(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/10, 7) < home RiV >

Kirsten Heisig – ein Nachtrag

 

1.  Im letzten Mitteilungsblatt[1] hatte ich angemerkt: „…Gegen die behördliche Version, die Richterin habe selbst Hand an sich gelegt, werden Zweifel laut, über deren Stichhaltigkeit sich einstweilen wohl noch nichts sagen lässt.“ Das bedarf jetzt der Ergänzung:

 

Der Münchener Journalist Gerhard Wisnewski hatte eine Reihe von Gründen geltend gemacht, die ihn die Richtigkeit der - von den Behörden ungewöhnlich schnell bekannt gegebenen[2] - Selbstmordversion bezweifeln ließen, und er hatte die Staatsanwaltschaft unter Berufung auf das Berliner Pressegesetz um Mitteilung der Gründe ersucht, auf die sie ihren Befund „Suizid“ stütze. Die Behörde hatte das unter Hinweis auf die Privatsphäre der Verstorbenen abgelehnt, der Journalist hatte dagegen beim Verwaltungsgericht Berlin eine einstweilige Anordnung begehrt - vergeblich (Beschl. vom 09.08. 2010). Das OVG Berlin/Brandenburg hingegen gab dem Antrag am 11.11.2010[3] statt und verpflichtete den Generalstaatsanwalt,

„dem Antragsteller Auskunft zu erteilen über die konkrete Todesursache und den Todeszeitpunkt der Jugendrichterin Kirsten Heisig, den genauen Fundort und die Auffindesituation der Leiche, darüber, welche Fakten eine Fremdverursachung des Todes ausschließen, und welche objektiven Anhaltspunkte für ein planvolles Vorgehen von Frau Heisig in Bezug auf den eigenen Tod sprechen“,

was es ausführlich mit der stadtbekannten Rolle und dem besonderen Wirken dieser Richterin begründete.

Daraufhin hatte die Staatsanwaltschaft einen vierseitigen Bericht erarbeitet und ihn der Presse zugänglich gemacht. Nach Pressemeldungen, die darauf beruhen[4], hatte die Richterin am 28.06.2010 (zu einer Zeit, als ihre Behörde sie bereits vermisste) bei ihrer Rechtsanwältin eine Verfügung hinterlegt, in der sie den Platz bestimmt, an dem sie beerdigt werden wollte, und sich in einer Apotheke Antidepressiva besorgt, von denen später eine tödliche Überdosis in ihrem Körper gefunden wurde. Die Mordkommission, so der Bericht, habe die Leiche besonders sorgfältig auf etwaige Gewaltspuren (von dritter Seite) untersucht, ohne dass sich irgendetwas dergleichen habe finden lassen. Dies und weitere Befunde, die man nachlesen mag[5], erlauben den Schluss, dass die behördliche Suizid-These wohl doch berechtigt war, wobei allerdings anzumerken bleibt, dass die Senatorin und ihre Behörde es selbst gewesen sind, die über eine lange Zeit im Publikum ernsthafte Zweifel an ihrer Suizid-These genährt hatten.

 

 

2.  Im Septemberheft d. J. kündigte Michael Naumanns „Cicero“ (das „Magazin für politische Kultur“) schon auf dem Glanzumschlag an: „Christian Pfeiffer – Warum sich Kirsten Heisig irrte“. Das zu lesen, war mir dann doch neun Euro wert. Auf Seite 5 findet man den Kopf Christian Pfeiffers, umrahmt von dem, was offenbar die Quintessens seines Aufsatzes sein würde:

„Kirsten Heisig, die verstorbene Berliner Jugendrichterin, plädiert in ihrem aufsehenerregenden Buch „Das Ende der Geduld“ für ein hartes Vorgehen gegen jugendliche Gewalttäter. Das klingt plausibel, doch so einfach ist die Sache nicht. Der renommierte Kriminologe Christian Pfeffer erklärt, warum das Klischee vom kriminellen Jugendlichen mit Migrationshintergrund nicht ganz stimmt. Und warum Haftstrafen auch bei jungen Mehrfachtätern mehr Schaden anrichten als verhindern“.

Da reuten mich schon die neun Euro. Aber da gekauft nun einmal gekauft ist, las ich S. 62 weiter - und fand meine Vermutung bestätigt, dass Pfeiffer auch hier nur das zu Papier gebracht hat, was er mit Vorliebe schreibt – über Jugendkriminalität im Allgemeinen. Schon seine Überschrift „Nicht alle Buben sind so böse“ bringt die Unzulänglichkeit dieser Buchbesprechung auf den Punkt. Denn nicht „alle Buben“, auch nicht alle Berliner Knaben, noch nicht einmal die problematischen in ihrem Sprengel, sondern ganz bestimmte Kategorien hochkrimineller junger Intensivtäter, gewalttätige Familienclans usw. haben die Richterin zur Verzweiflung getrieben. Und das simple Rezept „einsperren, wegsperren …!“, das Pfeiffer ihr zuschreibt – nein, über diese Unterstellung lohnen sich keine drei Worte. Ich fand den Aufsatz so flach, unter Pfeiffers Niveau und angesichts des Todes der Richterin seinen überheblichen Ton auch so anstößig, dass ich „Cicero“ eine Leserzuschrift geschickt hatte, in der es u.a. hieß:

