(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/11, 21) < home RiV >

Strafjustiz in England und Wales

 

Was macht man, wenn sich dem Ehepartner die Gelegenheit zu einem einjährigen Forschungsaufenthalt an der Universität Oxford bietet und die ganze Familie für ein Jahr nach England umzieht? Was tut eine Richterin, während Ihr Partner ein dickes Buch schreibt und die Söhne in der englischen Schule trotz Kulturschocks viele neue Freunde finden? Ich für meinen Teil habe mich aufgemacht, das englische Rechtssystem zu erkunden.

Kontakte zur Justiz lassen sich schnell und unkompliziert knüpfen. Ich fand rasch freundliche und aufgeschlossene Kollegen, die mir Blicke über die berufliche Schulter gestatteten.[1] Neben Besuchen beim Court of Appeal, beim High Court in London und Birmingham und beim magistrates´ court in Oxford hatte ich das Glück, einmal pro Woche die Sitzungen am Crown Court in Oxford beobachten zu dürfen. Ich wurde als Ehrengast auf der Richterbank unter dem Wappen Ihrer Majestät platziert und konnte manchen interessanten Einblick gewinnen. Dabei galt mein Interesse vor allem der Strafjustiz, die sich bekanntermaßen erheblich vom deutschen System unterscheidet.  

Ziel dieses Beitrags ist nicht, eine wissenschaftliche Abhandlung über das englische Straf(prozess)rechtssystem vorzulegen; solche existieren sicherlich zur Genüge. Vielmehr möchte ich meine persönlichen Eindrücke und Erfahrungen während dieser Besuche zusammenfassen. Sie sind unvermeidlich unvollständig, subjektiv und von der Sichtweise der Kontinentaleuropäerin geprägt. Vielleicht bieten sie gleichwohl einen interessanten Blick über den Tellerrand und eine anregende Lektüre.

 

1. Überblick über die Institutionen

Zum besseren Verständnis sei zunächst ein kurzer Blick auf die einzelnen Gerichte gestattet.

Die unterste Stufe der Strafjustiz in England und Wales sind die lokal angesiedelten, fast ausschließlich mit Laienrichtern besetzten magistrates´ courts. Sie haben eine Strafgewalt von 6 Monaten Freiheitsstrafe oder 5000 Pfund Geldstrafe und können eine Vielzahl von Auflagen, sogenannte community orders verhängen. Diese umfassen neben Arbeits-, Aufenthalts-, Therapie- oder Bewährungsauflagen auch durch elektronische Fußfesseln kontrollierten Hausarrest, der auch auf die Abend- und Nachtzeit beschränkt verhängt werden kann, um ein bestehendes Arbeitsverhältnis zu erhalten. Die ursprüngliche Faustregel, dass der zuständige magistrates´ court für jedermann innerhalb einer Stunde erreichbar sein sollte, wird angesichts zahlreicher Zusammenlegungen und Schließungen bald der Vergangenheit angehören. Das Vereinigte Königreich ist angesichts der dramatischen Folgen der Wirtschaftskrise dabei, seinen öffentlichen Sektor soweit wie irgend möglich zu reduzieren, was natürlich auch kostenmotivierte Reformen für die Justiz mit sich bringt – ein Ansatz, der auch dem deutschen Gerichtswesen nicht unbekannt ist.

 

Die nächste Stufe der Strafjustiz sind die regional angesiedelten, ausschließlich mit Berufsrichtern besetzten Crown Courts, die im Prinzip für alles weitere die Eingangsinstanz sind. Hier werden Strafsachen von einem Berufsrichter und einer jury aus 12 Geschworenen verhandelt und entschieden. Grundsätzlich ist für jedes Delikt gesetzlich festgelegt, ob es sich um eine summary offense handelt, für die der magistrates´ court zuständig ist, oder ob eine indictable offense gegeben ist, die vor den Crown Court gehört. Daneben gibt es noch die either way offenses, also Delikte, deren Strafwürdigkeit sich nach den Umständen erheblich unterscheiden kann, wie z.B. Diebstahl und Betrug. Bei diesen hat der Angeklagte (!) die Wahl, vor welches Gericht er gestellt werden möchte. Die Präferenz geht dabei eindeutig zum Crown Court.

 

Die nächste Stufe, der High Court of England and Wales, ist mit etwa 120 Berufsrichtern zentral in London angesiedelt. Das Gericht selbst hat eigentlich gar keine erstinstanzliche Zuständigkeit in Strafsachen, sondern arbeitet formal nur als Rechtsmittelinstanz für bestimmte Fälle der magistrates´ courts und der Crown Courts.

 

Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich erledigen die High Court judges alle als sehr bedeutsam und/ oder schwierig eingestuften Strafsachen – vor allem Kapitaldelikte – aus der Zuständigkeit des Crown Courts, wobei sie gemeinsam mit einer jury sitzen. Jeder High Court judge ist einem bestimmten circuit zugeordnet, einer Gerichtsregion außerhalb Londons, die noch zu Zeiten von Pferd und Kutsche im Wege einer Rundreise besucht wurde. Damit sollte seinerzeit sichergestellt werden, dass die regionalen Statthalter des Königs, insbesondere die landlords, die Strafgerichtsbarkeit nach den Vorgaben aus London ausübten. Die ursprünglichen, dem Verlauf der mittelalterlichen Überlandstraßen angepassten Regionen haben sich zwar im Lauf der Zeit verändert. Die Tradition des sitting on circuit hat sich jedoch – wie so viele andere auch – erhalten. Auch heute noch wird diese Reisekultur ganz offen als Kontrollmaßnahme der Zentrale gegenüber den regionalen Gerichten beschrieben.

 

So verbringen die High Court judges etwa die Hälfte ihrer Zeit außerhalb Londons an Gerichten ihres circuit. In der Regel handelt es sich um Perioden von 8 Wochen, während derer die gesammelten „Schwurgerichtsprozesse“ dieses Gerichts abgearbeitet werden. Das ist auch deswegen pikant, weil die High Court judges in ihrer Londoner Zuständigkeit in aller Regel gar nicht mit Strafsachen befasst und daher nicht unbedingt Spezialisten auf diesem Gebiet sind, während es an den Crown Courts durchaus viele Richter gibt, die ausschließlich in Strafsachen sitzen und deshalb sehr erfahren sind. Da kann man beim Mittagessen schon einmal die Zähne knirschen hören, wenn der Londoner Kollege, der das Monopol auf die interessanten und komplexen Fälle hat, strafprozessualen Rechtsrat vom örtlichen Experten einholt. Aber die sprichwörtliche englische Höflichkeit sichert natürlich auch hier einen jederzeit tadellos korrekten Umgang miteinander.

 

Während der Zeit auf dem circuit sind die High Court judges in den Judge´s lodgings untergebracht, die es immer noch an den allermeisten regionalen Gerichtsstandorten gibt. Es handelt sich nicht immer, aber oft um eindrucksvolle historische Gebäude mit Apartments für die Richter und ihre Ehepartner, Bibliotheken und Arbeitsräumen, gepflegten Gärten, Salons und Speisezimmern. Das Personal hält das Haus sauber und in Schuss, bereitet und serviert das dreigängige Dinner mit Wein auf silbernen Tabletts mit königlichem Wappen; anschließend lässt sich in der Hausbar noch ein kleiner Absacker finden, soweit nicht mehr allzu viele Akten warten. Für den Transport zu und vom Gericht steht ein Limousinen-Service zur Verfügung.

 

Allerdings geht der Wandel der Zeit auch an den lodgings nicht spurlos vorbei. Da die Ehepartner heute aufgrund eigener Verpflichtungen nur noch selten mitreisen, sind die Richter bestrebt, nur so lange wie unbedingt nötig zu bleiben, und auch die für sie reservierten Fälle sind nach und nach reduziert worden. So ist oft zeitweise gar kein Richter mehr zu Gast, so dass Personal meist „nur“ noch bei Bedarf angeheuert wird. Ob die wirtschaftliche Entwicklung hier für einen weitergehenden Bruch mit der sehr teuren Tradition sorgen wird, bleibt abzuwarten.

 

Interessant ist auch die Geschäftsverteilung für die High Court judges. Das englische Rechtssystem kennt kein Prinzip des gesetzlichen Richters. Die eingehenden Sachen werden von der Gerichtsverwaltung und einem Richtergremium der senior judges auf die zur Verfügung stehenden Richter verteilt, wobei durchaus darauf geachtet wird, dass als besonders schwierig eingestufte Fälle von besonders erfahrenen Kollegen bearbeitet werden. Am High Court wird dreimal im Jahr ein Verteilungsverfahren für die zu besetzenden Zeiten an den Gerichten auf dem circuit durchgeführt. Dazu werden zunächst die Richter in drei Prioritäten-Gruppen eingeteilt. Die oberste Gruppe darf zuerst wählen, wann sie an welchem Gericht sitzen möchte. Dabei ist es oft so, dass man bereits über die Presse und den Flurfunk weiß, welche Prozesse während dieser Zeit an diesem Gericht anstehen. Anschließend wählt die mittlere Gruppe, und die unterste Gruppe verteilt die weniger beliebten Zeiten und Orte unter sich. Wer neu hinzu kommt, landet zunächst in der untersten Prioritäten-Gruppe, steigt dann aber mit jeder neuen Verteilungsrunde in die nächsthöhere Gruppe auf, bis man dann von der höchsten wieder in die unterste Gruppe absteigt usw. Ein schönes Anwendungsbeispiel für die typisch englische Fairness.

 

Die zentrale Rechtsmittelinstanz ist der Court of Appeal of England and Wales mit knapp 40 Richtern in London, vor dem sowohl Zivil- als auch Strafsachen verhandelt werden. Das englische Strafrecht kennt keine offene Berufung gegen Verurteilung durch eine jury, sondern konzentriert sich ganz auf die Revision, die ähnlichen Zugangsbeschränkungen wie im deutschen Recht unterliegt. Allerdings ist der appeal nicht streng auf die Suche nach Rechtsfehlern beschränkt, sondern kann z. B. auch die Einbeziehung später bekannt gewordener Fakten beinhalten. Bemerkenswert ist, dass ein Freispruch durch eine jury von der Staatsanwaltschaft in der Sache nicht angegriffen werden kann; gegen den Freispruch ist kein echtes Rechtsmittel gegeben. Die Staatsanwaltschaft kann lediglich ihren Rechtsstandpunkt durch den Court of Appeal überprüfen lassen. Selbst wenn dieser jedoch einen Rechtsfehler bestätigen sollte, bleibt der Freispruch unangetastet.

