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„Erinnerungsgesetze“ – ein dorniger Acker

Am 28. Februar 2012 hat der französische Verfassungsrat ein Gesetz für nichtig erklärt, das jeden mit Strafe bedroht, der den Völkermord[1] der Osmanen vom Jahre 1915 an den ostanatolischen Armeniern der Türkei leugnet oder in Abrede nimmt – nichtig, weil eine Verletzung der Meinungsfreiheit[2].

 

1.         Die Vorgeschichte:

Schon am 29. Januar 2001 hatte die französische Nationalversammlung einmütig durch Gesetz festgestellt, dass der osmanisch - türkische Armeniermord ein „Genozid“ (also Völkermord) gewesen sei[3], eine Deklaration, die alsbald schwere Konflikte zwischen Paris und Ankara heraufbeschwor, wo just diese Bezeichnung als eine „Beleidigung des Türkentums“ galt und deshalb nicht nur als historisch falsch verworfen wurde, sondern mit erheblichen Strafen bedroht war[4].

Am 12. Oktober 2006 zog die Pariser Nationsversammlung aus ihrer erwähnten Feststellung von 2001 (mit 196 zu 19 Stimmen und vielen Enthaltungen) die Konsequenz, in Umkehrung des türkischen Strafrechts die in Frankreich „falsche“ Meinung („kein Völkermord oder Genozid ) unter Strafe zu stellen. Die Aussicht auf scharfe türkische Reaktionen ließen die zweite Kammer - den Senat - zunächst zögern, die Sache auf die Spitze zu treiben. Er beschloss am 4. Mai 2011, auf eine Abstimmung zu verzichten und das Gesetz mithin vorerst zu blockieren[5], bis er ihm dann kürzlich - am 23. Januar 2012 - doch seine Zustimmung erteilte; was den alten Konflikt befeuerte und wüste Beschimpfungen aus Ankara provozierte[6].

 

2.         Die „erinnerungspolitische“ Behandlung des furchtbaren Schicksals der Armenier bietet den sozusagen klassischen Beweis dafür, dass die je einschlägigen „Erinnerungsgesetze“ („memory-laws“, „lois memorielles“ usw.) nicht Resultate historisch- wissenschaftlicher Erkenntnis sind[7], sondern Niederschlag durchaus unterschiedlicher und sich ändernder Machtinteressen, und zwar schon im und nach dem Ersten Weltkrieg[8]. Wer es mit der Türkei hielt, redete damals nicht über die Massaker (auch das Berliner Auswärtige Amt, das genau Bescheid wusste, schwieg), Russland und England hingegen bestanden zunächst auf deren „Aufarbeitung“. Aber nachdem die Türkei 1922 im Krieg gegen Griechenland gesiegt und auf der internationalen Lausanne-Konferenz vom 24.07.1923 sich einen großen - für sie selbst günstigen - „Bevölkerungstransfer“ hatte konzedieren lassen, war im allgemeinen Einvernehmen vom Völkermord an den Armeniern plötzlich nicht mehr die Rede[9] – was bis etwa in die 1980er Jahre galt. Armenische Exilverbände konnten dagegen nichts ausrichten, weil die Türkei als Verbündeter des Westens im kalten Krieg nicht gekränkt werden durfte. Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation wurden die Karten neu gemischt. Die besonders produktive Pariser Erinnerungsgesetzgebung war schon 1988 mit der „loi Gayssot“ (beschlossen am 13.07.1990) angelaufen, welche die Leugnung des Holocausts und von Menschlichkeitsverbrechen unter Strafe gestellt hatte – gegen den scharfen Protest französischer Historiker[10]. Dass der Staat sich nun - wie eingangs skizziert - auch der Armeniermassaker wieder entsann, hatte innenpolitische Gründe: In Frankreich leben etwa eine halbe Million armenischstämmiger Wahlbürger, auf deren Stimmen im Zweifel zählen kann, wer in der Armenierfrage deren Anliegen kraftvoll vertritt. Präsident Sarkozy wollte sich dieser Sympathie mit Hilfe der (wie eingangs erwähnt) jetzt gescheiterten Gesetzgebung versichern. Die USA, deren strategisches Interesse an der Türkei auch nach Ende des kalten Krieges keineswegs erloschen war, verlegen sich aufs Lavieren[11], während die Schweizer Gesetzgebung schon 1994 ganz auf die armenischen Interessen abgestimmt war und seine Gerichte bereits entsprechende Strafen ausgesprochen haben[12]. Deutschland nimmt auf die hohe Zahl hier lebender Türken und türkisch Stämmiger Rücksicht und legt seiner proklamierten Sympathie für die Armenier[13] deutlich Zügel an, indem es den Begriff „Völkermord“ sorgsam meidet. Hier dürfte auch eine Rolle spielen, dass Israel es ausdrücklich ablehnt, von einem türkischen Genocid zu sprechen. Demgemäß erklärte Staatspräsident Shimon Peres im Herbst 2011, die Armenier hätten zwar eine Tragödie erlebt, aber dennoch keinen Völkermord, was der Sache nach die „Singularität“ des Holocausts herausstellt, auf welcher sowohl Israel als auch die Politik der Bundesrepublik bestehen.

