(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/09, 12) < home RiV >

GTZ-Einsatz in Chiles Straf­vollstreckung[1]

 

Als Vorsitzende einer Strafvollstreckungskammer habe ich mich vom 09.11. –18.11.2009 in Chile aufgehalten, um in dem von der GTZ[2] unterstützten Reformprozess hinsichtlich der Schaffung eines Strafvollzugsgesetzes und der Einrichtung von Strafvollstreckungskammern beratend tätig zu sein. Chile hat in den letzten Jahren bereits mit Unterstützung der GTZ sein materielles Strafrecht und vor allem sein Strafprozessrecht reformiert[3]. In diesem Zusammenhang sind landesweit neue moderne Gerichtsgebäude gebaut worden, die einen deutschen Richter vor Neid erblassen lassen.

Zum Zweck meiner Tätigkeit habe ich in verschiedenen Runden mit Richtern, Behördenmitarbeitern und Vertretern des Justizministeriums meine Arbeit dargestellt und über Fragen des Strafvollzugs diskutiert. Um einen Eindruck vom Strafvollzug in Chile zu erhalten, habe ich gemeinsam mit Vertretern der GTZ und Regierungsvertretern zahlreiche Vollzugseinrichtungen in Santiago, Iquique, La Serena und Valparaiso besichtigt. Weiter habe ich in Santiago an einer zweitägigen Konferenz zu Fragen der Strafvollstreckung und des Strafvollzugs teilgenommen und bei dieser Gelegenheit zwei von mir verfasste Vorträge gehalten. Weitere Vorträge habe ich vor Teilnehmern in Iquique, la Serena und Valparaiso gehalten.

Die Situation des Strafvollzugs in Chile ist dadurch gekennzeichnet, dass die staatlichen Gefängnisse durch steigende Gefangenenzahlen stark überfüllt sind. Das 1843 erbaute staatliche Gefängnis von Santiago, das für weniger als 2.800 Gefangene ausgelegt ist, beherbergt mittlerweile an die 7.000 Gefangene. Es kommt zu vielen gewaltsamen Zwischenfällen, bei denen auch immer wieder Tote zu beklagen sind. Meine Dolmetscherin berichtete mir, dass sie bei einem Besuch mit einem deutschen Gefängnisarzt im Mai eine Auseinandersetzung unter Gefangenen mit Lanzen gesehen hätte. Die Bediensteten hätten aus Sicherheitsgründen erst eingegriffen, als ein Gefangener bereits schwer verletzt am Boden lag.

Um der Misere abzuhelfen, ist in den vergangenen Jahren damit begonnen worden, zahlreiche neue Haftanstalten bereit zu stellen. Diese werden durch ein privates französisches Konsortium erbaut und auch die ersten 20 Jahre lang betrieben. Danach fallen sie an den Staat zurück. In den privaten Gefängnissen wird nur die Bewachung noch durch staatliche Organe (Gendarmeria, eine militärische Organisation) wahrgenommen, alles andere, d.h. auch die Behandlung, obliegt dem privaten Betreiber. Gegen Überfüllung hat sich der private Betreiber durch eine Strafgeldklausel gesichert.

Bei meinen Gesprächen mit den Bediensteten und den Verantwortlichen konnte ich feststellen, dass die Zustände, die in den überfüllten Gefängnissen herrschen, allgemein als großes Problem gesehen wurden. Meine Gesprächspartner hatten aber wenig Vorstellung, wie dies geändert werden könnte, außer durch den Bau von neuen Gefängnissen. Der Umstand, dass die Häftlingszahl in den letzten Jahren stark angestiegen ist (290 Strafgefangene pro 100.000 Einwohner[4]) und nur eine verschwindend kleine Zahl der von den Vollzugsbehörden zur vorzeitigen Entlassung vorgeschlagenen Häftlinge früher entlassen wird (die vorzeitige Entlassung ist letztlich eine politische Entscheidung), wird nicht kritisch hinterfragt.

