(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/92) < home RiV >
"JUSTIZ IN DER KRISE?"
- Eine Nachlese -

Noch hängen die Plakate, auf denen alles Volk zu einer "Podiumsdiskussion" vom 19. Oktober 1992 in die Grundbuchhalle eingeladen wird, an Wänden und Brettern herum (jedenfalls im Strafjustizgebäude), ähnlich verjährten Wahlplakaten eines Septembers, die der späte Novemberwind zerfetzt: Schnee von gestern? Oder soll man alte Geschichten und Gerüchte durch eine weitere Diskussion, durch Zitate, gar durch Entrüstung am Leben erhalten - oder sie wieder "reanimieren"? Wo doch Herr Dr. Makowka auf dem Podium damals die fälligen, durchaus nötigen Worte laut und klar gesprochen hat.

Wer zuvor die einschlägigen Artikel in der Hamburger Presse vom September/Oktober verfolgt hatte und dann in der Grundbuchhalle gesessen hat, weiß Bescheid; und wer nicht Bescheid weiß, hat nicht gar zuviel versäumt. Da nun, wer es will, jede weitere Replik auf das Schlagwort "faule Richter" auf dem Konto berufsständischer Weinerlichkeit abbuchen kann, hüte ich mich, solchen Neigungen Nahrung zu geben oder Vorschub zu leisten: "Thema durch"!

Anderes aber läßt sich so einfach nicht abtun:

Wir bestellen den Acker unseres Strafverfahrens mit dem prozessualen Gerät des ausgehenden 19. Jahrhunderts, um ein komplexes Problem - vereinfachend und verkürzend - auf eine einzige Zeile zu bringen. Es bedarf - um nur ein, aber ein dorniges Beispiel zu nennen - keiner großen Anwaltskunst, unliebsame Hauptverhandlungen zu Großverfahren aufzublasen, oder sie notfalls auch einmal "platzen" zu lassen. Dieses Spiel betreiben gewiß nur wenige Verteidiger. Aber das genügt: zumal angesichts dessen, daß zwar die bloße Zahl störanfälliger Großverfahren relativ klein, gegebenenfalls aber die Lahmlegung gerichtlicher Kapazitäten beträchtlich ist. Wer durch das Strafjustizgebäude spaziert und die Endloslisten in Augenschein nimmt, die vor einigen Sälen - mit Tesafilm fort- und fortgeflickt - fast den Fußboden durchdringen, reibt sich die Augen, putzt die Brille und muß sich, wenn der Fall so liegt, zunächst mit dem Buchstabieren kurdischer Namen beschäftigen - 5, 6, 8, 10 ...: je nach dem! Dazu Dolmetscher - für eine oder mehrere Sprachen - Sachverständige, Ergänzungsrichter und -schöffen, und natürlich eine stattliche Phalanx von Verteidigern: Landgericht erster Instanz! Daß solche Verfahren schon bei gemessen-vernünftigem Umgang aller Beteiligten miteinander regelmäßig keine Spaziergänge sind, kann sich jeder an den Fingern einer Hand ausrechnen. Wenn dieses Terrain aber mit zwar zulässigen, aber sachlich substanzlosen, gleichwohl komplizierten Anträgen unterminiert wird, dann landet der Geleitzug bald in Sackgassen; das Gericht muß leere Termine aufeinander häufen, man übt sich im Wassertreten, ein Riesenapparat läuft leer. ... Die Haftentlassungen vom Sommer d.J., welche die Debatte ausgelöst hatten, dürften mit allgemeinen Problemen des deutschen Strafverfahrens auch solchen Kalibers letztlich mehr oder weniger eng verknüpft gewesen sein.

Das Parlament soll nun bewogen werden, die generelle Hafthöchstzeit des § 121 StPO jedenfalls für gewisse Fälle von 6 auf 9 Monate zu verlängern. Dazu hat der landgerichtliche Arbeitskreis Strafrecht dem Präsidenten gegenüber so Stellung genommen:

"Der Arbeitskreis geht davon aus, daß ... eine Änderung des § 121 StPO nicht zu einer wesentlichen Entlastung der angespannten Situation im Strafverfahren führen wird. Auch in Zukunft muß damit gerechnet werden, daß Haftentlassungen nach § 121 StPO vorkommen. Ohne eine Änderung der Strafprozeßordnung in die Richtung, daß die Verfahrensherrschaft im Strafprozeß (wieder) beim Gericht - und nicht beim Verteidiger - liegt, wird keine durchgreifende Besserung herbeizuführen sein.

Solange vom Gesetzgeber eine entsprechende Reform nicht ernsthaft betrieben wird, kann von seiten der Gerichte nur darauf hingewiesen werden, daß die gegenwärtige Misere dem Gesetzgeber bekannt, eine Änderung aber offenbar nicht gewollt ist und die sich daraus ergebenen Konsequenzen wie Haftentlassungen, extreme Dauer der Verfahren pp. in Kauf genommen werden. Notwendig ist endlich eine Rückbesinnung auf die Rolle der Strafprozeßordnung im Spannungsverhältnis zwischen Staat und Beschuldigten. Wenn die StPO überwiegend als Instrument der Anklageabwehr dienen soll, muß das öffentlich auch politisch vertreten werden, d.h. die Konsequenzen müssen als politisch gewollt dargestellt werden."