 

Die Abwesenheit des Prinzips des gesetzlichen Richters führt übrigens auch dazu, dass englische Richter auch ohne formale und zeitlich festgelegte Abordnung an anderen Gerichten sitzen können, wie schon am Beispiel der „Schwurgerichtsfälle“ deutlich geworden ist, in denen formal der Crown Court, aber besetzt mit einem Richter des High Court, entscheidet. Am Court of Appeal sitzen immer drei Richter, wobei diese benches von der Gerichtsverwaltung jeweils für den konkreten Sitzungstag frei zusammengestellt werden und es keine festen Gruppen gibt. Im Gegenteil ist es vielmehr so, dass in Strafsachen oft Kammern aus einem Richter des Court of Appeal, einem Richter des High Court und einem circuit judge, also einem Richter eines Crown Courts außerhalb Londons, gebildet werden. Anders wäre wohl die Arbeitslast mit 40 Richtern auch nicht zu bewältigen.

 

Schließlich kann ein Fall noch vom Court of Appeal im Wege der weiteren Revision zum Supreme Court kommen, der mit 12 Richtern besetzt ist. Dort werden sowohl Straf- als auch Zivilsachen von mit 5 oder 7 Richtern besetzten Kammern auf Rechtsfehler untersucht. Bemerkenswert ist hier aus deutscher Sicht vor allem, dass die englischen Kollegen selbst auf diesem Niveau noch mit Fällen aus verschiedenen Rechtsgebieten befasst sind.

 

2. Die Richter

 

Die englische Strafjustiz ist vor allem durch ihre sehr ausgeprägte Laienbeteiligung gekennzeichnet. Die wesentliche Grundidee liegt nach wie vor darin, eine Klassenjustiz durch den typischerweise höhergestellten Berufsrichter zu vermeiden und den Straftäter stattdessen durch seinesgleichen beurteilen zu lassen („to be judged by one´s peers“). Das zweite, immer wieder angeführte Argument sind die Abstumpfungseffekte bei einem lange Jahre tätigen Strafrichter, die den Prozess und sein Ergebnis ungünstig beeinflussen könnten.

 

So sind die magistrates’ courts fast ausschließlich mit Laienrichtern, eben den magistrates, besetzt. Es handelt sich dabei um volljährige Personen unter 71 Jahren, die nach einem Verfahren, das unserer Schöffenauswahl ähnelt, bis zum Erreichen dieses Höchstalters ernannt werden. Dabei wird verstärkt darauf geachtet, dass verschiedene Altersstufen und gesellschaftliche Gruppen vertreten sind; gleichwohl scheint das durchschnittliche Alter eher etwas höher und die Beteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund eher etwas geringer zu sein – also ein vergleichbares Bild wie bei unseren Schöffen. Da das Amt eines magistrate in England großes Ansehen genießt, finden sich offenbar immer mehr als genügend Interessenten für diese meist langjährige Tätigkeit, obwohl sie lediglich mit einer Aufwandsentschädigung entgolten wird. In der Verhandlung werden sie mit „your worship“ (etwa: Euer Gnaden) angesprochen.

 

Die magistrates sitzen zu dritt in wechselnden Besetzungen und werden von einem legal advisor in rechtlichen Fragen beraten. Diese Rechtsberater sind ausgebildete Juristen und Angestellte des Gerichts, aber selbst keine Richter. Sie sind während der Verhandlung anwesend und geben der Kammer, bevor sie sich zur Beratung zurückzieht, im Gerichtssaal eine Einschätzung der Rechtslage; gegebenenfalls stehen sie auch für alle weiteren Rückfragen zur Verfügung. Die magistrates selbst werden in zahlreichen Kursen und Workshops für ihre Tätigkeit aus- und dann regelmäßig fortgebildet. Die meisten sitzen einen halben Tag pro Woche oder einen Tag alle zwei Wochen, was mitunter zu Schwierigkeiten mit dem Arbeitgeber führen kann. Dieser ist jedoch verpflichtet, den magistrate für seine Tätigkeit freizustellen.

 

Erstaunlich ist, dass die magistrates, die oft mehr als 20 Jahre in ihrem Amt tätig sind und verpflichtender Aus- und Fortbildung unterliegen, überhaupt noch als echte Laien angesehen werden. Denn auch bei ihnen dürften gewisse Lern-, aber auch Abstumpfungseffekte unvermeidlich sein und die magistrates mit der Zeit zum Teil des Systems Strafjustiz werden lassen. Ob sie der Umstand, dass sie keine umfassende juristische Ausbildung genossen haben, vor dieser Entwicklung schützen kann?

 

Zudem muss man sich vor Augen halten, dass mehr als 90% der Strafsachen in England und Wales von den magistrates´ courts entschieden werden. Das dürfte in Deutschland selbst den vehementesten Verfechter der Laienbeteiligung erstaunen.

 

Neben den Laienkammern ist an den magistrates´ courts meist auch ein district judge tätig. Dies ist ein Berufsrichter, dem besonders umfangreiche und komplexe Fälle, die für die Bearbeitung durch Laien weniger geeignet sind, als Einzelrichter zugewiesen werden. Etwas skurril in diesem Zusammenhang: Auch er wird in seiner Tätigkeit durch einen legal advisor unterstützt. Die Zahl der district judges ist in den letzten Jahren signifikant erhöht worden und sie werden von offizieller Seite als im Vergleich zu den Laienkammern besonders effektiv gepriesen. Dies sorgt gelegentlich für gewisse Spannungen mit den magistrates, die ihr seit 1361 bestehendes Amt eifersüchtig gegen die gefühlte Invasion der Berufsrichter verteidigen. Hinzu kommt, dass die bereits erwähnten Standortschließungen und -zusammenlegungen ohnehin erhebliche Unruhe unter den magistrates ausgelöst haben.

 

Die district judges haben eine weitere interessante Funktion: Sie besuchen regelmäßig die Justizvollzugsanstalten in ihrem Bereich, um dort über disziplinarische Verstöße innerhalb der Anstalt zu entscheiden, die unter der Schwelle der Strafbarkeit liegen. Der klassische Fall ist etwa der Besitz eines Mobiltelefons in der Anstalt. Auf meine Bemerkung, diese Aufgabe obliege in Deutschland dem Anstaltsleiter, reagierte der Kollege höchst überrascht und äußerte Zweifel, ob eine nichtrichterliche Entscheidung in diesen Fragen denn den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention entspreche. Dies bejahe zumindest die deutsche Rechtsprechung, war meine Entgegnung, und erst nach einigem Hin und Her wurde deutlich, worin der Unterschied begründet war: In England wird der Besitz eines Handys im Gefängnis mit etwa 15 bis 20 zusätzlichen Hafttagen geahndet, für deren Verbüßung die Vollstreckung der eigentlichen Strafhaft unterbrochen wird. In Deutschland werden solche Verstöße hingegen mit Sanktionen wie Taschengeldsperre, Fernsehverbot, Einzelhaft oder dem Verlust von erworbenen Privilegien geahndet.

 

Für die district judges gilt, was für Berufsrichter in England generell verlangt wird: Einstiegsvoraussetzung ist eine mindestens 10jährige, erfolgreiche Praxistätigkeit als Anwalt. Dann kann man sich für den Staatsdienst bewerben und wird im Erfolgsfall zunächst für mehrere Jahre als recorder verpflichtet. Während dieser Phase ist man teilzeitbeschäftigt, d.h. man ist noch in seiner alten Tätigkeit als Anwalt aktiv und arbeitet daneben regelmäßig als „Richter zur Anstellung“. Die recorder haben in aller Regel die 45 Jahre bereits überschritten und versuchen mit größter Anstrengung, ihren Anwaltsjob und die Teilzeitrichterei unter einen Hut zu bringen. Zudem bedeutet der Wechsel in die Justiz für die allermeisten einen erheblichen Einkommensverlust. So ist die erste Frage, die ein Neuankömmling beim Mittagessen im Crown Court gestellt bekommt: “Haben sie eine vernünftige Vergütungsabsprache mit Ihrer Kanzlei treffen können?“ Bis zur tatsächlichen Ernennung als Richter vergehen meist nochmals einige Jahre, so dass man in England nur höchst selten Richter unter 50 Jahren antrifft. Außerdem ist der Frauenanteil gemessen an den deutschen Verhältnissen eher gering. Am Supreme Court ist von 12 Richtern eine weiblich, am Court of Appeal sind von 37 Richtern 3 Frauen, am High Court von etwa 120 Richtern immerhin knapp 20 Frauen. Zwar ist vor einigen Monaten ein Bericht über die Zusammensetzung der englischen Justiz veröffentlicht worden, nach der etwa 19,4 % der englischen Richter Frauen sein sollen. Dies deckt sich jedoch weder mit den genannten Zahlen noch mit meinem persönlichen Eindruck von den Gerichten, die ich besucht habe. Auch die meisten englischen Kollegen fanden diesen angeblichen Anteil (englisch formuliert:) überraschend hoch. Jedenfalls wird nun von offizieller Seite betont, man habe dies als Problem erkannt und sei bemüht, den Anteil von Frauen und anderen unterrepräsentierten Gruppen zu erhöhen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass man als 41jährige Richterin in England eine eher exotische Erscheinung darstellt.

 

Die Richter am Crown Court werden circuit judges genannt und in der Verhandlung mit „your honour“ angesprochen. Auch sie blicken auf eine etwa 20jährige Berufserfahrung als Anwalt und eine mehrjährige Tätigkeit als recorder zurück und sind damit fast immer über 50. Ihr aus deutscher Sicht stattliches Jahresgehalt liegt bei 120.000 Pfund (nach derzeitigem Kurs etwa 134.000 €), was aber aus englischer Sicht trotzdem einen erheblichen finanziellen Rückschritt gegenüber dem deutlich besser bezahlten Anwaltsjob bedeutet. Andererseits gilt der Wechsel in den Richterstand immer noch als Ehre und Krönung einer erfolgreichen Anwaltskarriere, so dass die finanziellen Einbußen wohl durch das hohe Ansehen des Richterberufs und die günstigeren Arbeitsbedingungen aufgewogen werden. Im persönlichen Umgang entsteht der Eindruck großer sozialer Homogenität; man teilt den Werdegang von Privatschule, Internat und Studium an den sehr angesehenen Universitäten und ermöglicht auch den eigenen Kindern diesen Weg. Die Arbeitskleidung außerhalb des Gerichtssaals ist dunkler Anzug und Krawatte; auch die weiblichen Richter sind nahezu ausnahmslos schwarz/weiß, betont klassisch und ohne modische Accessoires gekleidet. Für etwaige Zweifelsfragen gibt es ein Handbuch über gutes richterliches Benehmen, das jeder Neuernannte zu Beginn seiner Tätigkeit von der Gerichtsverwaltung erhält.

