(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 2/92) < home RiV >
Federstriche

"Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers - und ganze Bibliotheken werden zur Makulatur" - ein berühmter Satz aus Julius von Kirchmanns Vortrag "über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft." Eine kluge Sentenz schon damals; und wie zutreffend heute, 150 Jahre danach! Wer zuweilen genötigt ist, seinen Schönfelder, Sartorius oder andere Texte im Handbetrieb zu entsorgen und neu zu befrachten, je nach dem Einfallsreichtum des Parlaments, der weiß ein kummervolles Lied davon zu singen. Mit Wehmut und Trauer, aber schicksalsergeben nimmt man zugleich wahr, wie schnell und unwiederbringlich eine für teures Geld zusammengekaufte Privatbücherei verwelkt und vergilbt. Auch hatte man einst die NJW abonniert und dann in zäher Treue an ihr festgehalten. Inzwischen hat dieser alte Stamm, infolge der rastlosen Paragraphenproduktion des Gesetzgebers, so zahlreiche Seitentriebe hervorgebracht (NStZ, NJW-RP, NVwZ, NZA, NZV ... : das ganze Beck'sche Imperium!), daß er nackt und fast wertlos ist.

Aber getrost - wir stehen damit nicht allein! Zuweilen ist es die Geschichte selbst, die mit unwirscher Hand, sozusagen über Nacht viele Kilometer menschlicher Bewußtseinsbestände (geronnen zur endlosen Papierschlange: von Görlitz bis Aachen) abräumt und in den Orkus wirft: Gewogen und zu leicht befunden! - der Federstrich eines höheren Gesetzgebers.

Im Osten, aber auch im Westen gab es plötzlich - nach der Wende -Tonnen und abertausende Tonnen bedruckten Papiers, denen im Nu jedweder Sinn abhanden gekommen war. Dieser Absturz war tiefer als der vergleichsweise taktvolle Eingriff einer parlamentarischen Gewalt, mit dem zu leben unser Beruf ist. Denn dabei bleibt das überholte Alte jedenfalls im Auslegungszusammenhang noch irgendwie lebendig, wenn schon in verbleichender Gestalt. Die Geschichte verfährt, wenn sie denn einmal zuschlägt, ohne den Rest solchen Erbarmens. Sie schreibt auch kein Tagebuch, sondern sie tilgt. Ein Tagebuch wird mit der Zeit nur länger: notwendigerweise, denn sein Verfasser schreibt und schreibt und weiß noch nicht, worauf es ankommen wird; er kennt noch nicht das Gefüge, das dereinst seinem Schreiben und Tun Glanz geben, oder alles als verfehlt, nutzlos und steril abtun könnte.

Wer aber aus dem Rathaus kommt (wie der Historiker schon von Amts wegen!), ist klug und weise. Ihm ist jetzt offenbar geworden, welch blanker Unsinn vieles gewesen ist, was über Fortschritt und Reaktion, Gut und Böse, Friedenskräfte und Kriegstreiber, "Humanismus" (wie es hieß) und Menschenverachtung nicht nur geschrieben, sondern auch gelehrt, gepredigt und in freiwillige oder erzwungene Veranstaltungen umgesetzt worden war - und streicht es aus, ersatz- und kommentarlos, schon um Platz zu schaffen in Köpfen und Regalen.

Das ist ein Prozeß von atemberaubendem Tempo, der aber das gute Recht zu besitzen scheint, welches das Heute stets gegenüber dem Gestern für sich reklamieren kann. Deshalb mag es fruchtlos sein, dem Abgetanen eine Fußnote anzufügen - dennoch: Westdeutsche DDR-Forschung - was war das noch?? Sie war ins Kraut geschossen, nachdem der kalte Krieg für beendet erklärt worden war. ... Wer aber fast nichts mehr weiß über den Lauf der Welt von damals, wird noch dies in der Erinnerung bewahrt haben - über die Distanz von knapp drei Jahren hinweg: Daß buchstäblich niemand den Zusammenbruch der DDR und des kommunistischen Weltsystems für möglich gehalten hat, und daß die hiesige DDR-Forschung für diese Unmöglichkeit eine Fülle unwiderleglicher Beweise parat zu haben schien. Gut oder schlecht: man könnte das als ein Problem wissenschaftlicher Fehleinschätzung abhaken, als ein allerdings besonders bemerkenswertes: Ist unsere Zeit doch geprägt durch den Besitz raffiniertester Informationstechniken und -systeme, die es erlauben, Millionen naher und ferner Daten zu erheben, sie zu speichern, zu verknüpfen und auszuwerten, um dann ganz anders, viel umfassender im Bilde zu sein als noch unsere Väter. Und da haut nun eine aufwendige Forschung so völlig daneben - heute, nicht über ferne Völker und hergesuchte Probleme, sondern das Land, welches vor unserer aller Nasen liegt?! Aber dreht es sich wirklich um ein nur intellektuelles Problem?

