(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 3/11, 5) < home RiV >

Der Staatsanwalt zwischen Weisungsgebundenheit und Eigenverantwortung

Insbesondere jüngere Kollegen, aber auch erfahrene Dezernenten[1] bei der Staatsanwaltschaft fragen sich angesichts der hierarchischen Struktur ihrer Behörde in letzter Zeit häufiger, ob die in § 146 GVG geregelte Weisungsgebundenheit gegenüber dienstlichen Anordnungen ihrer Vorgesetzten ausnahmslos gilt oder Einschränkungen unterliegt. Während die Kollegen aus der Richterschaft gem. Art. 97 Abs. 1 GG unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sind, heißt es im Gerichtsverfassungsgesetz recht nüchtern, dass die Beamten der Staatsanwaltschaft den dienstlichen Anweisungen ihres Vorgesetzten nachzukommen haben (§ 146) und dem ersten Beamten der Staatsanwaltschaft bei den Oberlandesgerichten und den Landgerichten hinsichtlich aller Beamten der Staatsanwaltschaft ihres Bezirks das Recht der Aufsicht und Leitung zusteht 147 Nr. 3).

 

Bei näherer Betrachtung zeigt sich indes, dass auf dem Gebiet der Strafrechtspflege auch dem untergebenen Staatsanwalt faktisch wie rechtlich eine derart dem Richteramt ähnelnde Position zukommt, dass diese das Weisungsrecht des Vorgesetzten in nicht unerheblicher Weise limitiert.

 

Faktisch ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Staatsanwälte ebenso wie ihre rechtsprechenden Kollegen im Eingangsamt eine identische Besoldung erfahren und juristisch über eine ebenbürtige Qualifikation verfügen; für beide Berufe werden in aller Regel zwei Prädikatsexamina benötigt. Auch ist beiden Berufsangehörigen gemein, dass ihnen ein Mitglied der Geschäftsstelle als „rechte Hand“ zugeordnet ist, welches ihren Verfügungen Beachtung zu schenken hat.

 

Weit bedeutsamer sind jedoch die im Gerichtsverfassungsgesetz und vor allem in der Strafprozessordnung enthaltenen rechtlichen Regelungen, die die starke Stellung des Staatsanwalts verdeutlichen. Während § 144 GVG bestimmt, dass der Staatsanwalt zu allen Amtsverrichtungen seines Behördenleiters ohne den Nachweis eines besonderen Auftrags berechtigt ist, seine Vertretungsmacht nach außen mithin nicht beschränkt werden kann[2], sticht in der StPO § 151 ins Auge, wonach die Eröffnung einer gerichtlichen Untersuchung durch die Erhebung einer Klage bedingt ist. Ganz offenbar kann also die rechtskräftige Verurteilung eines Straftäters in unserem rechtsstaatlich verfassten Gemeinwesen nur dann erreicht werden, wenn durch Anklageerhebung sowie Eröffnung des Hauptverfahrens, dessen Kernstück die Hauptverhandlung ist, Gericht und Staatsanwaltschaft als zwei voneinander unabhängige Institutionen der Strafjustiz ein bestimmtes Verhalten des Beschuldigten übereinstimmend für nachweisbar und strafbar erachten; dabei ist beiden Entscheidungen mit dem sog. „hinreichenden Tatverdacht“ im Sinne einer Verurteilungswahrscheinlichkeit derselbe Prüfungsmaßstab zugrunde zu legen. Demgemäß ist die Staatsanwaltschaft ein dem Gericht gleichgeordnetes Organ der Strafrechtspflege[3] und erfüllt gemeinsam mit diesem die Aufgabe der Justizgewährung[4]. Unschwer zeigt ein weiterer Blick ins Gesetz, dass es sich bei diesen höchstrichterlichen Ausführungen nicht nur um hohle Phrasen handelt.