 

Ausstattung und Unterbringung sind mit den deutschen Verhältnissen vergleichbar, in mancher Hinsicht besser. Die meisten Kollegen sind mit Dienst-Laptops ausgestattet, die auch zuhause benutzt werden können und Zugang zu den gängigen Datenbanken bieten. Daneben gibt es die wichtigsten Kommentare und Zeitschriften für jeden einzelnen Richter – letzteres soll gerade im Zuge der Kürzungen gestrichen werden. Bemerkenswert ist, dass jeder Richterarbeitsraum (chambers) mit einer eigenen Toilette ausgestattet ist. Dies liegt neben dem allgegenwärtigen Traditionsargument vermutlich vor allem in der Kleiderordnung begründet. Zur englischen Richterrobe gehört nämlich nicht ein normaler weißer Hemdkragen, sondern ein Vatermörderkragen sowie ein Bäffchen. Die meisten Kollegen tragen dementsprechend Hemden mit abknöpfbarem Kragen oder sie wechseln das Hemd vor der Verhandlung. Für die Damen gibt es hochgeschlossene weiße Kragen ohne Umschlag mit eingebautem Bäffchen und Klettverschluss hinten, die meist über einem Oberteil ohne Kragen getragen werden. So handelt es sich bei diesen Räumlichkeiten tatsächlich weniger um private Aborte als vielmehr um einen Raum für die Toilette im ursprünglichen Sinn, der den diskreten Ort für diese angesichts winziger Knöpfe und kurzer Strippen gelegentlich delikaten Umkleidevorgänge bietet.

 

Bestimmte Bereiche der strafrichterlichen Tätigkeit am Crown Court stehen nicht allen Richtern offen. Um Kapitalverbrechen, Sexualstraftaten oder Wirtschaftsstrafsachen bearbeiten zu dürfen, müssen sich die Richter bei den leitenden Richtern ihrer Gerichtsregion um ein entsprechendes ticket bewerben. Die Bewerbung setzt zwar ein gewisses Dienstalter voraus, ist aber nicht mit einer wie auch immer gearteten Evaluation verbunden. Der Antrag wird ohne jegliche Begründung angenommen oder abgelehnt. (Man fragt sich hier vielleicht, warum die circuit judges überhaupt Kapitalverbrechen bearbeiten dürfen, wo doch oben behauptet wurde, dies werde von den eigens anreisenden High Court judges erledigt. Die Erklärung liegt darin, dass nicht alle Kapitalverbrechen in die Zuständigkeit der High Court judges fallen. Vielmehr werden die Verfahren auf einer Skala von 1 bis 4 nach Schwierigkeit und Bedeutung bewertet und nur die obersten beiden Kategorien erfordern die Bearbeitung durch einen High Court judge.)

 

Die circuit judges sitzen in Strafsachen immer als Einzelrichter mit einer 12köpfigen jury. Dabei ist dem Richter die Verfahrensleitung zugewiesen und er entscheidet über Rechtsfragen und Strafzumessung, während den Geschworenen die Beweiswürdigung und die Entscheidung über die Schuldfrage obliegt. Die jurors werden nach dem Zufallsprinzip aus dem Wahlregister ausgewählt und sind gesetzlich verpflichtet, diese Funktion auszuüben. Es gibt keinerlei Geschlechter- oder Minderheitenquoten, so dass auch ein Vergewaltigungsfall von einer jury aus 12 Männern oder 12 Frauen entschieden werden kann. Was auf den ersten Blick vielleicht etwas überraschend anmutet, ist bei näherem Hinsehen nur konsequent: Die Idee hinter der jury ist, dass 12 Menschen vor dem Hintergrund ihres gesunden Menschenverstandes und ihrer Lebenserfahrung ein vernünftiges Urteil fällen werden. Die relativ große Gruppe soll dafür sorgen, dass der ein oder andere, der vielleicht doch in Vorurteilen oder anderen sachfremden Überlegungen befangen ist, mitgezogen wird. Würde man Quoten einführen, räumte man damit ein, dass man es für wahrscheinlich hält, dass Männer und Frauen oder Angehörige bestimmter Minderheiten ihr Urteil primär an der eigenen Zugehörigkeit zu dieser Gruppe und nicht am Ergebnis der Beweisaufnahme ausrichten. Ginge man davon tatsächlich aus, müsste man die juries ganz abschaffen. Auch im deutschen System gibt es ja – im Prinzip aus den gleichen Gründen – keine Vorgabe darüber, welches Geschlecht die Richter der für eine Vergewaltigung zuständigen Kammer haben müssen.

 

Die meisten Geschworenen wirken recht angespannt und hinsichtlich ihrer Auswahl wenig enthusiastisch. Der Angeklagte hat übrigens das Recht, bis zu drei Geschworene ohne Begründung abzulehnen. In der Praxis kommt dies aber – im Gegensatz zu den USA – offenbar so gut wie nie vor. Dementsprechend sind bei der Endauswahl und Vereidigung in aller Regel nur ein oder zwei Ersatzgeschworene dabei, die meistens unverrichteter Dinge wieder nach Hause geschickt werden. Bei der Auswahl wird allerdings sehr wohl darauf geachtet, dass die Geschworenen die Verfahrensbeteiligten nicht persönlich kennen.

 

Die High Court judges werden mit ihrer Ernennung in den Adelsstand erhoben und dementsprechend im Gerichtssaal mit „my Lord/Lady“ oder „your Lordship/Ladyship“ angesprochen. Sie rekrutieren sich bis auf seltene Ausnahmen nicht aus den unteren Instanzen, sondern direkt aus der Anwaltschaft. Das bedeutet in der Praxis, dass es für die circuit judges praktisch keine Aufstiegsmöglichkeiten gibt und die Sphäre des High Court unerreichbar bleibt. Hinzu kommt, dass die High Court judges mit einem Jahresgehalt von 175.000 Pfund (etwa 195.000 €) deutlich besser bezahlt werden, was gemeinsam mit der bereits beschriebenen Kontrollfunktion gegenüber den circuit courts für eine gewisse Spannung zwischen diesen beiden Gruppen sorgt. Natürlich kommen auch die High Court judges aus einer langjährigen, sehr erfolgreichen Anwaltstätigkeit und haben meist zuvor den Ehrentitel „Queen´s Counsel“ für besonders herausragende Anwälte erlangt. Diese Bezeichnung ist darauf zurückzuführen, dass ursprünglich nur diese besonders qualifizierten barrister die Krone (den Staat) vor Gericht vertreten durften. Was die Staatsanwaltschaft angeht, ist es heute leider eher umgekehrt: Der Crown Prosecution Service (CPS) hat zwar auch eigenes Fachpersonal für rechtliche Tätigkeiten, beauftragt aber freie Prozessanwälte für die Vertretung vor Gericht. Dabei fällt auf, dass bei der Auswahl offenbar mitunter mehr auf die hierfür anfallenden Kosten als auf die Qualität der geleisteten Arbeit geachtet wird. Dies ist besonders deswegen problematisch, weil im kontradiktorischen Strafverfahren, in dem die Dispositionsmaxime gilt und der Richter in erster Linie nur für die Sicherung der Waffengleichheit zwischen den Parteien verantwortlich ist, etwaige Defizite der Präsentation einer Partei nicht vom Richter aufgefangen werden können. Ist also der CPS schlecht vertreten, kommt es eben zum Freispruch, auch wenn vielleicht eine Verurteilung angezeigt gewesen wäre.

 

In einem krasseren Fall dieser Sorte verlor ein Kollege dann doch einmal in meinem Beisein die Geduld und fragte den Vertreter der Staatsanwaltschaft in Abwesenheit der jury sichtlich genervt, ob es nicht doch sinnvoll gewesen wäre, diesen und jenen Widerspruch in der Aussage des wichtigsten Zeugen der Verteidigung im Kreuzverhör deutlich herauszuarbeiten, woraufhin dieser kleinlaut die Fortsetzung des Kreuzverhörs beantragte. Der Verteidiger stand lediglich kurz auf, warf dem Richter einen verachtenden Blick zu, sagte „It´s not fair“ und nahm wieder Platz. Der Richter nickte nur beschämt: CPS-Antrag abgelehnt.

 

Der CPS ist sich des Problems offenbar bewusst und versucht seit neuestem, die Strafrichter zur Evaluation der für die Krone tätigen Prozessanwälte zu bewegen; diese sehen jedoch ihre Unabhängigkeit und das Prozessklima gefährdet und stehen diesem Ansinnen mehr als skeptisch gegenüber.

 

Der High Court und damit auch seine judges sind gemeinsam mit dem Court of Appeal in den Royal Courts of Justice in London untergebracht; ein fast schon sakraler, jedenfalls monumentaler Bau aus den 1870er Jahren, den der juristisch interessierte Londontourist zusammen mit den umliegenden Inns of Court und der Temple Church unbedingt besuchen sollte. Alles ist etwas altmodisch, aber sehr edel, viel dunkles Holz und handgemalte Namensschilder. Jedem Richter steht ein persönlicher clerk zur Verfügung, der ihm alle administrativen Aufgaben soweit wie möglich abnimmt und ihn auch auf die langen Reisen auf den circuit begleitet. Auch die clerks sind während dieser Zeit in den judge´s lodgings untergebracht und werden dort verpflegt; allerdings essen sie getrennt von den Richtern und fahren auch zweiter Klasse im Zug, während die judges erster Klasse reisen dürfen. Dies ist sozusagen die Kehrseite des großen Traditionsbewusstseins.

 

Die Lords and Ladies of Appeal und die Supreme Court judges rekrutieren sich in aller Regel aus dem Personal des High Court; seltener direkt aus der Anwaltschaft. Im Frühsommer 2011 ist ein berühmter barrister, Jonathan Sumption QC, zum Supreme Court judge berufen worden. Allerdings wurde seine Ernennung auf seinen eigenen Wunsch hin noch zurückgestellt, damit er in einem aktuellen Fall, in dem er den als Eigentümer des FC Chelsea bekannten Roman Abramovich gegen dessen Rivalen Boris Berezovsky im Streit um Anteile an der russischen Ölindustrie vertritt, seit Oktober 2011 vor Gericht auftreten kann. Von der hierfür fälligen Vergütung, deren genaue Höhe nicht bekannt ist, die aber auf mehrere Millionen Pfund geschätzt wird, dürfte sich auch nach dem Rückfall auf ein jährliches Gehalt von knapp 207.000 Pfund (etwa 235.000 €) noch ein annehmbarer Lebensstil finanzieren lassen. Die Entscheidung, diese aufschiebend bedingte Annahme der Ernennung in das höchste Richteramt und die damit verbundene Verzögerung zu akzeptieren, hat erhebliche Kritik an der Ernennungspraxis ausgelöst.

