(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 2/10, 22) < home RiV >

Der Fall Gäfgen Ende unter Fortsetzungsvorbehalt?

 

Am 18.03.2009 hatte die „Große Kammer“ (17 + 4 Richter) des Straßburger Gerichtshofs für Menschenrechte auf Gäfgens Beschwerde hin noch einmal über dessen Begehren verhandelt, seine Verurteilung wegen Mordes durch das Frankfurter Schwurgericht zu kassieren, weil nach seiner „Folterung“ keinerlei Beweismittel gegen ihn mehr hätten verwendet werden dürfen[1]. Kürzlich – am 1. Juni - hat diese Kammer den Spruch der (mit sieben Richtern besetzten) Kleinen Kammer vom 30.06.2008, der Gäfgens Antrag verworfen hatte, bestätigt, so dass es bei „Mord“ und „Lebenslang“ bleibt. Dieses Ergebnis lag nach deutscher Rechtslehre und –praxis zur Reichweite von Beweisverwertungsverboten ohne Weiteres auf der Hand; was alle hiesigen Instanzen bis zum BVerfG hinauf dem Beschwerdeführer schon bescheinigt hatten. Jetzt zu guter Letzt – so scheint es - macht auch „Straßburg“ sich dies noch einmal und abschließend zu eigen.

 

„Straßburg locuta, causa finita“? Überfliegt man die einschlägigen Titel der Presse vom 1. und 2. Juni d.J., reibt man sich die Augen: „… Der Kindesmörder Gäfgen hat vom Menschenrechtsgericht Recht bekommen …; in Haft bleibt er trotzdem“; „Straßburger Richter: Deutschland soll Gäfgens Schmerzengeldanspruch schnell prüfen“, „Teilerfolg für Gäfgen“ usw. Was der Gerichtshof mit welchen Gründen entschieden und was er dazu noch - mehr oder weniger beiläufig, mehr oder minder nachdrücklich – ausgesprochen hat, wird man erst wissen, wenn die Entscheidung gedruckt vorliegt.

 

Der ausführliche (und der Sachkunde seines Verfassers Reinhard Müller wegen gewiss zitierfähige) Bericht der FAZ vom 2. Juni d.J. – „Opfer unmenschlicher Behandlung? – Der Kindesmörder Gäfgen erzielt in Straßburg einen Erfolg, erhält aber kein neues Verfahren“ besagt, dass der Gerichtshof die mit der Beschwerde verlangte Aufhebung der Frankfurter Verurteilung abgelehnt und dazu festgestellt hat, Gäfgen habe in Deutschland ein faires Gerichtsverfahren bekommen. Zwar sei er zuvor einer konventionswidrigen „unmenschlichen Behandlung“ ausgesetzt gewesen. „Unter Berücksichtigung seiner eigenen Rechtsprechung und der Einschätzung anderer internationaler Institutionen des Menschenrechtsschutzes gelangt der Gerichtshof jedoch zu der Auffassung, dass die Verhörmethode nicht einen solchen Schweregrad erlangte, dass sie als Folter gelten könnte“. Das ist bemerkenswert, weil bei uns bis zum BVerfG hinauf der Fall Daschner/ Gäfgen in Rechtsprechung und Publizistik ganz überwiegend als „Folterfall“ abgebucht worden war[2]. Straßburg: Die Verletzung seiner Menschenrechte, die Gäfgen zu attestieren sei, habe jedenfalls keinen Einfluss auf sein Strafverfahren oder auch nur das Strafmaß gehabt. Hier war allerdings eine Minderheit von sechs Richtern anderer Meinung: das Gebot des fairen Verfahrens sei sehr wohl verletzt worden. Eine Minderheit von drei Richtern – unter Einschluss der früheren BVerfG-Richterin Renate Jäger –, die im Ergebnis mit der Mehrheit stimmten, fanden es hingegen überhaupt abwegig, angesichts der Umstände des konkreten Falles Gäfgen zum „Opfer“ zu erklären. Schließlich sei es darum gegangen, das Leben eines Kindes vor ihm zu retten. Im Übrigen wird in der Entscheidung nicht mit Kritik an Deutschland gespart: Mit elf zu sechs Stimmen meint die Kammer, Deutschland (allerdings nicht das Schwurgericht) habe gegen das Verbot unmenschlicher Behandlung verstoßen: Insgesamt habe Deutschland Gäfgen „keine ausreichende Abhilfe für seine konventionswidrige Behandlung gewährt“. Auch sei sein Antrag auf Prozesskostenhilfe zur Einleitung eines Amtshaftungsprozesses[3] mehr als drei Jahre anhängig gewesen. Müller: „Straßburg äußert grundlegenden Zweifel an der Effizienz des Amtshaftungsverfahrens“. Es wird auch bemängelt, dass Daschner nur milde sanktioniert worden sei, so dass die wünschenswerte „Abschreckungswirkung“ i.S. der Konvention nicht erreicht werde. Hier stellt die genannte Minderheit mit Renate Jäger die nahe liegende Frage, wieso denn der – angebliche – Opferstatus Gäfgens irgendetwas mit der Sanktionierung Daschner zu tun habe.

 

Ein mehrstimmiger Chor von Stimmen also, von denen einstweilen kaum auszumachen ist, ob sie nebeneinander herlaufen, einander widersprechen oder sich verstärken. Was eine „Korrektur“ in der FAZ vom 4. Juni substanziell besagt, lässt sich kaum ergründen. Sie lautet: „Im Fall Gäfgen haben fünf Richter des EGHM, darunter die deutsche Richterin Jäger, nicht eine Verletzung des Verbots der unmenschlichen Behandlung Gaefgen verneint, wie die Berichterstattung in unserer Ausgabe vom 2. Juni nahe legen konnte. Sie sprachen sich vielmehr dafür aus, dass Gäfgen nicht mehr behaupten könne, Opfer einer solchen Behandlung zu sein“. Im Ergebnis aber hat Gäfgens Amtshaftungsprozess nun Straßburger Rückenwind bekommen, während sein eigentliches petitum erledigt zu sein scheint. Scheint; denn wenn der Frankfurter Amtshaftungsprozess nicht so laufen sollte, wie es den unmissverständlich ausgesprochenen Erwartungen der Straßburger Kollegen entspricht, wird das Gericht die erledigte Sache vielleicht durch „Wiederaufnahme“ erneut an sich ziehen. Gesetzlich ist dergleichen zwar nicht vorgesehen, aber höhere Zwecke stünden notfalls wohl über derart formalen Einwänden …. Unser Thema. „Gäfgen/Daschner“ scheint unerschöpflich zu sein!

 

Günter Bertram


[1] vgl. MHR 1/2010, S. 28 ff. und dort Fn. 8

[2] vgl. MHR 1/2003, 3 ff. und 3/2005, 14 ff.

[3] Darüber wurde in MHR 1/2010, 29 berichtet.