren, denn über die einstweilige Verfügung hätte kurzfristig und ohne viel Aufhebens entschieden werden können. Tatsächlich wurden durch den Vergleich nicht nur ein rundes Dutzend anhängiger oder noch zu erwartender Verfahren entschieden, die Hamburger Justiz (und wohl nicht nur diese) wurde für mindestens drei Jahre in den verschiedensten Instanzen von einer ganzen Flut strittiger Verfahren entlastet.
Mit dem Einzelrichter, ..., bin ich weder verwandt noch verschwägert. Ich bin ihm bis dahin nie begegnet und werde ihm vielleicht auch nie wieder begegnen. Sein über das übliche Maß hinausgehendes Engagement hat mich aber so beeindruckt (und übrigens nicht weniger die beiden im Streite lebenden Brüder), daß ich diesen Brief schreibe und dazu anmerke: Mein Kompliment für einen solchen Richter. ...
Mit freundlichem Gruß
Werner Narzi
Rechtsanwalt
Sozietät Feddersen, Laule, Scherzberg & Ohle
Hansen Ewerwahn"