 

3. Das Verfahren

 

Der englische Strafprozess ist ziemlich komplex und vielgestaltig. Auch hier soll keine wissenschaftliche Aufbereitung aller Details, sondern eine Zusammenfassung persönlicher Eindrücke und Erfahrungen gegeben werden, die ich vor allem bei meinen wöchentlichen Besuchen am Crown Court sammeln konnte.

 

Die Vorbereitung der Hauptverhandlung unterscheidet sich erheblich von den deutschen Verhältnissen. Zunächst findet im Vorfeld der Hauptverhandlung immer ein plea and case management hearing (PCMH) statt. Bei dieser Gelegenheit kommen Staatsanwaltschaft, Verteidigung und natürlich der Angeklagte vor Gericht zusammen, um die prozessualen Aspekte des Tatvorwurfs zu erörtern. Zunächst muss der Angeklagte zum Tatvorwurf Stellung beziehen, indem er schuldig oder nicht schuldig plädiert. Da das englische Erkenntnisverfahren streng auf die Veri- oder Falsifizierung des Tatvorwurfs beschränkt ist, findet im Fall eines guilty plea gar kein Verfahren im eigentlichen Sinne mehr statt, sondern lediglich eine Strafzumessung durch den Richter. Gibt der Angeklagte an, nicht schuldig zu sein, erläutert die Staatsanwaltschaft, welches Verhalten angeklagt wird, während die Verteidigung mitteilen muss, mit welchen Argumenten und Beweismitteln sie die Unschuld des Angeklagten verteidigen wird. Dann wird meist erörtert, welche Beweismittel die Parteien der jeweils anderen zugänglich machen müssen; insbesondere wird oft darüber gestritten, ob Kranken- oder Jugendamtsakten der Verteidigung zugänglich gemacht werden müssen, wobei es einerseits um den Beweiswert der Dokumente und andererseits um datenschutzrechtliche Probleme gehen kann. Außerdem wird häufig die etwaige Notwendigkeit und die Auftragserteilung für Gutachten psychiatrischer oder anderer Art diskutiert. Schließlich wird gemeinsam abgeschätzt, wieviel Zeit der Prozess wohl in Anspruch nehmen wird, um eine effektive Terminierung zu ermöglichen. Zusammenfassend geht es also um all die Fragen, die im deutschen Strafprozess vor der Hauptverhandlung schriftlich oder telefonisch mit den Prozessvertretern erörtert und geklärt werden, soweit solche Probleme hier überhaupt auftreten. Die englische Strafjustiz hat demgegenüber eine deutlich stärkere mündliche Tradition und ist auch von einem sehr prononcierten Fairnessgedanken geprägt, so dass Kontakte zwischen dem Richter und nur einer der Parteien als hochproblematisch empfunden werden. Solche schriftlichen oder telefonischen Kontakte laufen immer über die Gerichtsverwaltung und werden dort minutiös dokumentiert. Alle Fragen mit Konfliktpotential werden mit allen Beteiligten in open court, also öffentlich erörtert, so dass der Hauptverhandlung meist nicht nur ein, sondern mehrere preliminary hearings vorangehen. Aus deutscher Sicht ist dabei bemerkenswert, dass diese vorbereitenden Termine mangels fester Zuständigkeitsregeln weder immer vom selben Richter noch von demjenigen Richter durchgeführt werden müssen, der dann hinterher auch die Hauptverhandlung leitet. Das zehrt erheblich am Charme und der Effektivität der an sich durchaus vernünftigen Idee, sich vor Beginn der eigentlichen Verhandlung einmal an einen Tisch zu setzen, um Vorfragen zu klären.

 

Die gesamte Terminierung und organisatorische Planung wird von der Gerichtsverwaltung erledigt. Insgesamt lässt sich in der englischen Strafjustiz eine starke Tendenz beobachten, den Richtern von allen nicht zwingend richterlichenTätigkeiten freizuhalten, damit er sich ganz seinen Kernaufgaben widmen kann. Jedes Gericht hat einen Listing Officer, der die Routinefälle auf die zur Verfügung stehenden Richter verteilt und die gesamte Terminierung und Planung erledigt. Da eigentlich das gesamte Verfahren mündlich ist, die tägliche Dekretur weitgehend auf die Verwaltung verlagert ist und auch keine Urteile zu schreiben sind, hat der englische Strafrichter außerhalb des gerade laufenden Prozesses nur wenig Aufgaben, mit denen er eventuell auftretende Lücken sinnvoll füllen kann. Deshalb kommt der effektiven und vorausschauenden Planung des Listing Officer ganz erhebliche Bedeutung zu. Er muss möglichst noch einige kleinere Fälle oder ermittlungsrichterliche Termine in petto haben, sonst kann es passieren, dass ein oder sogar mehrere Richter plötzlich nichts mehr zu tun haben. Besondere Probleme bereiten hier Verhandlungen, in deren Verlauf sich der Angeklagte plötzlich schuldig bekennt. Denn dann wird die Verhandlung umgehend beendet und in aller Regel ein Termin binnen Monatsfrist zur Verkündung eines Urteils festgesetzt. Dieses zeitliche Intervall ist dem Umstand geschuldet, dass im englischen Strafverfahren die Klärung der Schuldfrage und die Strafzumessung peinlichst voneinander getrennt werden. Alle Fakten, die nur letztere betreffen, werden in der eigentlichen Hauptverhandlung vollständig ausgeblendet. Daher wird den Parteien (erst) nach der Feststellung der Schuld Gelegenheit gegeben, Fakten und Beweismittel über strafschärfende oder -mildernde Umstände zusammen zu tragen und zu präsentieren. Der Parteivortag bleibt jedoch auf diese Fakten beschränkt; ein konkretes Strafmaß wird hierbei nicht gefordert. Daneben wird eigentlich immer ein pre-sentence report von der Bewährungshilfe angefordert, in dem diese die Lebensumstände des Verurteilten mitteilt und ihrerseits eine Empfehlung für eine sinnvolle und angemessene Strafe abgibt. Dies wird vor allem deshalb als sinnvoll angesehen, weil das Sanktioneninstrumentarium des englischen Strafrichters deutlich differenzierter als im deutschen Erwachsenenstrafrecht aussieht und eher an dasjenige des deutschen Jugendstrafrechts erinnert.

 

Bevor Ablauf und Besonderheiten der Hauptverhandlung beschrieben werden, noch kurz zur meistgestellten Frage kontinentaler Gesprächspartner: „Tragen die wirklich immer noch diese Perücken?“ – Indeed, they do. Allerdings nur noch in Strafsachen vom Crown Court aufwärts; im Zivilrecht wurden sie vor einigen Jahren abgeschafft. Dort wurde auch eine neue, dunkle Robe eingeführt, während die Strafrichterrobe mit fliederfarbenen Brustpassen und Ärmelenden sowie der weinroten Schärpe nach wie vor eher farbenfroh gestaltet ist.[2]

 

Wenn alle Beteiligten im Gerichtssaal versammelt sind, holt der usher, der Gerichtsdiener, den Richter in seinem Zimmer ab und geleitet ihn in den Saal. Bei seinem Eintreten erheben sich die Anwesenden, und Richter und Anwälte begrüßen sich durch eine wortlose Verbeugung. Das funktioniert deshalb besonders gut, weil die Sitzordnung sich von der hierzulande üblichen unterscheidet. Die Richterbank liegt etwas erhöht an der Kopfwand. Ihr gegenüber in der Mitte des Saales stehen Bänke und Rednerpulte für Staatsanwaltschaft und Verteidigung, die nebeneinander mit Blick auf die Richterbank angeordnet sind. Vor der Richterbank befindet sich auf halber Höhe eine weitere Bank, auf der mit Blick in den Saal ein Gerichtsdiener, ein Geschäftsstellenmitarbeiter und ein Urkundsbeamter sitzen. Letzterer bedient ein Aufnahmegerät, mit dem die Verhandlung akustisch vollständig aufgezeichnet wird. Rechts und links vor der Richterbank befinden sich der Zeugenstand und die Sitzreihen für die jury. Hinter den barristers, den mit Robe und Perücke gewandeten Prozessanwälten, sitzen die solicitors in Anzug oder Kostüm und ohne Kopfbedeckung. Sie haben den Prozessstoff recherchiert und aufbereitet, den Kontakt zum Mandanten hergestellt und gehalten sowie den Schriftverkehr erledigt – ihre Zuständigkeit umfasst eigentlich alles bis auf die Vertretung vor Gericht. Ganz am hinteren Ende des Gerichtssaals befindet sich der dock, die Anklagebank, auf der der Angeklagte, begleitet von einem Justizbediensteten sitzt. Dabei handelt es sich fast ausnahmslos um vergitterte oder mit Plexiglas abgetrennte Boxen, in denen die Angeklagten mit Blick in den Gerichtssaal sitzen. Bei ihnen befindet sich immer mindestens ein Justizbeamter zur Bewachung, obwohl die Anklagebox verschlossen ist. Die Geräusche aus dem Saal werden elektronisch in den dock übertragen, nicht aber die Geräusche von dort in den Saal. Dies führt dazu, dass im Zuge der Verhandlung eigentlich keinerlei soziale Interaktion zwischen Richter und Angeklagtem stattfindet. Letzterer kommt – abgesehen von der Bestätigung seiner Identität und dem Bestreiten (oder Eingestehen) seiner Schuld – nur zu Wort, soweit er im Zeugenstand aussagt. Der Richter spricht während der Verhandlung direkt nur mit den Geschworenen und den Prozessanwälten. Diese geben seine Fragen gegebenenfalls an die beratenden Anwälte oder den Angeklagten weiter; letztere dürfen aber ihrerseits den Richter nicht direkt ansprechen, sondern müssen die Information wieder über den barrister mitteilen lassen. Dies führt gelegentlich zu etwas skurrilen Situationen, wenn etwa der Richter fragt, ob denn der Angeklagte noch unter der alten Adresse wohne, der barrister entgegnet, er selbst habe diesbezüglich keine Kenntnis, ob Euer Ehren wünsche, dass er sich insoweit Weisung hole; Euer Ehren wünscht, der barrister dreht sich um und fragt flüsternd den solicitor, der dann aufsteht, zum dock geht und durch die Luftschlitze des Plexiglases mit dem Angeklagten tuschelt. Anschließend eilt der solicitor an seinen Platz zurück, flüstert mit dem barrister, der sich sodann zur Richterbank herumdreht, sich erhebt und verkündet: Ja, Euer Ehren, der Angeklagte wohnt immer noch dort. Das erinnert bisweilen an das Kinderspiel, das in Deutschland „Stille Post“ und in England „chinese whispers“ heißt.