 

3.         So begreiflich - weil durchschaubar - die politisch-pragmatischen Motive auch jeweils sein mögen, die den Gesetzgeber zur Keule seiner „Erinnerungsgesetze“ greifen lassen[14], so verfehlt sind sie doch bereits rechtsgrundsätzlich. Bewusstseinsinhalte bestimmter Art lassen sich in fremden Köpfen nicht (oder nur durch Gehirnwäsche) herstellen[15], und die Erzwingung eines äußeren Verhaltens (Reden oder Schweigen), das der eigenen Überzeugung des Genötigten widerspricht, ist uns (in beiden Varianten!) eigentlich nur aus totalitärer Herrschaft bekannt. In liberalen Rechtsstaaten hat dergleichen nichts zu suchen und wird von Text und Geist einer jeden seiner Verfassungen verworfen. Die Staatspraxis ist freilich komplexer als diese Theorie. Mit Bezug auf die deutsche Rechtslage (Art 5, 8 GG, § 130 StGB usw.) ist das in den MHR aus unterschiedlichen Blickwinkeln gelegentlich schon behandelt worden[16] und bedarf keiner Wiederholung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte versucht, unter vager Berufung auf „Grundwerte der (europäischen) Konvention“ sich aus dem Streit um Freiheit oder Bestrafung politisch umstrittener („falscher“) Meinungen möglichst herauszuhalten[17].

 

4.         Der eingangs erwähnte Spruch des Pariser Verfassungsrats verteidigt (dort im Armenierstreit) die Meinungsfreiheit dem Grunde nach ähnlich, wie es im November 2007 bereits der Spanische Verfassungsgerichtshof mit seiner Nichtigerklärung des Art. 607.2 des spanischen StGBs getan hatte, der allein schon das einfache Bestreiten des Holocausts für strafbar erklärt hatte: Aber, so das Gericht, Meinungen - auch „falsche“! - stünden unter dem Schutz der Verfassung, anders als Hetze, Herabwürdigung, Beleidigung, Rechtfertigung des Holocaust und andere Aggressionen, die allerdings auch dann strafbar blieben, wenn sie sich als „bloße“ Leugnung des Holocaust verbrämten. Das sei dann nämlich keine bloße Meinung mehr, sondern Verletzung Dritter. Dies entsprach in etwa der deutschen Rechtslage von 1960 bis zur Erweiterung des § 130 (1) StGB durch einen Absatz 3 im Jahre 1994)[18].

 

5.         Die EU hatte sich schon im Jahr 2001 und verstärkt 2007 unter deutscher Ratspräsidentschaft bemüht, eine einheitliche Erinnerungspolitik zustande zu bringen, und zwar unter der Parole „gegen Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Hass“, der dann übergangs- und umstandslos die Leugnungstatbestände[19] subsumiert oder einfach „angehängt“ wurden, obgleich  Hassausbrüche einerseits und die Kundgabe „falscher“ Ansichten und Meinungen andererseits substanziell durchaus unterschiedliche Themen sind: Ersteres hat mit Freiheitsrechten wenig, Letzteres damit eine Menge zu tun[20].

