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MAFIA
Ein Parasit befällt Europa
(Zum Vortrag von Roberto Scrapinato am 27.09.2011 in der Grundbuchhalle)
Als Roberto Scarpinato mit halbstündiger Verspätung in einer gepanzerten Limousine auf den Hof des Ziviljustizgebäudes gefahren wird, bricht die Grundbuchhalle aus allen Nähten: Bis in die oberen Ränge stehen die Besucher, jeder einzelne von ihnen ist am Eingang durch Beamte des LKA einer Kontrolle unterzogen worden, die Einlassschlange reichte bis in den Altbau. Das Interesse ist gewaltig.
Das liegt zu einem beträchtlichen Anteil an der Person Scarpinatos, dem Leitenden Oberstaatsanwalt von Palermo, der Hochburg der italienischen Mafia. Der 59-jährige gilt als einer der versiertesten Mafia-Kenner der Welt und als wohl berühmtester Mafia-Jäger Europas. Sein Besuch in Hamburg auf Einladung des Hamburgischen Richtervereins war nur unter Aufbietung von bis ins Detail geplanten Personenschutzmaßnahmen möglich – von seiner Ankunft am Flughafen bis zur Abreise war er stets begleitet von mehreren LKA-Leibwächtern, die Grundbuchhalle wurde vor dem Vortrag von Sprengstoffspezialisten und Sprengstoffhunden durchsucht, jeder Ort, an dem Scarpinato sich aufhielt, wurde im Vorwege untersucht, Spontaneität im Tagesablauf war nicht vorgesehen. Doch all dies gleicht einem „offenen Vollzug“, während sein Alltag daheim eher wie Kerkerhaft anmutet – in Palermo steht er seit 1989 unter ständigem Personenschutz. Kaum je kann er Restaurants oder private Feiern besuchen; er kehrt allabendlich in seine stets von Leibwächtern geschützte Wohnung hinter schusssicherem Glas zurück. Sein Sohn lebt seit den 90er Jahren an einem geheimen Ort in einem anderen europäischen Land, von seiner Frau – ebenfalls eine engagierte Staatsanwältin – hat er sich vor vielen Jahren getrennt, um sie zu schützen. Seine Mitstreiter, die Juristen Giovanni Falcone und Paolo Borsalino, wurden beide 1992 von der Mafia ermordet. So genießt Scarpinato seine drei Hamburger Tage in diesem warmen Spätsommer sichtbar, er erlebt zuhause Verwehrtes, wie abendliche Restaurantbesuche, eine Bootsfahrt, einen Kiezspaziergang – lauter Unternehmungen, die in Palermo undenkbar wären.
Doch Scarpinato ist nicht zum Vergnügen angereist, er hat eine Mission: „In Deutschland herrscht immer noch die Vorstellung, dass Mafiosi Pizzabäcker seien, die Schutzgeld erpressen", hält Scarpinato seinem Publikum vor. „Die Deutschen nehmen die Mafia nur wahr, wenn geschossen wird" – eine „Mafia-Folklore“, die er als den schlimmsten Feind bezeichnet, der mit der Mafia zusammenarbeitet: als Ignoranz.
Tatsächlich operiere die Mafia längst im Bereich der „Weiße Kragen"-Kriminalität: Mafia-Geld fließe in den Energiesektor, die Müllentsorgung, in Einkaufszentren und die Nahrungsmittelindustrie, sogar in die Mikroelektronik. „Die richtige Mafia braucht keine Schießerei, die richtige Mafia ist einer der größten internationalen Konzerne", mahnt Scarpinato.
Und sie habe Deutschland für sich entdeckt: „Wenn ich Mafiosi wäre, würde ich meine Gelder in Deutschland anlegen“. Zum Zweck der Geldwäsche würden hier schon jetzt gezielt Gesellschaften auf den Namen deutscher Bürger gegründet. Diese Unternehmen seien zumeist so klein, dass sie lediglich zu vereinfachter Buchhaltung verpflichtet seien. Die deutschen Strohleute kassierten 50.000 € bis 100.000 €. Zudem gebe es Erkenntnisse darüber, dass die Mafia in Hotels und Restaurants in Hamburg investiert habe. Gerade der Hafen und gigantische Projekte wie die Hafen-City böten der Mafia attraktive Angriffsflächen.
Zwischen den Abschnitten seines Vortrags, der von einer Dolmetscherin aus dem Italienischen übersetzt wird, erleben wir Scarpinato in Ausschnitten aus Filmen der Journalistin Carmen Butta, die sich seit Jahren u.a. mit der italienischen Mafia auseinandersetzt. Wir begleiten Scarpinato bei seinem auf Schritt und Tritt bewachten Arbeitsalltag, wir sehen ihn allein in seiner Wohnung, die einer Festung gleicht, wir erleben auch eine Frau aus dem südlichen Italien, die ihrem kleinen Sohn ein Wiegenlied singt, in dem es um Ehre und Rache geht, und die Bereitschaft, für seine Familie zu töten oder zu sterben.
Scarpinatos eindringlicher Appell: Hinschauen. Gesetze verschärfen. Eingriffsbefugnisse der Staatsanwaltschaft im Hinblick auf Telefon- und Raumüberwachungen ausweiten. Die Beweislast für die Anordnung von Verfall und Einziehung umkehren: Nicht der Staat habe nachzuweisen, dass ein Vermögen aus Geldwäsche stamme, sondern der wegen Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung Verurteilte müsse belegen, dass dies nicht der Fall sei. Auf diese Weise sei es 2008 in Italien gelungen, fünf Milliarden Euro Mafiavermögen zu beschlagnahmen. Die bestehenden Regelungen in Deutschland seien, so Scarpinato, historisch: „Die Instrumente reichen für eine Blinddarmoperation, aber nicht für eine komplizierte Herzoperation.“
Auf die Frage eines Journalisten am Ende des Vortragsabends, ob die vorgeschlagenen Neuregelungen Deutschland zu einem Überwachungsstaat machen werden, antwortet Scarpinato knapp: „Es ist erstaunlich, dass in Deutschland die Angst vor dem Staat größer ist, als die vor der Mafia.“
Scarpinato traf sich zu informellen Gesprächen mit Justizsenatorin Jana Schiedek und Generalstaatsanwalt Lutz von Selle sowie weiteren Vertretern aus Politik und Justiz.
Julia Kauffmann