 

Doch zurück zur Hauptverhandlung. Nach der wortlosen Begrüßungsverbeugung nehmen alle Platz bis auf den barrister, der die Anklage vertritt. Dieser stellt sich und seinen Kollegen von der Verteidigung kurz vor und weist auf etwaige organisatorische oder rechtliche Probleme hin, die vor dem Eintreten der jury zu klären sind. Da die Geschworenen ausschließlich über tatsächliche Fragen zu entscheiden haben, werden alle Erörterungen über rechtliche Fragen grundsätzlich in ihrer Abwesenheit geführt, um ihren unbefangenen Laienblick nicht zu beeinträchtigen. Im Anschluss stellt der Gerichtsdiener die Identität des Angeklagten fest und fragt, ob er sich hinsichtlich der einzelnen Anklagepunkte schuldig bekennt. Tut er dies nicht, wird die komplette Anklage verlesen. Anschließen werden die Geschworenen hereingeführt, namentlich aufgerufen und einzeln vereidigt. Es folgt eine detaillierte Belehrung des Richters über Pflichten und Aufgaben der Juroren. Nun ist das Gericht vollständig, die eigentliche Verhandlung kann beginnen.

 

Zunächst erläutert der Prozessvertreter der Staatsanwaltschaft der jury, was sich nach Meinung der Anklage zugetragen hat und durch welche Beweismittel dies verdeutlicht werden soll. Dann werden im Rahmen der Beweisaufnahme diese Beweismittel präsentiert und erläutert. Zeugen und Sachverständige werden zunächst durch die Staatsanwaltschaft befragt („examination in chief“), wobei keine Suggestivfragen erlaubt sind. Diese Vorgehensweise gleicht derjenigen, die man aus amerikanischen Gerichtsfilmen kennt; allerdings ruft der gegnerische Anwalt in England nicht ständig „Objection, your honour!“, sondern erhebt sich gegebenenfalls und erläutert nach Erteilung des Wortes durch den Richter, welche Formulierung moniert wird. In der Praxis kommt das eher selten vor, obwohl sich gelegentlich im Rahmen der Befragung durchaus Ungenauigkeiten einschleichen. Im Streitfall über einen bedeutsameren Punkt entscheidet der Richter durch Beschluss, wie genau gefragt werden darf. Für die dem Beschluss vorangehende rechtliche Erörterung mit den Prozessanwälten werden die Geschworenen aus dem Saal gebeten, da es sich um rechtliche Fragen handelt. Der Richter kann grundsätzlich auch aus eigener Initiative in die Befragung eingreifen, um unzulässige Fragen zu unterbinden oder nach einem Punkt zu fragen, der ihm wichtig erscheint. Er wird dies jedoch eher selten tun, da seine Funktion eigentlich in der Sicherung der Waffengleichheit zwischen den Parteien liegt. Nach meinen Beobachtungen wird ein englischer Kollege allenfalls eingreifen, um eine schwache Verteidigung durch entsprechende Nachfragen zu unterstützen; eine schwache Leistung der Anklage zu komplettieren, wird als problematisch empfunden. Die Geschworenen haben übrigens kein Fragerecht in der Verhandlung und können sich allenfalls schriftlich mit Fragen an den Richter wenden, der diese weitergibt, soweit er sie für relevant erachtet.

 

Nach der Vernehmung durch den Vertreter der Staatsanwaltschaft wird der Zeuge oder Sachverständige von der Verteidigung ins Kreuzverhör (cross examination) genommen. Dabei wird durch sehr suggestive Befragung versucht, die für die Verteidigung nachteiligen Angaben zu erschüttern. Abschließend darf der Anklagevertreter durch eine erneute Vernehmung des Zeugen versuchen, einen vom Verteidiger angerichteten etwaigen „Schaden“ zu begrenzen.

 

In dieser Art werden zunächst alle Beweismittel der Anklage abgearbeitet. Im Anschluss wendet sich dann der Verteidiger mit seiner Darstellung der Geschehnisse an die jury und präsentiert seine Beweismittel.

 

Im Rahmen der Beweisaufnahme fallen dem kontinentalen Beobachter verschiedene Dinge auf. Zum Einen erfährt der Unmittelbarkeitsgrundsatz gegenüber der deutschen Handhabung einige Einschränkungen. So können Vernehmungsprotokolle aus dem Ermittlungsverfahren vollständig oder auszugsweise verlesen werden. Sogar das persönliche Auftreten eines Zeugen kann so vollständig ersetzt werden, soweit sich die Parteien hierauf verständigen. Überhaupt können die Parteivertreter sich über Teile des Sachverhalts einigen, dies schriftlich niederlegen und so eine Beweisaufnahme über diese Fragen insgesamt obsolet machen. Die Geschworenen bekommen dann das entsprechende Schriftstück und werden angewiesen, diese Fakten als gegeben anzusehen. Weiter wird in der englischen Strafjustiz sehr reger Gebrauch von Videoübertragungen und anderen Schutzmaßnahmen für Zeugen gemacht. Alle Gerichtssäle, die ich gesehen habe, waren mit zwei fest installierten, sehr modernen Flachbildschirmen ausgerüstet, die zum Zeigen von filmischem Material, aber auch für Videolinks benutzt wurden. Dieser Rückgriff auf Videos von Erstaussagen oder Vernehmung eines Zeugen, der sich in einem anderen Raum befindet, wird vor allem, aber nicht nur bei Sexualstraftaten angewandt. Auch Anhörungen im Rahmen des Strafvollstreckungsverfahrens werden in aller Regel über Videolink mit dem Verurteilten durchgeführt, so dass dieser nicht ins Gericht gebracht werden muss, sondern im Vernehmungsraum der Justizvollzugsanstalt gehört werden kann. Als mildere Maßnahme gegenüber der Übertragung aus einem anderen Raum wird in der Hauptverhandlung häufig der Blickkontakt zwischen dem Angeklagtem und einem Zeugen während dessen Aussage durch einen Vorhang vor der Anklagebank oder Stellwänden vor dem Zeugenstand unterbunden. Für die Anordnung einer solchen Schutzmaßnahme reicht es in der Regel aus, dass der Zeuge angibt, durch den Blickkontakt in seiner Fähigkeit, umfassend und unbefangen Zeugnis abzulegen, eingeschränkt zu sein. Demgegenüber ist die englische Justiz äußerst zurückhaltend, die Öffentlichkeit von Teilen der Verhandlung auszuschließen. Dies ist nur unter sehr strengen Voraussetzungen möglich und stellt in der Praxis offenbar die ganz große Ausnahme dar.

 

Weitere Einschränkungen der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme ergeben sich aus dem Umstand, dass die Beweismittel die Geschworenen als Laien überzeugen sollen. So werden gelegentlich besonders drastische Fotos von Verletzungen bei Gewaltdelikten gar nicht in die Beweisaufnahme eingeführt oder durch schematische Darstellungen an einer computergenerierten Figur gezeigt, um die jury nicht übermäßig zu belasten. Da die Geschworenen ausschließlich über die Frage entscheiden, ob der defendant die angeklagte Straftat begangen hat, und die Strafzumessung allein dem Richter überlassen ist, dem alle Fakten und Beweismittel zugänglich sind, wird dieses Vorgehen für vertretbar gehalten. Schwierig wird die Faktenvermittlung an die jury auch dann, wenn es um sehr komplizierte technische oder medizinische Sachverhalte geht. Dann stößt die Aufnahmefähigkeit vieler Laien an Grenzen und das Resultat heißt oft: Freispruch.

 

Eine weitere Auffälligkeit des englischen Systems liegt in einem besonders strengen Verständnis der Unschuldsvermutung. In der Tradition des common law wurden den Geschworenen die Vorstrafen des Angeklagten in aller Regel nicht mitgeteilt, weil man fürchtete, diese Informationen könnten die Unvoreingenommenheit der jury beeinträchtigen. Zudem erachtete man die Kenntnis etwaiger Vorstrafen als für die Beantwortung der Schuldfrage in diesem konkreten Fall nicht relevant. Mit dem Criminal Justice Act von 2003 hat man die indizielle Bedeutung zumindest einschlägiger Vorstrafen anerkannt und traut den Geschworenen auch die korrekte Einordnung dieser Fakten zu, so dass nunmehr jedenfalls einschlägige Vorverurteilungen des Angeklagten in die Hauptverhandlung eingeführt werden können. Die Frage, ob auch etwaige weitere Einträge aus dem Strafregister oder weitere Hintergrundinformationen, die vergangenes Fehlverhalten des Angeklagten dokumentieren, in die Beweisaufnahme eingeführt werden dürfen, stellt nach meinen Erfahrungen den bei weitem häufigsten Streitpunkt im englischen Strafprozess dar. Häufig wird sehr hart darüber gerungen, ob solcher bad character evidence vor den Geschworenen ausgebreitet werden darf oder nicht. Soweit solche Fakten nicht irgendwie in direktem Zusammenhang mit der angeklagten Tat stehen, sind sie in der Regel nicht zulässig. Aber selbst wenn ein direkter Zusammenhang mit der Tat besteht, kann die Einführung solcher Tatsachen, die den Angeklagten in schlechtem Licht erscheinen lassen, ausgeschlossen werden.

 

Solches geschah beispielsweise kürzlich im Prozess um die Tötung von Joanna Yeates aus Bristol, der die englische Öffentlichkeit stark beschäftigt hat. Die junge Frau war kurz vor Weihnachten 2010 in ihrer Wohnung überfallen und erwürgt worden; die Leiche wurde am Weihnachtstag am Oberkörper entkleidet in einem Gebüsch an einer Landstraße gefunden. Die Frau trug ihre Jeanshose, ihr Pullover war hochgeschoben, eine Brust entblößt. Anzeichen für die Durchführung sexueller Handlungen waren nicht feststellbar. Nach zunächst schwierigen Ermittlungen wurden DNA-Spuren des Nachbarn des Opfers auf ihrer Brust gefunden. Der aus den Niederlanden stammende mutmaßliche Täter Vincent Tabak gab an, Yeates habe mit ihm geflirtet und er habe sie küssen wollen. Als sie geschrien habe, habe er sie gewürgt, um sie ruhig zu stellen. Hauptstreitpunkt im Prozess war die Frage, ob die Tötung aus einer sexuellen Motivation heraus erfolgte – dann kam eine Verurteilung wegen Mordes in Betracht – oder nicht – dann konnte lediglich wegen Totschlags verurteilt werden. Die Staatsanwaltschaft hatte anhand der Auswertung von Tabaks Computer ermittelt, dass dieser zahlreiche Hardcore-Pornos hatte, in denen Frauen zum Zweck sexueller Erregung gefesselt und gewürgt wurden. Insbesondere befand sich darunter das Bild einer dem Opfer sehr stark ähnelnden Frau, deren Hemd nach oben geschoben war, so dass es ihre Brust entblößte. Die Ermittlungen ergaben auch, dass Tabak, bevor er selbst in das Visier der Ermittler geriet, auf seinem Rechner die online-Berichterstattung über den Fall Yeates verfolgt und dabei mehrfach zwischen diesen Artikeln und pornographischem Material hin- und hergeschaltet hatte. Weiter hatte er bei verschiedenen Gelegenheiten in der Vergangenheit die Dienste von Prostituierten in Anspruch genommen. Der Richter lehnte den Antrag, dieses Material in die Verhandlung einzuführen, ab. Zur Begründung führte er aus, der Beweiswert der Unterlagen und Angaben sei so gering, dass er die enorme Gefahr der Vorverurteilung, die von dem Material ausgehe, nicht aufwiegen könne. Tabak wurde gleichwohl am 28.10.2011 wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt.