Ich hatte die Gelegenheit, zwei Jugendgerichtsverhandlungen beizuwohnen, in denen für deutsche Begriffe mit Kanonen auf Spatzen geschossen wurde. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass ein Staatsanwalt Gehaltsboni erhält, wenn er viele Verurteilungen erreicht[5]. Begünstigt durch eine monopolisierte Presse und private Fernsehsender  herrscht eine allgemeine Furcht vor dem Kriminellen. Wenn ich in Gesprächen auf die Möglichkeit ambulanter Maßnahmen oder Lockerungen aus dem Vollzug hingewiesen habe, begegnete man mir mit großer Skepsis, so nach dem Motto „Wir Deutschen als ordentliches Volk hätten wohl auch ordentlichere Kriminelle, mit denen man so etwas machen könne.“

Die Behandlung der Gefangenen in den Vollzugsanstalten zeigt auch, dass der Gefangene in der Regel nicht als Mensch mit bürgerlichen Rechten wahrgenommen wird. So wurden die Gefangenen vom Personal durchweg geduzt. Sie mussten sich z.T. mit dem Kopf zur Wand stellen, wenn wir vorbeikamen (um Belästigungen vorzubeugen) und der Arrest wird in einer nackten Betonzelle verbracht, in der es keinerlei Beschäftigungsmöglichkeit gibt. Ein würdigerer Umgang mit den Gefangenen herrschte nur in therapeutischen Einheiten oder in kleineren Anstalten, wie z.B. dem Frauengefängnis in Iquique oder auch in einem Ausbildungszentrum in einem staatlichen Gefängnis in Valparaiso, in dem eine ausgewählte Zahl von Gefangenen in vorbildlicher Weise eine Art Fach­schulabschluss erlangen kann.

Als Besonderheit fiel mit auf, dass sowohl Strafgefangene als auch Untersuchungsgefangene sich tagsüber nicht in ihren Zellen aufhalten dürfen. Wenn sie nicht arbeiten (was nur die wenigsten tun) oder sich in Ausbildungs- oder Therapieprogrammen befinden, müssen sie sich im Hof aufhalten. Dies scheint aber nicht als Belastung empfunden zu werden. Im Gegenteil: In einer privaten Anstalt, in der der Einschluss relativ früh, nämlich um 18.00 oder 19.00 Uhr erfolgte, berichteten die Verantwortlichen, dass es schrecklich sei, dass die Gefangenen so lange eingesperrt sein müssten. Interessant ist auch, dass es 2007, als ein großer Teil der Gefangenen der überfüllten staatlichen Anstalt im Santiago in ein privates Gefängnis mit besseren Haftbedingungen verlegt wurde, es zu etlichen Selbstmorden unter den Gefangenen kam, da diese sich dort vereinsamt fühlten.

Eine Trennung zwischen Untersuchungs- und Haftgefangenen findet nicht wirklich statt. Sie sind zwar getrennt untergebracht, verbringen aber durchaus die Tageszeit gemeinsam. Meine Fragen diesbezüglich stießen auf Unverständnis bei den Verantwortlichen, obwohl man mir sagte, es durchaus auch den Haftgrund der Verdunklungsgefahr gibt.

Der Kontakt nach außen ist auch großzügiger geregelt als bei uns. Besuche sind in der Regel zweimal wöchentlich möglich. Da der Strafvollzug nur wenig Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung stellt, arbeiten viele Gefangene auf eigene Rechnung. Die Familie besorgt Arbeitsmaterialien und verkauft die Produkte draußen. Wir konnten auch direkt bei den Gefangenen Produkte erwerben und durften ihnen auch das Geld dafür in die Hand drücken.

Meine Frage, ob es auch Probleme mit Drogen in der Haft geben, wurde verneint. Man habe Drogensuchhunde und diese seien sehr effektiv.

In Gesprächen mit den juezes de guarantia (Garantierichtern), die auch für Fragen des Strafvollzugs zuständig sind, war ein Unbehagen an der Entscheidungsfindung festzustellen, insbesondere wegen des starken Einflusses, den die Vollzugsbehörde faktisch hat, indem sie den Sachverhalt vorgibt. Die Vollzugsbehörde nimmt auf den Antrag eines Gefangenen hin Stellung und das Gericht entscheidet dann. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs spielt hier offenbar keine Rolle, und der Richter sieht sich auch nicht in der Pflicht, selber zu ermitteln.

Die Garantierichter erfahren aber bei kritischer Rechtsprechung wenig Unterstützung durch Obergerichte. Sie sind auch nicht wirklich unabhängig. Sie werden regelmäßig durch die Obergerichte beurteilt und müssen nach der dritten schlechten Beurteilung den Dienst quittieren. In der Presse wurde gerade über den Fall eines kritischen Garantierichters berichtet, der sich nach der zweiten schlechten Beurteilung hatte beurlauben lassen und nun in Mexiko arbeitete. Diese schlechten Beurteilungen verjähren nach einiger Zeit, und er wollte dann den Dienst wieder aufnehmen.