 

Vor einer etwaigen Anklageerhebung leitet nämlich der Staatsanwalt das Ermittlungsverfahren und erforscht zu seiner Entschließung darüber, ob die öffentliche Klage zu erheben ist, den Sachverhalt (§ 160 Abs. 1 StPO). Dabei bedient er sich eines umfangreichen Polizeiapparats, der verpflichtet ist, seinem Ersuchen oder Auftrag zu genügen (§ 161 Abs. 1 Satz 2 StPO). Er kann Zwangsmaßnahmen gegen den Beschuldigten wie beispielsweise die Untersuchungshaft, eine Wohnungsdurchsuchung oder die Entnahme einer Blutprobe beim zuständigen Ermittlungsrichter beantragen und im Falle der Ablehnung durch das ihm nach § 304 Abs. 1 StPO zustehende Recht der Beschwerde eventuell durchsetzen. Im besonders sensiblen Bereich der Untersuchungshaft steht ihm vor Erhebung der öffentlichen Klage gem. § 120 Abs. 3 StPO sogar die Befugnis zu, auch gegen den Willen des Haftrichters (!) durch entsprechenden Antrag die Aufhebung des Haftbefehls zu erzwingen.

 

Zusammenfassend lässt sich für das Ermittlungsverfahren mit den Worten des BGH sagen, dass die Staatsanwaltschaft für dessen rechtsstaatliche, faire und ordnungsgemäße Durchführung die Gesamtverantwortung trägt[5].

 

Aber nicht nur im Ermittlungsverfahren, sondern im Fall der Anklageerhebung auch nach dessen Abschluss stehen dem Staatsanwalt unbeschadet der Abgabe der Verfahrensherrschaft an das Gericht im Zwischen- und Hauptverfahren umfangreiche Befugnisse zu. So kann er im Fall der Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens durch das Gericht dessen Entscheidung durch sofortige Beschwerde nach § 210 Abs. 2 StPO anfechten und die Zulassung seiner Anklage zur Hauptverhandlung erreichen, falls das Beschwerdegericht seine Auffassung zum Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts teilt. Beantragt er die Bestellung eines Verteidigers, hat der Vorsitzende des Gerichts dem nach § 141 Abs. 3 Satz 3 StPO selbst dann nachzukommen, falls er die rechtlichen Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 1 und 2 StPO für nicht gegeben hält.

 

Insbesondere aber in der jeder Verkündung eines Strafurteils vorausgehenden Hauptverhandlung verfügt der Staatsanwalt über zahlreiche Möglichkeiten, auf die Entscheidung des erkennenden Gerichts Einfluss zu nehmen. Durch geschickte Ausübung seines Rechts nach § 240 Abs. 2 Satz 1 StPO, Fragen an den Angeklagten, die Zeugen und die Sachverständigen zu stellen, die Stellung von Beweisanträgen, die nur unter den engen Voraussetzungen des § 244 Abs. 3-5 StPO abgelehnt werden können, und die Möglichkeit, auf die Zurückweisung ungeeigneter oder nicht zur Sache gehörender Fragen der Verteidigung hinzuwirken (§ 241 Abs. 2 StPO), vermag der in der Hauptverhandlung amtierende Dezernent an der Gestaltung der Beweisaufnahme mitzuwirken. Nach deren Abschluss erhält er gem. § 258 Abs. 1 StPO zu seinem Schlussvortrag das Wort und kann durch überzeugende Ausführungen zur Beweiswürdigung und Strafzumessung mit maßgeblich ebenso zu einer Verurteilung und deren Höhe wie auch zu einem Freispruch beitragen. Den Freispruch kann er durch alleinigen Rechtsmittelverzicht, die Verurteilung bei solchem auch des Angeklagten der Rechtskraft zuführen und dadurch vollendete Tatsachen schaffen.

 

Alle bisher aufgelisteten Kompetenzen stehen indes nicht im luftleeren Raum. Sie begründen ein hohes Maß an Eigenverantwortung, die der Staatsanwalt unter strikter Beachtung des Legalitätsprinzips und seiner Aufgabe, gemeinsam mit dem Gericht die Justizgewährung sicherzustellen, auszuüben hat. In diesem Bereich hat er einerseits sich aufdrängende Ermittlungen durchzuführen und bei Bejahung eines hinreichenden Tatverdachts Anklage zu erheben, andererseits das Verfahren bei Verneinung eines entsprechenden Verdachts nach § 170 Abs. 2 StPO einzustellen. Unterlaufen ihm dabei Fehler, läuft er schlimmstenfalls Gefahr, wegen Strafvereitelung im Amt 258a StGB) bzw. Rechtsbeugung oder gar Verfolgung Unschuldiger (§§ 339, 344 StGB) belangt zu werden.