Die "alte DDR" (sit venia verbo!) quält sich mit dem Stasi-Erbe herum - in schrecklichen Konvulsionen, mit Akten, Tätern, Opfern, Enthüllungen, Gerüchten. Schon deshalb sind wir kaum berechtigt, die hier im Westen produzierte Makulatur völlig geräuschlos und behende der Vergessenheit anheim fallen zu lassen. Denn der beklagenswerte Zustand des "real existierenden Sozialismus" (der mit den gern berufenen Idealen des jungen Marx nichts, mit der Allmacht von Partei und MfS alles zu tun hatte), war empirisch wohl doch zu offensichtlich, als daß man als Ursache allgemeiner Ahnungslosigkeit nicht auch einen Mangel im Wahrnehmungsinteresse wird suchen müssen. Und da liegt die Schuld des Westens, die Schuld unsererselbst:

Was ist hier nicht alles um des lieben Friedens, um unserer Ruhe und Ängstlichkeit wegen zu Papier gebracht, geredet und gelehrt worden! Zuweilen wüßte man schon gern, wie einige Wissenschaftlicher, Journalisten und Volkspädagogen ihre früheren Schriften und Auslassungen heute beurteilen, die darauf hinausliefen, den "Brüdern und Schwestern" im Osten ihren DDR-Staat als geschichtlich legitimiert, ja im höheren Sinne als "vernünftig" ("was wirklich ist, ist vernünftig, und was vernünftig ist, ist wirklich": welch' Tiefsinn!) aufzureden, und die Skeptiker und Gegner in Ost und West als primitive Antikommunisten und kalte Krieger zu steinigen. Sollte es dieser Zeitgeist gewesen sein, der eine realistische DDR-Forschung nicht hat gedeihen lassen? Zum Beleg (nein: ein Beispiel beweist natürlich nichts; deshalb bescheidener: zur Illustration) eine Rückblende:

Ende der 70ger Jahre erregte eine Studie beträchtliches (wohl sogar internationales) Aufsehen, die sich des Nachweises berühmte, daß 13 % aller Wähler in der BRD über ein "abgeschlossenes rechtsextremes Weltbild" verfügten. Wie war das gemessen worden? Man hatte aus thematisch unterschiedlichen Tableaus eine "Faschismus-Skala" zusammengebaut, die eine Reihe schlechter ("sozial-normativ mißbilligter") und guter Aussagen enthielt, deren Verwerfung oder Bestätigung - je nach dem! - die rechtschaffene Gesinnung, oder eine faschistische Einstellung offenbarten, natürlich nur tendenziell, denn insgesamt gab es rund 30 Statements zu kommentieren. Danach - und hier kommen wir zum Ausgangspunkt zurück - rückte jemand schon dann ein Stück in die Nähe des Rechtsextremismus, wenn er folgender These die Zustimmung verweigerte:

"Man sollte sich endlich damit abfinden, daß es zwei deutsche Staaten gibt." Das bedarf keines weiteren Kommentars; von Interesse mögen vielleicht zwei einleitende Sätze aus der Feder eines damals vielschreibenden Professors sein: "Was die Sinus-Untersuchung an Material bietet, liefert der politischen Bildung für Jahre Stoff. Dieses Material kann von jedem Lehrer, jedem Studienleiter unmittelbar verwandt werden, ohne daß gründliche psychologische tiefenpsychologische, soziologische oder sozialhistorische Kenntnisse erforderlich wären. (Die SINUS-Studie, roak Nr. 4929, Reinbek 1982 S. 12). Wie lautete noch der selbstironisch eingefärbte Spruch der seinerzeit in Jungvolk und HJ herumgereicht wurde: "Fehlendes Wissen wird durch stramme Haltung ersetzt!" ...

Das alles liegt literarisch zutage - und ist eben deshalb versunken und vergessen. Dagegen sind Stasi-Akten, die aus mysteriösem Dunkel heraufgezogen, angekauft oder zusammengefriemelt werden, viel aufregender - und für Verstrickte und Beschuldigte viel gefährlicher. Im Westen gilt die Anfrage wegen eigener alter Fehler als taktlos, zumal fast alle (man blättere nur in den Memoiren Franz-Joseph Strauß'!) in ähnlicher Verdammnis sitzen. Konsequenzen werden - übrigens mit Recht - keinem angesonnen. Die Journalisten, Publizisten und Volksbildner sollen weiter reden dürfen, schreiben, volksbildnern, sich in talk und show darstellen und fortfahren, als Chefredakteure oder sonst wichtige Zeitgenossen dem Weltgeist auf die Sprünge zu helfen.

Die Geschichte, diese unergründliche Gottheit, hat die Lebensrisiken auf Ost und West ausgesprochen ungerecht verteilt, indem sie den Eisernen Vorhang gezogen hat, wie geschehen, und nicht an anderer Stelle. Sie konjugiert nur im Indikativ; und der Frage, wie der Westen sich verhalten hätte, wenn ..., fehlt es zunehmend an Saft und Kraft. Vielleicht wird daraus trotzdem später einmal ein anderes Kapitel "unbewältigter Vergangenheit" werden, des urdeutschen Stückes im XX. Jahrhundert - mit seinen endlosen Fortsetzungen.

Günter Bertram