 

Über den EU-Beschluss vom 28.11.2008 und seine Umsetzung in deutsches Recht hatte ich früher schon berichtet[21], allerdings beschränkt auf dessen Verhetzungsvariante (StGB § 130 Abs. 1 – angelsächsisch „hate-crimes“). Dazu bleibt jetzt nachzutragen, dass der Europäische Rat sich genötigt gesehen hatte, die „Erinnerungspolitik“ - obwohl unter „Rassistischen und fremdenfeindliche Straftaten“ abgehandelt[22] - im Ergebnis ganz den Nationalstaaten  zu überlassen, wozu es schon vorweg in den „Erwägungen“ (Nr. 6.) heißt:

 

 „…. Da die kulturellen und rechtlichen Traditionen der Mitgliedstaaten zum Teil sehr unterschiedlich sind, ist insbesondere auf diesem Gebiet derzeit keine vollständige Harmonisierung der strafrechtlichen Vorschriften möglich“[23], und dass dann im Text selbst ausdrücklich erklärt wird, es stünde im Ermessen der Staaten, ein „Leugnen“ usw. nur dann unter Strafe zu stellen, wenn eben dadurch zur Gewalt aufgerufen werde, und wenn das Ganze überhaupt mit den jeweiligen Freiheitsgarantien vereinbar sei[24]. Das entspricht in etwa der deutschen Rechtslage bis 1994 und den Gründen sowohl des französischen Verfassungsrats (2012) als auch des spanischen Verfassungsgerichtshofs (2007).

 

Der genannte EU-Beschluss weist den nationalen und internationalen Gerichten insofern eine bemerkenswerte Rolle zu, als er deren in konkreten Verfahren als Strafvoraussetzung getroffene Feststellung „dies war als Völkermord zu bestrafen“ als allgemeines (quasi-gesetzliches) Präjudiz zulässt, dessen Inhalt in beliebigen Leugnungsverfahren maßgebend und dem Gegenbeweis entzogen bleibt[25] - ein Übergriff von der Art, wie er immer wieder den begründeten Protest der Wissenschaft auf den Plan gerufen hatte[26].

 

Aber letztlich bleibt es, wie erwähnt, den EU-Staaten überlassen, ob sie von dieser Lizenz und anderen Vorgaben Gebrauch machen oder nicht[27]. Damit ist der deutsche Plan, § 130 StGB europaweit zu verbindlicher Geltung zu verhelfen, gescheitert. Die Chance hingegen, mit Brüssels Segen die überzogenen hiesigen Strafvorschriften auf ein vernünftiges, dem Geiste der Verfassung entsprechendes Maß zurückzuschneiden, hat Berlin nicht genutzt, vielmehr mit einem gewissen Stolz herausgestellt, dass Deutschland auch in Sachen Volksverhetzung mehr leiste, als andere es müssten, also sozusagen ein europäisches Übersoll erfülle[28].

 

6.         Wohin geht die Reise? Das BVerfG stellt in seinem Beschluss vom 04.11.2009, mit dem es die Novelle des § 130 (4) StGB („Wunsiedel“) mit anfechtbarer Begründung passieren lässt[29], sozusagen im Kontrast dazu die Freiheit der Meinungsäußerung in „ihrer geistigen Wirkung“ mit auffällig deutlichen Worten heraus (etwa Rz. 67, 72, 77, 82, 85, 99) und schließt dabei ausdrücklich auch falsche, missbilligenswerte und anstößige Geschichtsinterpretationen in die Garantie der Meinungsfreiheit ein. Freilich wäre es ein Wunder, wenn der Berliner Gesetzgeber sich noch zu später Stunde von diesem Geist der Freiheit anstecken ließe.

 

Günter Bertram


[1] dieser Begriff wurde am 09.12.1948 durch die UN-Konvention über „Verhütung und Bestrafung von Völkermord“ erstmals verwandt und findet sich kaum verändert in § 6 des deutschen Völkerstrafgesetzbuchs vom 26. Juni 2002 (BGBl. I 2254 III 453-21; vgl. Fischer, StGB, Anhang „VStGB“). Dieser definiert dort näher bezeichnete Handlungen gegen Gruppen oder Einzelne als Völkermord, wenn sie begangen werden „in der Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder ethnische Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Der deutsche Leugnungs-Tatbestand § 130 III StGB nimmt darauf Bezug, allerdings beschränkt auf derartige NS-Gewaltverbrechen.