 

Mit einer solch hohen Verantwortung des Staatsanwalts sowohl der Justizgewährung als auch sich selbst gegenüber verträgt sich das Weisungsrecht des Vorgesetzten in etlichen Fällen nicht. So liegt es auf der Hand, dass ein Dezernent, der nach gewissenhafter Bearbeitung eines Ermittlungsverfahrens dessen Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO mangels hinreichenden Tatverdachts für angezeigt hält, ebenso wenig zu einer Anklage angewiesen werden kann wie im umgekehrten Fall zu einer Einstellung, wenn er die Wahrscheinlichkeit der Verurteilung für gegeben erachtet, und die jeweils andere Entscheidung für unvertretbar hält. Denn das Risiko einer Strafverfolgung kann der Vorgesetzte ihm durch eine derartige Weisung nicht abnehmen[6]. Wohl aber kann er den Konflikt dadurch lösen, dass er in derartigen Fällen auf eine Weisung verzichtet und von seinen in § 145 Abs. 1 GVG geregelten Befugnissen der Substitution oder Devolution Gebrauch macht, mithin entweder einen seine Rechtsüberzeugung teilenden Staatsanwalt mit der Wahrnehmung der von ihm gewünschten Amtsverrichtung beauftragt oder aber die strittige Amtshandlung in eigener, ungeteilter Verantwortung selbst vornimmt, falls er seinen Rechtsstandpunkt exklusiv vertritt.

 

Aber auch außerhalb des Bereichs des Legalitätsprinzips ist solchen Weisungen die rechtliche Anerkennung zu versagen, die strafprozessualen Grundsätzen erkennbar zuwiderlaufen. Dies gilt insbesondere für den in der Hauptverhandlung als Sitzungsvertreter amtierenden Staatsanwalt, dem die Aufgabe zukommt, über das Ergebnis der Beweisaufnahme in seinem Schlussvortrag zu befinden[7]. § 261 StPO bestimmt in diesem Zusammenhang unmissverständlich, dass das Gericht über dieses nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung entscheidet. Nichts anderes gilt in der Regel für den Staatsanwalt. Abgesehen von den bedauerlichen und seltenen Fällen, in denen er aus wichtigem dienstlichen oder persönlichen Grund einen Fortsetzungstermin nicht wahrnehmen kann und deshalb von einem Kollegen vertreten wird, verschafft auch er sich über den Aussageinhalt hinaus einen für die Beweiswürdigung äußerst bedeutsamen persönlichen Eindruck von dem Angeklagten und den Zeugen, kann ihre Körpersprache analysieren, feststellen, ob Fragen spontan oder erst nach längerem Nachdenken beantwortet werden, Einlassungen und Bekundungen detailliert oder substanzarm sind.

 

Ebenso wie die Beweiswürdigung entzieht sich auch die auf Grundlage des § 46 StGB vorzunehmende Strafzumessung jeder schematischen Betrachtung eines Vorgesetzten von außen. Nur der als Sitzungsvertreter amtierende Staatsanwalt ist etwa bei einer Gewalttat in der Lage, die physische, vor allem aber psychische Befindlichkeit des zeugenschaftlich vernommenen Opfers als „verschuldete Auswirkung der Tat“ i.S.d. § 46 Abs. 2 StGB zutreffend einzuschätzen. Nur er kann sich ein Urteil darüber bilden, ob das Geständnis des Angeklagten lediglich die Beweisaufnahme in relevanter Weise verkürzt oder darüber hinaus von Einsicht in das begangene Unrecht getragen ist. Nur er vermag eine Gebrechlichkeit des Angeklagten als für dessen Strafempfindlichkeit bedeutsames Kriterium in ihrem Ausmaß zu gewichten oder dessen Entschuldigung beim Opfer als gespielt zu entlarven. Die Reihe dieser Beispiele ließe sich noch fortsetzen, doch dürfte bereits jetzt hinreichend deutlich geworden sein, dass es die ureigene Aufgabe des Sitzungsvertreters ist, die anzustellenden Strafzumessungserwägungen mit seinem persönlichen Eindruck von der Hauptverhandlung in Einklang zu bringen und auf dieser Grundlage bei dem erkennenden Gericht die von ihm als gerecht erachtete Strafe zu beantragen. Ob es sich dabei um eine Verwarnung mit Strafvorbehalt, eine Geldstrafe oder eine noch zur Bewährung auszusetzende oder schon zu vollstreckende Freiheitsstrafe handelt, ist Gegenstand seiner gewissenhaften tatsächlichen und rechtlichen Prüfung. Jeglicher Weisung hierzu hat der Vorgesetzte sich zu enthalten, denn er schöpft seine Überzeugung gerade nicht aus dem „Inbegriff der Verhandlung“.