 

Übrigens kann die Verteidigung unter Umständen auch selbst die Möglichkeit eröffnen, weitere negative Fakten aus dem Vorleben des Angeklagten verwertbar zu machen, indem sie ihrerseits einen Zeugen mit bad character evidence angreift, um seine Glaubwürdigkeit zu erschüttern. Freilich geht die Verteidigung ein hohes Risiko ein, wenn sie dies unternimmt, ohne genau abschätzen zu können, welche unliebsamen Fakten über den Angeklagten auf diese Weise noch Verhandlungsstoff werden können.

 

Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum die englischen Kollegen äußerst überrascht reagieren, wenn sie erfahren, dass die Verlesung des Strafregisters des Angeklagten gleich zu Beginn der Verhandlung zum festen Repertoire des deutschen Strafprozesses gehört. Dies führt dazu, dass sich jenseits des Kanals hartnäckig das Vorurteil hält, im inquisitorischen Verfahren nehme man es mit der Unschuldsvermutung nicht so genau. Auch der Hinweis, dass das deutsche System dem Berufsrichter und den von ihm instruierten Schöffen zutraut, diese Fakten richtig einzuordnen und gleichwohl unvoreingenommen die Beweise für die Begehung der nun angeklagten Tat zu prüfen, wird als wenig überzeugend empfunden.

 

Dies hängt damit zusammen, dass das System der englischen Strafjustiz insgesamt von einem tiefen Misstrauen gegenüber dem Berufsrichter geprägt ist. Ursprünglich waren die Richter Statthalter des Königs, die das Recht nicht objektiv, sondern im Sinne der Krone interpretierten. So wurde es als großer Fortschritt empfunden, als im 14. Jahrhundert weite Teile der Rechtsprechung auf die lokalen justices of the peace oder magistrates übertragen wurden. Nun wurde man stärker von seinesgleichen beurteilt und durfte dabei auf etwas mehr Verständnis hoffen, als von der Londoner Zentralgewalt zu erwarten war. Dieser Gedanke liegt auch der Beurteilung von Straftaten durch die jury zugrunde, die zwar schon in der Magna Charta von 1215 erwähnt ist, sich aber erst im Lauf der Jahrhunderte zu der Institution entwickelt hat, die wir heute kennen. Bis heute bleibt das Vertrauen in Laienrichter als Schutz gegen eine willkürlich strafende Obrigkeit eine der tragenden Säulen des englischen Rechtsverständnisses. Die unterschiedliche Zuordnung des Berufsrichters wird auch daran deutlich, dass englische Urteile nicht etwa im Namen des Volkes, sondern bis heute im Namen der Krone ergehen. Selbst in vollem Bewusstsein der offensichtlichen Schwächen des jury-Prozesses erscheint es vielen englischen Kollegen höchst problematisch, dass ein oder mehrere Berufsrichter unterstützt von Laienrichtern über Schuld oder Unschuld eines Angeklagten entscheiden. Sie fürchten die Abkoppelung der Rechtsprechung vom allgemeinen Rechtsempfinden und die Entstehung einer Klassenjustiz. Dies ist vielleicht vor dem Hintergrund nachvollziehbar, dass der Berufsrichter in England nicht nur deutlich besser bezahlt wird, sondern auch eindeutig der oberen Schicht der recht stark auseinanderklaffenden britischen Gesellschaft angehört. Demgegenüber scheint die deutsche Richterschaft doch tiefer in der die deutsche Gesellschaft immer noch prägenden Mittelschicht verankert zu sein. Obwohl bei uns sicher häufig ein bildungsbürgerlicher Hintergrund gegeben sein dürfte, ist die Richterschaft in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten doch deutlich „bunter“ geworden. Sie bildet die Gesellschaft, der sie dient, zumindest besser ab als dies in England der Fall ist.

 

Der englische Traditionalismus erweist sich sicher in mancher Hinsicht als Hemmschuh, aber er zeigt auch sehr erfreuliche Seiten. So fällt dem deutschen Beobachter einer englischen Hauptverhandlung sofort der überaus höfliche und respektvolle Umgang der Prozessbeteiligten miteinander auf. Dies gilt sowohl für die Anwälte untereinander als auch für den Umgang mit dem Richter. Hier macht sich wohl bemerkbar, dass viele barrister nicht nur verteidigen, sondern auch gelegentlich die Staatsanwaltschaft vertreten, und umgekehrt; wahrscheinlich bedingt dieser Rollentausch größeres Verständnis für die andere Seite. Da auch die Richter selbst lange als Anwälte tätig gewesen sind, mag auch hier ein gemeinsamer Erfahrungshorizont die Kommunikation erleichtern. Vor allem kommt aber sicher auch zum Tragen, dass Höflichkeit und Respekt für andere in der englischen Kultur insgesamt einen höheren Stellenwert haben, als dies in Deutschland der Fall ist. Das bedeutet natürlich weder im noch außerhalb des Gerichtssaals, dass es keine Konflikte gäbe. Diese werden aber oft subtiler, weniger verletzend und nicht so persönlich ausgetragen. Angesichts dessen ist es gar nicht so einfach, einem englischen Kollegen das Phänomen der Konfliktverteidigung zu erklären – warum in aller Welt sollte sich ein zivilisierter und kompetenter Anwalt so verhalten? Auf den Hinweis, es werde versucht, einen revisiblen Fehler zu provozieren, folgt die verständnislose Entgegnung: Aber die nächste Instanz werde dies doch anhand der Akten deutlich erkennen können und sicherlich entsprechend zugunsten des Untergerichts bei der Entscheidungsfindung berücksichtigen ...?

 

Zurück zur Hauptverhandlung. Nach Abschluss der Beweisaufnahme folgen die Plädoyers der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung. Im Anschluss gibt der Richter sein summing up, eine Zusammenfassung der Beweisaufnahme für die Geschworenen. Dabei wird nochmals kleinteilig erläutert, dass ihnen die Beweiswürdigung obliegt, die Staatsanwaltschaft die Beweislast trägt und eine Verurteilung nur in Betracht kommt, wenn die Beweismittel die schuldhafte Begehung der Straftat durch den Angeklagten zur vollen Überzeugung der jury belegen können. Dann wird die gesamte Beweisaufnahme rekapituliert, jeweils das Ergebnis der einzelnen Beweismittel beschrieben und es werden die gegensätzlichen Interpretationen von Staatsanwaltschaft und Verteidigung mit den entsprechenden logischen Konsequenzen dargestellt. Wenn es ganz kompliziert wird, wird den Parteien aufgegeben, eine sogenannte route to verdict zu erstellen. Dabei handelt es sich um eine logische Abfolge von Fragen, deren Beantwortung die Geschworenen Schritt für Schritt zu einer technisch korrekten Entscheidungsfindung geleiten sollen. So wird beispielsweise erst die Frage nach der Täterschaft überhaupt, dann nach vorsätzlichem oder fahrlässigem Handeln aufgeworfen, um dann abgrenzende Fragen zu Mord oder Totschlag zu stellen. Der Richter gibt der jury in seiner Zusammenfassung jedenfalls die rechtlichen Voraussetzungen einer Verurteilung mit auf den Weg und formuliert die Fragen der Beweiswürdigung, die in der Beratung zu beantworten sind.

 

Diesem summing up kommt eine immense prozessuale Bedeutung zu. Denn im englischen Strafprozess gibt es keinerlei Urteilsbegründung; allenfalls werden einige Sätze zur Begründung des Strafmaßes formuliert, aber auch dies ist nicht zwingend notwendig. Das führt nicht nur zu einem völlig anderen Arbeitsalltag eines Strafrichters als demjenigen, den wir in Deutschland kennen – man schließe einmal kurz die Augen und stelle sich sein Berufsleben ohne das Verfassen von Urteilen vor. Vielmehr schränkt die fehlende Begründung auch die Möglichkeiten, das Urteil mit Rechtsmitteln anzugreifen, erheblich ein, weil eine inhaltliche Angriffsfläche fehlt. Deshalb setzt ein appeal oft bei der Zusammenfassung der Beweisaufnahme – sozusagen als Urteilssurrogat – an. Denn dort wird geschildert, welche Erwägungen die Geschworenen anzustellen haben, wenn sie technisch korrekt entscheiden. Ob sie sich dann tatsächlich an diese Regeln gehalten haben, lässt sich natürlich wegen des strengen Beratungsgeheimnisses nicht ermitteln. Also tut man einfach so, als sei dies gegeben, und sucht nach Fehlern im summing up. Dabei geht die Stoßrichtung oft, aber nicht immer in Richtung unzulässige Parteinahme durch den Richter. In Betracht kommen aber auch die fehlerhafte Nichterwähnung relevanter Beweismittel oder deren unzulängliche Würdigung. Angesichts der großen Bedeutung der Zusammenfassung der Beweisaufnahme legen die englischen Kollegen diese fast ausnahmslos zumindest dann schriftlich nieder, wenn die Beweisaufnahme einen gewissen Umfang hat. Da muss dann zwar vielleicht nicht jedes Wort so detailliert gewogen werden, wie es bei uns der BGH vorgibt, aber es nimmt schon einiges an Zeit und Energie in Anspruch.

Nach dem summing up werden die Geschworenen in die streng geheime Beratung der jury entlassen. Es gibt keine Vorgaben dafür, wie die Entscheidungsfindung abzulaufen hat, sieht man davon ab, dass ein Vormann oder Sprecher zu wählen ist, der das Ergebnis der Beratung im Gerichtssaal mitteilt. Während es früher offenbar üblich war, juries bis in die Nacht hinein „schmoren“ zu lassen, um eine Entscheidung herbeizuführen, werden die Geschworenen heute normalerweise gegen 16.30 Uhr nach Hause entlassen und gehen am nächsten Morgen um 10 Uhr zurück in die Beratung. Normalerweise wird eine einstimmige Entscheidung von der jury gefordert. Zeichnet sich jedoch nach mehreren Stunden ab, dass solche Einigkeit nicht erzielt werden kann, kann der Richter die Geschworenen darüber informieren, dass er auch ein Mehrheitsvotum von 11:1 oder maximal 10:2 akzeptieren würde. Dies kommt gelegentlich vor, so auch im bereits beschriebenen Prozess gegen Vincent Tabak in Bristol, der mit einem majority vote von 10:2 wegen Mordes verurteilt wurde.