 

[2] vgl. In Frankreich vorerst kein neues Völkermord-Gesetz, FAZ vom 01.03. 2012.

 

[3] vgl. näher: Prof. Hagen Schulze „Erinnerung per Gesetz oder „Freiheit für Geschichte“? in Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Nr.7/8/2008, 364 - 380 (S. 372); Hannes Hofbauer: Verordnete Wahrheit, bestrafte Gesinnung: Rechtsprechung als politisches Instrument, Wien 2011, dort insb.: Erinnerungsgesetze auf französisch, 57 – 67.

 

[4] Anders als nach dem Ersten Weltkrieg und noch in späteren Jahren nimmt die Türkei die massenhafte Tötung der Armenier jetzt nicht mehr schlicht in Abrede, qualifiziert sie aber als kriegsbedingte Tragödie („die Ereignisse von 1915“), der keine Ausrottungsabsicht, sondern mehr oder weniger objektive Anlässe zu Grunde gelegen habe. Zahlreiche „Abweichler“, vor allem Intellektuelle und Schriftsteller, die sich dieser euphemistischen Sprache nicht fügen, werden verfolgt, bestraft (etwa Orhan Pamuk im März 2010) , sogar ermordet (wie der Autor armenischer Abkunft Hrant Dink). Vgl. Karen Krüger in FAZ v. 03.04.2010: Das Letzte, was ich von den Kindern sah – Die türkische Regierung leugnet den Völkermord an den Armeniern. Zwischen 1915 und 1917 wurde das älteste christliche Volk fast vollständig vernichtet. Daran erinnert eine herausragende Dokumentation im ARD-Fernsehen …“; vgl. auch Wolfgang Gust in FAZ vom 23.04.2010: Das Ende eines langen Anfangs – Ein Dialog zwischen Armeniern und Türken über den armenischen Genozid scheint nicht möglich zu sein – doch Wissenschaftler beider Seiten beweisen das Gegenteil.

 

[5] vgl. Hofbauer aaO. (Anm. 3) S. 116 f.

 

[6] vgl. dazu Karen Krüger in FAZ vom 24.12.2011: Armenier? Algerien! – Das französische Gesetz und der türkische Reflex. Von Erdogans AKP–Fraktion wurde vorgeschlagen, als Antwort ein Gesetz zu beschließen, das die französischen Massenmorde zur Kolonialzeit in Algerien als „Völkermorde“ disqualifiziert; auch Salomon in ZRP 2/2012 S. 48-50: Meinungsfreiheit und die Strafbarkeit des Negationismus, insb. Die Aghet – der Völkermord an den Armeniern (S.49).

 

[7] Hofbauer aaO. (Anm.3), S. 87 f macht darauf aufmerksam, dass Franz Werfels großer Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ von 1933 – jetzt: Fischer, 10. Aufl. 1999 – mit bewundernswerter Genauigkeit alles damals erreichbare Material verarbeit habe, und dass heute eigentlich kaum noch neues dazu komme.

 

[8] ausführlich und eindrucksvoll dazu Hofbauer aaO. (Anm.3) Die armenische Frage und ihre Instrumentalisierung“, S. 85 – 124; bei ihm bewährt sich hier, dass er als geschulter Marxist schon methodisch stets nach realen Interessen fragt, die sich (oft) ideal verkleiden. Nach Hofbauer fand schon ein früherer Armenierpogrom 1895 in Urfa statt, wobei dreitausend Opfer in die städtischen Kathedrale getrieben und dort verbrannt worden sind, was von der amerikanischem Missionarin Corinna Shattuck berichtet und als „Holocaust“ bezeichnet wurde (S. 93). Dieser Begriff sei also älter als durchweg vermutet; die Armenier selbst sprechen von „Aghet“= Katastrophe.