 

Wenn ihm eine antragsgemäße Entscheidung des Gerichts nicht behagt, bleibt es ihm unbenommen, dagegen ein Rechtsmittel einzulegen oder zu einem solchen anzuweisen. Nicht angängig ist es jedoch, nach einer solchen Entscheidung dem in der Hauptverhandlung amtierenden Staatsanwalt unter vermeintlicher Wahrung dessen Entscheidungsfreiheit mit Repressalien jedweder Art zu begegnen. Solche entfalten eine erhebliche Signalwirkung, da sie die Gefahr begründen, dass insbesondere jüngere, noch nicht auf Lebenszeit verbeamtete Staatsanwälte ihren Schlussvortrag nicht auf Grundlage ihrer aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung halten, sondern daran ausrichten, was an höherer Stelle Beifall findet. Es darf bezweifelt werden, dass diese Kollegen, die ihrem eigenen Judiz nicht vertrauen dürfen, mit steigender Diensterfahrung dasjenige Selbstbewusstsein heranbilden und diejenige Souveränität an den Tag legen, die benötigt werden, um eines Tages einem versierten Konfliktverteidiger in einem Großverfahren die Stirn zu bieten.

 

Aber auch bei erfahrenen und bereits auf Lebenszeit verbeamteten Staatsanwälten, die sich ein berufliches Fortkommen erhoffen, besteht die Gefahr, dass sie sich durch derlei Gebaren veranlasst sehen, die bislang in der Hauptverhandlung eigenverantwortlich getroffenen Entscheidungen künftig in Frage zu stellen.

 

Der Vorgesetzte tut daher gut daran, die bereits dem geltenden Recht zu entnehmende Unabhängigkeit des Staatsanwalts hinsichtlich seines Schlussvortrags in der Hauptverhandlung unangetastet sein zu lassen, sollen nicht sinkende Motivation seiner Bediensteten in ohnehin schon schwierigen Zeiten (Stellenabbau, Weihnachtsgeldkürzung etc.) und die Verstrickung in unerfreuliche Grabenkämpfe mit Weisungen auf der einen und dagegen erfolgende Remonstrationen auf der anderen Seite die Folge sein. Solche zeitraubenden Geschehnisse wären der Arbeitsfreude der Staatsanwälte und einer zügigen und effizienten Strafverfolgung in hohem Maße abträglich.

 

Von den angesprochenen Konstellationen abgesehen, sind Weisungen insbesondere im Rahmen des Opportunitätsprinzips (§§ 153 ff. StPO), welches die Verfolgung einer Straftat wegen absoluter oder relativer Geringfügigkeit in das pflichtgemäße Ermessen des Staatsanwalts stellt, zulässig, solange sie sich vom Zweck der Ermächtigung leiten lassen, mithin den Rechtswillen und nicht den politischen Machtwillen des Staates zu verwirklichen suchen[8] und der Wahrung des Gleichheitssatzes aus Art. 3 GG dienen.

 

David Brezinsky


 

[1] Gemeint ist mit diesen Begriffen und allen folgenden männlichen Substantiven auch immer die weibliche Form.

[2] Meyer-Goßner, Strafprozessordnung mit GVG und Nebengesetzten, 53. Aufl. 2010, § 144 GVG, Rn. 2 ; Schmid/ Schoreit in Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2008, § 144 GVG, Rn. 3

[3] BGHSt 24, 171

[4] BVerfGE 9, 228

[5] BGH NJW 2009, 2612

[6] Meyer-Goßner, a.a.O., § 146 GVG, Rn. 7

[7] Meyer-Goßner, a.a.O. , § 146 GVG, Rn. 4; Schmid/Schoreit a.a.O., § 146 GVG, Rn. 8 ; Schoreit ebenda § 258 StPO, Rn. 11

[8] Meyer-Goßner a.a.O., § 146 GVG, Rn. 5