Ich möchte nicht mißverstanden werden: Das hier aus gegebenen Anlaß Gesagte - unverblümt Gesagte! - betrifft nur einen Teilaspekt der ganzen Misere. Ich wiederhole, daß das Geflecht der Gründe komplex ist; und kein Schwerthieb kann (und sollte!) den gordischen Knoten einfach durchschlagen. Dazu sei hier nur angemerkt - weder entfaltet noch gar vertieft -, daß eine "Arbeitsgruppe Strafverfahren" (vom Präsidenten des HansOLG im Herbst 1986 berufen) im Sommer 1989 einen ausführlichen Abschlußbericht vorgelegt hat, der eine gründliche Analyse der Fragen und wohldurchdachte Vorschläge, wenn auch nicht zur "Lösung", so doch zur Milderung der strukturellen Probleme enthält. Ich will jetzt nicht fachsimpeln, aber man sieht hoffentlich, daß die Rede vom tennisspielenden und herumspazierenden Richter, selbst wenn sie Substanz hätte, nach allem nur Ausflucht sein könnte, ein Schnick-Schnack, um über die substantiellen, die wirklichen Probleme nicht reden und entscheiden zu müssen. Leider blieben sie auch auf der Veranstaltung in der Grundbuchhalle fast ganz ausgespart; jedenfalls war ein solches Bestreben des Moderators offensichtlich - und eben nicht erfolglos.

Nun noch ein anderes:

Der Haushaltsausschuß der Hamburger Bürgerschaft hat dem Parlament empfohlen, gewisse Stellenbewilligungen mit dem Ersuchen an den Senat zu verknüpfen,

"ihr - unbeschadet der Gewähr voller richterlicher Unabhängigkeit - zu den Beratungen über den Haushaltsplanentwurf 1994 im Haushaltsausschuß eine umfassende Darstellung und Auswertung einer Untersuchung des organisatorischen Aufbaus und der Abläufe - insbesondere hinsichtlich einer sachgerechten, zügigen und effizienten Wahrnehmung der übertragenen Aufgaben - bei der ordentlichen Gerichtsbarkeit und den Staatsanwaltschaften vorzulegen." Wer Ohren hat zu hören, dem können die dissonanten Töne eines fressenden Mißtrauens kaum entgehen. Allerdings: Ablaufsanalysen, Strukturuntersuchungen ...: Ich habe nicht gezählt, wieviele Fragebögen ich im Laufe meines Berufslebens für Soziologen und andere Leute schon ausgefüllt habe. Auf einen weiteren sollte es mir nicht ankommen (s. auch Anmerkung unten!). Indessen steckt in dem "Ersuchen" ein ganz besonderer Zungenschlag. Denn was mit Worten in Abrede genommen wird (durch salvatorische Klauseln wie "unbeschadet"), ist bekanntlich zuweilen das unausgesprochen Gemeinte. Und hier paßt es so verdächtig gut in den Chor von Pressestimmen, die seinerzeit ganz ungeniert verkündet haben, die Richter sollten doch, bitte, von hoher Hand angewiesen werden, was sie wann zu tun und zu verhandeln hätten; und zur Abrundung lasse ich nun auch die Reminiszenz nicht fehlen, daß die behördlichen Dementis damals reichlich dünn ausgefallen waren.

"Richterliche Unabhängigkeit": Wo sie wirklich beginnt, was sich noch als ihr bloßes "Vorfeld" bezeichnen läßt, und worin ihre Substanz liegt - darüber kann man im Einzelfall gewiß streiten. Zum Streit müssen wir allerdings auch bereit sein! Denn sonst wird man Stück um Stück von ihr abgraben; das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Unabhängigkeit der Rechtsprechung ist aber kein Privileg für Privatleute; und wenn wir sie verteidigen, dann dreht es sich nicht um die Wahrung "sozialer Besitzstände" (die es auch geben mag, was aber ein ganz anderes Thema wäre). Nein, dann geht es - bei aller Abneigung gegen den Gebrauch großer Worte muß ich es schon sagen - um die Gewaltenteilung, mithin ein tragendes Ordnungsprinzip, also um die Verfassung. Anlaß genug also, zum Schluß den altrömischen Warnruf herbeizuzitieren: "videant consules ...!" - "seid wach und auf der Hut!"

Anmerkung:

Der jüngste Befund ist von der "Kienbaum Unternehmensberatung GmbH., Düsseldorf", unter dem 15.08.1992 erstellt worden im Rahmen einer "Organisationsuntersuchung der Kollegial- und Instanzgerichte" - mit folgendem "Fazit/Ausblick" (dort S. 13):

"Als Fazit muß festgehalten werden, daß das Landgericht Hamburg eine Reihe von Schwachpunkten aufweist. Es muß aber explizit darauf hingewiesen werden, daß die meisten angesprochenen Schwachpunkte nicht in den Einflußbereich der Leitung des Landgerichts Hamburg fallen.

Das Landgericht leidet auf Grund seiner Größe und seiner Lage an Problemen eines typischen Großgerichts in einem Ballungsraum, die nur langfristig lösbar erscheinen. Gerade die Leitung wird aus Beratersicht als sehr motiviert und veränderungswillig eingeschätzt, dies zeigen Projekte wie die TANDEM-Geschäftsstelle oder die Projektgruppe PRO-ORGA.

Auch der Großteil der Mitarbeiter des Landgerichts Hamburg macht einen motivierten und arbeitswilligen Eindruck. Deshalb sollte es möglich sein, die angesprochenen Schwächen mit Hilfe des Oberlandesgerichts und der Justizbehörde weitestgehend auszuräumen."

Günter Bertram