 

[9]Lausanne war die große Generalamnestie für die türkische Seite“, Hofbauer aaO. (Anm. 3) S.109 f. Etwa 16 Jahre später, am 22.08.1939 soll Hitler vor der Generalität mit Blick auf die künftigen „Maßnahmen“ seiner Einsatzkommandos in Polen geäußert haben: „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“, Quelle: Canaris - Mitschnitt – was wiederum bestritten wird, vgl. FAZ v. 01.02.1912: Kein Hinweis auf das Armenien-Massaker (Leserbrief).

 

[10] dazu i.e. Schulze aaO.(Anm. 2) 372 – 376. Der Einspruch der Wissenschaft fiel umso heftiger aus, als die diesbezügliche französische Gesetzgebung wie eine Achterbahnfahrt anmutet: die „Loi Taubira“ vom 21.05.2001 erklärt bestimmte Formen des Sklavenhandels zum Humanitätsverbrechen und weist die Schulen an, entsprechend zu unterrichten. Am 23.02.2005 erfolgt der legislative Gegenschlag, indem das Gesetz anordnete, die positive Rolle Frankreichs während der Kolonialzeit in Nordafrika und Indochina anzuerkennen und herauszustellen. Die innere Widersprüchlichkeit dergleichen liegt daran, dass eine jeweils unterschiedliche Klientel hofiert und beworben wird; vgl. auch Hofbauer aa0 (Anm. 3) S.57 – 67 und passim.

 

[11] vgl. Friedler/Hahnfeld in FAZ vom 10.07.2010: Auch Obama vermeidet den Begriff Völkermord.

 

[12] Hofbauer aaO. (Anm. 3) zu den Schweizer Fällen Dogu Perincek und Yusuf Halacoglu (S. 118, 232).

 

[13] Entschließung des DBT vom 15.06.2005: „Der BT verneigt sich im Gedenken an die Opfer von Gewalt, Mord und Vertreibung, unter denen das armenische Volk vor und während des Ersten Weltkrieges zu leiden hatte. Er beklagt die Taten der jungtürkischen Regierung des Osmanischen Reiches, die zur fast vollständigen Vernichtung der Armenier in Anatolien geführt haben“.

 

[14] deren Zahl und Inhalte bemerkenswert sind. Arno Widmann zählt schon unter dem 23.10.2008 (FR vom 23.10.2008: Der Kampf um die Erinnerung – Historiker wenden sich gegen ein staatlich verordnetes Geschichtsbild) fünfzehn Staaten mit derartigen Vorschriften auf. Ähnlich Thomas Thiemeyer in SZ vom 27.08.2008 („Invasive Erinnerungspolitik“). Pierre Nora, weltberühmter französischer Historiker, seit Oktober 2007 Präsident der „Association Liberte pour l’Histoire“: „Mit der loi Gayssot wurde das Tor für erpresserische Forderungen aller Opfergruppen geöffnet. Und Frankreich, als einziges Land in Europa, hat nicht gezögert, großzügig die Gesetze zu vermehren, die Vorgänge als kriminell erklären, die wie der Sklavenhandel und die Sklaverei mehrere Jahrhunderte zurückreichen, jedoch schon seit mehr als anderthalb Jahrhunderten abgeschafft sind und die ganz Europa und nicht allein Frankreich in großem Stil praktiziert haben - wie auch die Araber und die Afrikaner selbst. Der Weg ist jetzt offen für alle Entgleisungen. Wann kommt die juristische Kriminalisierung der Kreuzzüge? Ich scherze nicht – das ist einer der Gesetzesvorschläge – es gibt Dutzende davon, die in den Köpfen unserer tugendhaften Parlamentarier schlummern“ (vgl. Schulze aaO. (Anm. 3), 364).

 

[15] so zur aktuellen französischen Kontroverse der Hamburger Strafrechtslehrer Reinhard Merkel in FAZ vom 26.01.2012 (also vier Wochen vor der Entscheidung des Pariser Verfassungsrats und in dessen Sinne): „Monstrum und Beute: Völkermord und seine Leugnung: Es gibt keinen erzwingbaren Anspruch auf fremde Bewusstseinszustände, die nichts weiter offenbaren als die Unzulänglichkeit ihrer Inhaber“.