 

In der modernen Informationsgesellschaft ist die erfolgreiche Arbeit mit juries nicht immer problemlos. So wird zwar schon immer ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das Urteil nur auf Basis der Informationen im Gerichtssaal zu fällen ist und Recherchen im Internet unzulässig sind; ob diese Anweisungen lückenlos befolgt werden erscheint jedoch zweifelhaft. Auch scheinen sich die Fälle zu häufen, in denen versucht wird, auf die Entscheidung einzelner Geschworener Einfluss zu nehmen. So wurde 2009 erstmals ein Strafprozess am Crown Court ohne Geschworene durchgeführt, nachdem zuvor drei juries wegen Bestechungsversuchen entlassen werden mussten. Im Juli 2011 kam es erneut zu einem Prozess, in dem eine Proberichterin (recorder) die Geschworenen nach versuchter Beeinflussung entließ und das Verfahren als Einzelrichterin mit einer Verurteilung beendete. Die Entscheidung wurde vom Court of Appeal bestätigt und nicht zur weiteren Überprüfung durch den Supreme Court zugelassen. Die gesetzliche Grundlage für eine solche Entscheidung durch den Einzelrichter wurde mit dem Criminal Justice Act von 2003 gelegt. Obwohl von dieser Möglichkeit nur in seltenen Extremfällen Gebrauch gemacht wird, ist sie in England nach wie vor hoch umstritten. Bemerkenswert erscheint auch, dass im Sommer 2011 erstmals eine Geschworene zu einer Gefängnisstrafe von 8 Monaten wegen Missachtung des Gerichts (contempt of court) verurteilt wurde, weil sie sich über Facebook mit einer bereits freigesprochenen Angeklagten in Verbindung gesetzt hatte, während sie noch als Geschworene im Verfahren gegen einen Mitangeklagten tätig war. Sie handelte offenbar aus Mitleid mit der Freigesprochenen, mit der sie sich verbunden fühlte. Dabei gab sie auch Informationen aus den Beratungen der Geschworenen preis, ohne allerdings eine Gegenleistung dafür zu fordern oder zu erwarten.

 

Gelingt es den Geschworenen nicht, zu einem einstimmigen oder mehrheitlichen Urteil von mindestens 10:2 zu gelangen, ist der Prozess gescheitert. In diesem Fall hat die Staatsanwaltschaft die Möglichkeit, einen zweiten Prozess anzustrengen. Führt auch dieser nicht zu einer gemeinsamen Entscheidung, kann kein neues Verfahren wegen dieser Tat gegen diesen Angeklagten eröffnet werden. Scheitert die Urteilsfindung im ersten Prozess, hat die Staatsanwaltschaft zu prüfen, ob die ihr zur Verfügung stehenden Beweise eine Verurteilung in einem zweiten Prozess wahrscheinlich erscheinen lassen. Daher wird gelegentlich auch auf eine erneute Anklageerhebung verzichtet.

 

Im Fall einer Verurteilung des Angeklagten durch die jury wird ein Termin zur Anhörung über die Strafzumessung und Urteilsverkündung binnen Monatsfrist festgesetzt. Weiter wird der bereits erwähnte pre-sentence report der Bewährungshilfe angefordert, der die konkreten Lebensverhältnisse des Verurteilten beschreibt und eine angemessene Strafe vorschlägt.

 

4. Die Strafzumessung

 

Auch der Prozess der Strafzumessung in der englischen Strafjustiz hält für den deutschen Beobachter einige Überraschungen bereit. Die vielleicht größte ist, dass der Richter (oder beim magistrate´s court das Richtergremium), der die Hauptverhandlung durchgeführt hat, nicht unbedingt auch das Strafmaß festsetzen muss. Während die Richter beim Crown Court zumindest bei den mittleren und schwereren Fällen normalerweise von der Möglichkeit Gebrauch machen, sich den sentence nach durchgeführter Hauptverhandlung persönlich vorzubehalten, ist es am magistrate´s court die Regel, dass eine Kammer die Verhandlung durchführt und eine andere das Strafmaß festsetzt. Das ist in organisatorischer Hinsicht dem Umstand geschuldet, dass die Laienrichter normalerweise nur einen halben Tag pro Woche sitzen und auch meist keine festen Tage haben, so dass es relativ schwierig ist, genau diese drei magistrates einen Monat später wieder zusammen zu bringen. Es hängt aber auch damit zusammen, dass das englische System stark darauf ausgerichtet ist, den richterlichen Entscheidungsspielraum bei der Strafzumessung so weit wie möglich zu beschneiden. So wird letztlich – überspitzt gesagt – die Auffassung vertreten, es gebe bei richtiger Beachtung der Vorgaben ohnehin nur eine angemessene Strafe, so dass es unerheblich sei, wer diese ausspreche. Gleichwohl führt diese Aufgabenteilung an den magistrate´s courts immer wieder zu erheblichen Problemen, denn die Laienrichter geben in der ersten Verfahrensphase oft Hinweise darauf, ob sie im vorliegenden Fall (schon) eine Freiheitsstrafe als angemessen ansehen oder (noch) nicht. In vielen Fällen weicht die später zur Entscheidung berufene Kammer dann aber von dieser Ankündigung, an die sie nicht gebunden ist, ab. Wenig überraschend fallen die Urteile der nicht mit der Hauptverhandlung befassten Spruchrichter offenbar fast immer härter aus als von den Verhandlungsleitern angekündigt.

 

Ein weiterer wichtiger Unterschied zur deutschen Praxis liegt darin, dass das englische System auch kurze Freiheitsstrafen unbeschränkt zulässt. So sind Gefängnisstrafen von einigen Wochen üblich und folglich die Gefängnisse brechend voll. Großbritannien ist das Land mit der höchsten Haftquote in Westeuropa. So waren 2009 in England und Wales von 100.000 Einwohnern 152,3 inhaftiert, während es in Deutschland 89,3 waren[3]. Inzwischen sind die Zahlen in England noch weiter gestiegen; derzeit befinden sich bei einer Gesamtbevölkerung von gut 62 Millionen etwa 87.500 Menschen in Haft[4]. Die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen bedeutet natürlich auch, dass Haftstrafen für Vergehen verhängt werden, die nach deutschen Maßstäben nur eine Geldstrafe rechtfertigen würden. Das aus meiner Sicht krasseste Beispiel einer solchen Divergenz ergab sich bei Gelegenheit einer Strafzumessungs-Fortbildung für magistrates, an der ich als Gast teilnehmen durfte. Dort wurden in acht Arbeitsgruppen echte Fälle besprochen und jeweils ein Strafmaß erarbeitet. Im Fall eines bisher unbestraften Mannes, der gemeinsam mit seiner Frau mehrere Haustiere vernachlässigt hatte, so dass eine Katze aufgrund von Unterernährung verendete, während die anderen Hunde und Katzen gerettet werden konnten, kamen alle acht Arbeitsgruppen auf Freiheitsstrafen von etwa 12 Wochen. Ohne Bewährung.

 

Grundsätzlich erfolgt die Strafzumessung anhand von Kriterien, die sich weitgehend mit den von der deutschen Rechtsordnung anerkannten decken. Allerdings gibt es sehr detaillierte, für jedes Delikt ausgearbeitete Richtlinien, nach denen die Strafhöhe zu bestimmen ist. Dabei ist der Fall zunächst nach bestimmten Kriterien in die Kategorien „leicht“ „mittel“ und „schwer“ einzuordnen. So wird beispielsweise bei Raub danach differenziert, ob es sich um einen Straßenraub oder den Überfall eines kleineren oder größeren Ladengeschäftes handelt, welches Maß an Drohung oder Gewalt eingesetzt und ob und welche Verletzungen dem Opfer zugefügt wurden. Für diese Kategorien werden jeweils ein Ausgangsstrafmaß und ein Strafrahmen angegeben. Dann wird ein Katalog von strafmildernden oder -schärfenden Kriterien aufgeführt, anhand derer das Strafmaß vom Ausgangspunkt nach oben oder unten verschoben wird. Zwar sind diese guidelines nicht verbindlich, sondern als Handreichung für die Berufs- und insbesondere die Laienrichter gedacht. Gleichwohl halten sich vor allem die magistrates oft so sklavisch an die Vorgaben, dass die Ergebnisse die Besonderheiten des konkreten Falles nicht immer hinreichend abbilden. Auch die Berufsrichter orientieren sich durchaus an ihnen und eine erhebliche Abweichung ist zwar möglich, erfordert aber einen deutlich erhöhten Begründungsaufwand. Die Richtlinien werden vom Sentencing Council erarbeitet. In dem Gremium, dem der oberste englische Richter, Lord Judge[5], vorsitzt, sind neben der Richterschaft auch die Wissenschaft, die Staatsanwaltschaft, die Bewährungshilfe, die Anwaltschaft, Organisationen des Opferschutzes und die Polizei vertreten. Die einzelnen Richtlinien werden immer wieder unter Einbeziehung der Erfahrungen aus der Praxis überarbeitet. Dabei wird versucht, alle denkbaren strafmildernden und -schärfenden Kriterien bezogen auf dieses Delikt einzuordnen. Einige Merkmale werden für die Bestimmung der groben Kategorie herangezogen, andere für die Feinjustierung innerhalb dieser Kategorien. Dieser Komplettansatz erscheint angesichts der unendlichen Spielarten der Realität ein sehr ehrgeiziges Unterfangen. Denn ein Kriterium wie „Effekt der Tat auf das Opfer“ wird tatsächlich in vielen Fällen im Rahmen der Feinjustierung berücksichtigt werden können; ist dieser Effekt jedoch besonders dramatisch, wird er an prominenterer Stelle einzuordnen sein, um eine angemessene Strafe zu finden. Wenn sich der Richter aber in vielen Fällen doch weitgehend von den Richtlinien lösen muss, um eine an die besonderen Umstände des Falles angepasste Strafe finden zu können, stellt sich letztlich die Frage, ob solche Vorgaben unter dem Strich nicht mehr schaden als nützen. Aus englischer Sicht steht hier vor allem wieder der Fairness-Gedanke im Vordergrund: Sehr ähnliche Taten sollen von allen Gerichten in allen Landesteilen möglichst gleich bewertet werden. Dem deutschen Beobachter ist´s angesichts der wie Abhaklisten gestalteten Kriterienkataloge etwas bang um die richterliche Unabhängigkeit und die sachgerechte Entscheidung im Einzelfall.