„… Wie kriegt er es fertig, die extreme Überrepräsentanz z.B. junger türkischer Gewalttäter weg zu wischen, über die doch seine eigene Forschungsstelle wiederholt eindrucksvolle Zahlen vorgelegt hat? Er versucht das erstens mit der These, dass es das überaus aktive Anzeigeverhalten deutscher Kids gegenüber Migranten sei, das die Statistik verzerre. Frau Heisig, die darauf ausdrücklich eingeht, hat ganz andere Erfahrungen gemacht: misshandelte junge Deutsche haben häufig Angst und wollen sich mit den stärkeren und dominanten Türken lieber nicht anlegen, sie nicht „provozieren“. Zweitens, so Pfeiffer, könne (eigentlich sogar) von einer Überrepräsentanz der Migranten keine Rede sein, schon deshalb nicht, weil sie unter gleichen „sozialen“ Bedingungen wie deutsche Jugendliche (einschließlich der Faktoren: „keine innerfamiliäre Gewalt, keine Machokultur“ usw.), sich von diesen kriminalstatistisch überhaupt nicht unterscheiden würden. „Wäre es anders, dann wäre es anders!“. Welche zirkuläre Weisheit! Immerhin fasst Pfeiffer, ohne es hier an die große Glocke zu hängen, den Begriff des Sozialen weiter als üblich, indem er den Islam (im Sinne einer familiären, gewalttätigen, aggressiven Machokultur) ins „Soziale“ mit einbezieht – und sich dann auch diesen Faktor zu kriminalstatistischen Zwecken wieder „weg denkt“[6].

Dass die Richterin „kriminelle Kinder“ einfach wegsperren will, stimmt keineswegs. Sie beschreibt die sonst auswegslosen Lagen sehr genau, in denen man gefährdete und gefährliche Kinder einfach nicht weiter der Strasse überlassen könne. Der Sache nach gibt Pfeiffer ihr sogar Recht, nur nennt er den legitimierbaren Zugriff anders, nämlich „Krisenintervention“. Muss man sich etwa seiner Begriffe bedienen, um auf der richtigen Seite zu stehen?

Wenn er der „Richterin Gnadenlos“ letztlich das Mantra der Jugendgerichtstage „Milde zahlt sich aus!“ entgegenhält, fasst der Leser sich an den Kopf mit der Frage, wie genau der Rezensent den Erfahrungsbericht Kirsten Heisigs denn eigentlich zur Kenntnis genommen hat.“

 

Von dieser Zuschrift hat „Cicero“ im Oktoberheft unter der Überschrift „Krisenintervention“ lediglich die – keine grundsätzliche Kritik enthaltenden – fünf Zeilen des vorletzten Absatzes gebracht[7] und die Auslassung des großen Rests – der Hauptsache also – noch nicht einmal kenntlich gemacht. So schont die Chefredaktion ihren Autor; und die leichtfertig abqualifizierte Richterin merkt vom Ganzen ja ohnehin nichts mehr.

Günter Bertram


[1] MHR 3/2010, 10 ff: Die „Gretchenfrage“ des KFN – Necla Kelec und Kirsten Heisig, dort Anm. 20

[2] Die Berliner Justizsenatorin hatte bereits zu einem Zeitpunkt, als die Richterin vermisst wurde, aber noch nicht gefunden worden war, verlautet, es gäbe keine Anzeichen für eine Entführung oder eine  sonstige Straftat; und sie hatte später schon  2 ½ Stunden nach dem Auffinden der Leiche von „offensichtlichem Suicid“ gesprochen.

[3] Az. OVG 10 S 32.10

[4] Welt online und Rheinische Post online, beide vom 19.11.2010; FAZ vom 22.11.2010: Objektive Umstände – Richterin Heisig tötete sich selbst; Berliner Tagesspiegel vom 20.11.2010: Dokumente zum Tod von Richterin Heisig veröffentlicht.

[5] Fundstellen bei wikipedia „Kirsten Heisig“

[6] vgl. dazu MHR 3/2010 S. 13, Anm. 18: Die winner-looser–Erklärung der Gesellschaft, die Pfeiffer so glatt vom Munde geht, bricht sich an seinen eigenen Forschungen, die den Islam, soweit er Gewalt legitimiert, zutreffend als kriminogenen Faktor identifiziert. Wenn Pfeiffer nun (im Cicero) den Islam dem Sozialen subsumiert, dann gibt es nichts mehr außerhalb dieser Welterklärung, die natürlich nichts mehr erklärt.

[7] Cicero, Oktober 2010, S.11