Ein Netzwerk, in dem die Richter sich gegenseitig stärken und das richterliche Selbstverständnis diskutieren könnten, gibt es offenbar nicht. Allerdings verfügt die chilenische Richtervereinigung über eine Internetseite[6]. Es fehlt auch an Möglichkeiten, Rechtsprechung zu publizieren und so einen Austausch und eine Diskussion zu Fragen der Auslegung der Gesetze in Gang zu bringen.

Einer Arbeit des dortigen Projektleiters Jörg Stippel und auch den Gesprächen mit den Richtern habe ich entnommen, dass es auch heute schon rechtliche Möglichkeiten gäbe, die Rechte von Strafgefangenen besser zu wahren, dies aber an der Rechtswirklichkeit scheitert. Erschwert wird die rechtliche Situation in Chile dadurch, dass mittlerweile zahlreiche Gefängnisse in privater Hand sind[7]. Dies macht es schwieriger, den Staat als Pflichtenadressat in Anspruch zu nehmen.

Ebenso wichtig wie die Arbeit für ein Strafvollzugsgesetz erscheint es mir daher, institutionelle Garantien für die Unabhängigkeit der Richterschaft zu schaffen, damit reformatorische Kräfte sich dort behaupten und einen Diskussionsprozess fördern können.

Eine Besonderheit noch am Rande: Zumindest in den oberen Instanzen müssen die Richter die Akten nicht selber lesen. Sie haben Hilfskräfte, die dies für sie tun und ihnen dann den Akteninhalt vortragen. Unsere ehemalige Generalstaatsanwältin, die ebenfalls im Zuge des Reformprozesses dort beratend tätig war, soll dort vor einer illustren Runde gesagt haben, dass in Deutschland die Richter selber lesen könnten. Das kam wohl nicht so gut an.

Ob allein ein Strafvollzugsgesetz die Lage der Häftlinge zum jetzigen Zeitpunkt grundlegend verbessern würde, erscheint mir auch aus anderen Gründen zweifelhaft. Der Reformgeist der in Europa in den 60er und 70er Jahren herrschte und der zu einer Demokratisierung der Gesellschaft geführt hat, ist in Chile nach meinen Eindrücken nicht vorhanden. Die Gesellschaft ist stark hierarchisch und autoritär geprägt. Als ich nach einem Vortrag am Rande erwähnte, dass es heutzutage undenkbar wäre, in einem deutschen Gefängnis einen Häftling zu duzen, entstand eine erhebliche Unruhe im Saal.

Auffällig war, dass sehr viele Frauen in Führungspositionen sind. Auf meine Nachfragen diesbezüglich sagte man mir, dass die jetzige Präsidentin dies stark gefördert habe. Die Berufstätigkeit von Frauen wird auch dadurch erleichtert, dass es allgemein üblich ist, Hausangestellte zu haben.

Die Kriminalitätsfurcht, die in Chile herrscht, konnte ich als Reisende nicht nachvollziehen. Mein Reiseführer schrieb, dass Chile ein sehr sicheres Reiseland sei, und ich habe mich, auch wenn ich mal allein unterwegs war, immer wohl gefühlt.

 

Maj Zscherpe

 


[1] Das Foto des Hamburger Chilehauses steht wie auch der Beitragsinhalt für einen Brückenschlag zwischen Hamburg und Chile

[2] Als weltweit tätiges Bundesunternehmen der internationalen Zusammenarbeit für nachhaltige Entwicklung unterstützt die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) GmbH die Bundesregierung bei der Verwirklichung ihrer entwicklungspolitischen Ziele.

[3] Anm. d. Red.: Vergleiche auch das vom DRB unterstützte Projekt „Law made in Germany“

[4] Zum Vergleich: In Deutschland gab es anno 2007 91 Strafgefangene je 100.000 Einwohner gemäß Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 20.08.2008.

[5] Anm. d. Red.: Zur Leistungsbesoldung in der Hamburgischen Justiz vergleiche in diesem Heft den letzten Absatz des Aufsatzes von Jürgen Kopp.

[6] Die Internetseite der chilenischen Richtervereinigung befindet sich unter www.magistradosdechile.cl/ .

[7] Auch in Deutschland gibt es bereits JVA’s, die in „Private Public Partnership“ betrieben werden.