 

Ein weiteres Beispiel für den etwas mathematisch orientierten Ansatz der Strafzumessung stellt die strafmildernde Berücksichtigung eines Geständnisses dar. Bekennt sich der Angeklagte bereits im die Hauptverhandlung vorbereitenden plea and case management hearing schuldig, steht ihm eine Strafreduzierung von einem Drittel zu. Tut er dies erst zu Beginn oder im Verlauf der Hauptverhandlung, kann er nur noch mit einem reduzierten Nachlass von 20 bzw. 10 % rechnen. Im Zuge einer von der derzeitigen Regierung ursprünglich geplanten Justizreform, die vor allem das Ziel haben sollte, die stark überfüllten Gefängnisse zu entlasten und Kosten zu sparen, war sogar geplant, diesen early guilty plea discount auf 50 % zu erhöhen. Im Mai 2011 machte jedoch der Justizminister Ken Clarke in einem Interview zu diesem Thema recht unglückliche Bemerkungen über schwere und weniger schwere Vergewaltigungen, die ungeheure öffentliche Empörung vor allem unter Frauenrechtlerinnen auslösten. Diese Welle wurde so übermächtig, dass sie die gesamte Reform mit sich riss, denn der Premierminister sah sich genötigt, alle Kernpunkte des Projektes zurückzunehmen, um die Volksseele zu besänftigen. Während es um die Rücknahme des hälftigen Geständnisrabatts vielleicht letztlich nicht so schade war, wurden auch andere wichtige Punkte wie die Reduzierung der sehr teuren und für die Resozialisierung eher ineffektiven kurzen Freiheitsstrafen fallen gelassen. Stattdessen sollen die Strafgewalt der magistrate´s courts weiter erhöht, grundsätzlich Haftstrafen für das Mitführen von Messern im öffentlichen Raum und lebenslange Freiheitsstrafen für Wiederholungstäter bei bestimmten Gewalt- und Sexualdelikten eingeführt werden.

 

Das gegenwärtig bestehende System von möglichen Freiheitsstrafen in England und Wales ist recht kompliziert. Grundsätzlich wird eine Freiheitsstrafe als determinate sentence ausgesprochen, was im Prinzip unserer zeitigen Freiheitsstrafe entspricht. Allerdings gibt es in England eine regelhafte und voraussetzungslose Entlassung nach Verbüßung der Hälfte der verhängten Strafe. Für den Rest der verhängten Haftzeit wird der Verurteilte unter Bewährung gestellt; eine Ausnahme gilt für Haftstrafen bis zu einem Jahr, bei denen eine Entlassung zum Halbstrafenzeitpunkt ohne Strafaussetzung zur Bewährung erfolgt. Diese Abläufe sind gesetzlich vorgegeben und werden automatisch ausgelöst, ohne dass eine Evaluation durch ein richterliches Gremium erfolgt.

 

Das englische Sanktionensystem sieht die Strafaussetzung zur Bewährung als grundsätzlich auf die Dauer der verhängten Freiheitsstrafe beschränkt an. Der Richter kann aber, wenn er bei gefährlichen Straftätern eine längere Bewährungszeit für angezeigt hält, auch einen extended sentence verhängen. Dies kommt in Betracht bei einer zeitigen Freiheitsstrafe von mindestens vier Jahren, bei Wiederholungstätern ab einem Jahr. In diesem Fällen verbüßt der Täter wieder die Hälfte der verhängten Freiheitsstrafe und wird dann automatisch in eine maximal fünfjährige Bewährungszeit überführt.

 

Hinsichtlich der lebenslangen Freiheitsstrafe wird unterschieden zwischen einem mandatory life sentence und einem discretionary life sentence. Ersterer ist ein gesetzlich zwingend vorgegebenes „lebenslänglich“, das es derzeit nur für Mord gibt. Es ist allerdings geplant, diese Höchststrafe auch für Wiederholungstäter bestimmter besonders schwerer Delikte einzuführen; das Vorhaben wurde von Premierminister Cameron unter dem Slogan „Two strikes and you´re out“ vorgestellt. Beim mandatory life sentence legt der Richter eine Mindestverbüßungsdauer zwischen zwölf Jahren und einer tatsächlich lebenslangen Freiheitsstrafe (whole life sentence) fest. Dabei sind für bestimmte Konstellationen gesetzliche Ausgangspunkte für die Bemessung der Mindestverbüßungszeit normiert. So liegt beispielsweise der starting point für einen Mord an einem Justizvollzugsbediensteten im Dienst, einen Mord durch eine Schusswaffe oder aus sexueller oder sadistischer Motivation heraus bei 30 Jahren Mindestverbüßungsdauer. Dies kann dann durch weitere strafschärfende oder -mildernde Umstände nach oben oder unten verschoben werden. Nach Ende der Mindesthaftdauer entscheidet der parole board darüber, ob der Verurteilte auf Bewährung entlassen werden kann. Dieser Bewährungsrat nimmt die Funktion unserer Strafvollstreckungskammern wahr und ist als unabhängige Institution organisiert, in der aktive oder ehemalige Richter, Laien, Psychiater, Psychologen und Bewährungshelfer zusammenwirken. Beim mandatory life sentence dauert die Bewährungszeit übrigens bis zum Tod des Verurteilten; es gibt keine Möglichkeit, die Strafaussetzung abzuschließen.

 

Beim discretionary life sentence handelt es sich um eine lebenslängliche Freiheitsstrafe für ein Delikt, das nach dem Gesetz auch mit zeitiger Freiheitsstrafe geahndet werden kann. Auch hier setzt der Richter eine Mindestverbüßungsdauer fest, nach der der parole board eine Strafaussetzung zur Bewährung anordnen kann. Bei dieser Form der Freiheitsstrafe ist es auch möglich, die Bewährungszeit irgendwann zu beenden.

 

Neben dem mandatory life sentence gibt es noch andere gesetzliche Mindeststrafen. So ist beispielsweise ein dritter Fall von Handeln mit harten Drogen mit einer Mindeststrafe von 7 Jahren oder der dritte Wohnungseinbruch mit mindestens 3 Jahren zu ahnden. Der Richter kann nur unter sehr strengen Voraussetzungen eine unter diesen mandatory sentences liegende Strafe verhängen. Derzeit ist geplant, auch diese gesetzlich festgelegten Mindeststrafen auf weitere Delikte auszuweiten.

 

Schließlich gibt es noch die indeterminate sentences, ein Institut, das entfernt unserer Sicherungsverwahrung ähnelt. Diese zeitlich unbegrenzten Strafen dienen dem Ziel, die Öffentlichkeit vor besonders gefährlichen Straftätern zu schützen. Sie setzen die wiederholte Begehung einer schweren Gewalt- oder Sexualstraftat sowie die besondere Gefährlichkeit des Täters für die Gesellschaft voraus. Im Rahmen der Strafzumessung wird zunächst eine angemessene zeitige Freiheitsstrafe für die begangene Tat ermittelt. Nach Verbüßung der Hälfte dieses Zeitraums entscheidet der parole board, ob die Gefährlichkeit fortbesteht oder durch Resozialisierungsmaßnahmen beseitigt werden konnte. Ist dies der Fall, wird der Verurteilte bedingt entlassen; die Bewährung kann nach 10 Jahren ohne erneute Straftaten aufgehoben werden. Die britische Regierung plant, diese indeterminate sentences deutlich zu reduzieren und durch härtere zeitige Freiheitsstrafen zu ersetzen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass das Angebot an Resozialisierungsmaßnahmen in vielen englischen Justizvollzugsanstalten angesichts leerer Kassen und drangvoller Enge so gering ist, dass die Verurteilten meist keine realistische Möglichkeit haben, die Überwindung ihrer Gefährlichkeit aus der Haft heraus nachzuweisen. Mit ganz ähnlich gelagerten Argumenten hatten ja auch vor kurzem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und das Bundesverfassungsgericht die deutsche Regelung über die Sicherungsverwahrung für konventions- und verfassungswidrig erklärt.

 

Bei der Gelegenheit kann übrigens noch ein wichtiger Grund für die ausgeprägte Europa-Skepsis der Engländer benannt werden. Nach ihrem Rechtsverständnis ist das Parlament die unumstritten höchste Instanz und es ist völlig systemwidrig, dass ein Gericht ein ordnungsgemäß zustande gekommenes Gesetz für rechtswidrig oder gar nichtig erklären kann. Insbesondere dieser Aspekt der europäischen Zentralgewalt wird als Anmaßung und Übergriff auf ein gewachsenes und bewährtes Rechtssystem empfunden.

 

5. Schluss

 

Was lässt sich nun vom Blick hinter die Kulissen der englischen Strafjustiz lernen? Fairness und absolute Transparenz im Umgang zwischen den Prozessbeteiligten gehören sicher dazu, aber auch die identitätsbildende Kraft von Traditionen, die sich jedoch bisweilen auch als Fortschrittshindernisse erweisen können. Eindrucksvoll ist die hohe fachliche Kompetenz und intellektuelle Schärfe der englischen Kollegen, von denen viele bis in die obersten Instanzen mehrere völlig verschiedene Rechtsgebiete nebeneinander bearbeiten. Die Konfrontation mit einem in vieler Hinsicht sehr unterschiedlichen Rechtsempfinden zwingt den Beobachter, auch die Vorgaben seiner eigenen Rechtskultur zu hinterfragen und zu analysieren. Das ist bisweilen anstrengend, bringt aber auch manch interessante Einsicht mit sich. Und siehe: Man kann viele rechtliche Probleme auch ganz anders lösen, als wir es tun, und trotzdem zu überzeugenden Ergebnissen gelangen.

 

Nicole Dietrich


 

[1] Mein besonderer Dank gilt Mr. Justice Paul Walker vom High Court of England and Wales, Lord Justice Nigel Davis vom Court of Appeal of England and Wales, Judge Patrick Eccles QC vom Oxford Crown Court, vor allem aber Judge Anthony King, der ebenfalls dort tätig ist. Seine Freundlichkeit, Geduld, Großzügigkeit und Sachkenntnis haben mir den Einblick in die englische Rechtswelt eröffnet.

[2] Wer sich für weitere Details interessiert, kann sich unter www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/judges-magistrates-and-tribunal-judges/court-dress genauer informieren und Abbildungen der Roben ansehen.

[3] Quelle: Council of Europe Annual Penal Statistics -SPACE I - 2009

[4] Quelle: Prison Population Statistics des House of Commons vom 04.10.2011

[5] Igor Judge hat seit 2008 das Amt des Lord Chief Justice of England and Wales inne.