 

[16] vgl. MHR 2/1994, 8 ff: Bertram: Der BGH und die „Ausschwitzlüge; MHR 1/1995, 21 f: ders.: Schamzerpörung; MHR 2/2005, 24 ff: ders.: Die Volksverhetzungsnovelle; MHR 1/2007, 22 ff; Hoffmann-Riem: Versammlungsfreiheit auch für Rechtsextremisten?; MHR 4/2008, 12 ff: Bertram: Wider die „Erinnerungspolizei“ – der Appell von Blois; MHR 2/2011, 26 ff: ders.: Fremde als Opfer der Volksverhetzung – Geschichte des § 130 StGB.

 

[17] Entscheidung vom 24.06.2003 im Fall Garaudy/Frankreich, NJW 2004,  3691.

 

[18] dass die alte Gesetzeslage, zumal in der Auslegung des BGH, allen rechtspolitischen Ansprüchen Genüge tat, habe ich in MHR 2/2011 S. 26, Fn.8, auch unter Hinweis auf meine eigene Hamburger Praxis begründet.

 

[19] bei denen es (wie schon zu § 130 III StGB) jedenfalls im Halbdunklen bleibt, ob unter „Leugnen“ nur ein Bestreiten wider besseres Wissen zu verstehen ist, oder ob ein schlichtes „In-Abrede-Nehmen“ („Für-Unwahr-Erklären“) genügt - was für den Tatvorsatz doch eigentlich von nicht unerheblicher Bedeutung sein sollte.

 

[20] Hofbauer aaO (Anm.3) S. 70 f zu einer Rede Brigitte Zypries’ vom 07.05.2007: „Auf drei Seiten gibt die deutsche Sozialdemokratin jene scheinbar arglose Mischung aus juristischen Selbstverständlichkeiten (scil. Hassverbot) und Aufforderung zur Kriminalisierung von öffentlichen Äußerungen zum Besten, die zum Muster der Neueinführung von Meinungsdelikten gehört“.

 

[21] MHR 2011, 26.

 

[22] vgl. Art 1 (1) Ziff. c) und d) des Rahmenbeschlusses, EU-Amtsblatt vom 06.12.2008.

 

[23] Der Umbruch der 1990er Jahre hatte gezeigt, dass die Wunden, die der Stalinismus in Osteuropa geschlagen hatte, ihre eigene Erinnerungen hinterlassen hatten, denen man in Brüssel wenig Empathie gezollt hatte; dazu auch Hellmann/Gärtner NJW 2001, 961: Neues beim Volksverhetzungstatbestand – Europäische Vorgaben und ihre Umsetzung, dort Ziff.3.

 

[24] vgl. Beschluss (s. Anm. 21) Artikel 1(2) und Art. 7(2).

 

[25] vgl. EU-Beschluss Art. 1 (4).

 

[26] vgl. etwa Hofbauer aaO. (Anm. 3) passim.

 

[27] problematisch und brisant kann gegebenenfalls die Frage der Anerkennung einschlägiger Strafurteile, zuvor auch schon des europäischen Haftbefehls werden.

 

[28] zur deutschen Übererfüllung des Geboten vgl. die Begründung zum Gesetzentwurf (BT-DrS 17/3124 vom 01.10.2010, S. 7, beifällig auch Hellmann/Gärtner in NJW 2011, 961: Neues beim Volksverhetzungstatbestand – Europäische Vorgaben und ihre Umsetzung, dort Ziffer IV. Mit Recht kritisch hingegen Bock in ZRP 20011, 46 (49): „…zum andern will die Bundesregierung die im Rahmenbeschluss vorgesehene, kriminalpolitisch sinnvolle Möglichkeit zur Begrenzung der Strafbarkeit nicht nutzen. Damit droht eine konturlose Ausdehnung des § 130 StGB“. Dazu schon Bertram NJW 1994, 2004.

 

[29] NJW 2010, 47; Nachweise der wissenschaftlichen Kritik bei Bertram NJW 2011, 513 Ziffer IV (Entscheidungsanmerkung zu 1 BvR 2585/06).