(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 2/09, 28) < home RiV >

Die Fragwürdigkeit eines letzten Strafverfahrens

 

Ob John Demjanjuk vor dem Münchener Schwurgericht stehen wird, dürfte zunächst davon abhängen, ob die Gutachter den fast 90-Jährigen für verhandlungsfähig erklären. „Letzter großer Prozess gegen Nazi-Kriegsverbrecher?“ – so und ähnlich die Schlagzeilen. Das öffentliche Drängen auf ein Verfahren scheint gut begründet zu sein, denn hier geht es um Sobibor, ein Vernichtungslager im besetzten Polen, in dem 1942/43 weit über hunderttausend dorthin verfrachtete Juden in grauenhaften Prozeduren durch Giftgas getötet worden sind[1]. Die Anklagebehörde hat gewichtigen Grund für ihre Annahme, dass der Beschuldigte dort Dienst geleistet, also irgendwie geholfen hat, die Mordmaschinerie in Gang zu halten. Sollte da der Ruf nach Sühne, Strafe und Vergeltung nicht berechtigt sein? Man liest in der Presse auch, nicht das Maß seiner Strafe sei entscheidend – wenige Jahre bedeuteten hier ja praktisch so viel wie „lebenslang“ ‑, sondern das öffentliche Verfahren und der Schuldspruch: „Der Demjanjukprozess ist der Schlußstein in der Geschichte der NS-Prozesse. Er verdient jede Sorgfalt“, schreibt Heribert Prantl in der SZ[2]. Ob die Schlußsteinmetapher hier nicht vielleicht voreilig angebracht wird, mag offen bleiben[3]; der zweite Satz jedenfalls trifft zu.

 

1.         Demjanjuk war 1942 als zweiundzwanzigjähriger ukrainischer Sowjetsoldat auf der Krim in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten und hatte sich - wie die Ermittler annehmen – vor dem drohenden Verhungern und Verrecken dadurch gerettet, dass er sich der deutschen Totenkopf-SS als „Hilfswilliger“ zur Verfügung stellte[4], so wie viele andere „Fremdvölkische“etwa Esten, Letten, Litauer, Polen, Volksdeutsche -, die dann nach dem südöstlich von Lublin gelegenen Ort ihres speziellen Trainings die „Trawniki“ genannt wurden. Die Männer wurden dort einer strengen und barbarischen Disziplin unterworfen und zu Hilfskräften („Hiwis“) bei den Ausrottungsaktionen der Totenkopfverbände abgerichtet, deren Opfer in erster Linie Juden waren[5]. Nach dem Vermerk in seinem Dienstausweis (dessen Beweiskraft er offenbar bestreitet) war Demjanjuk im März 1943 nach Sobibor abkommandiert worden. Was er dort getan hat, hält auch die Staatsanwaltschaft für im Einzelnen unaufklärbar. Es muss sich aber um Dienste der Art gehandelt haben, wie sie in früheren Sobibor-Verfahren geschildert worden sind. Dieses Lager hatte die Justiz nämlich schon beschäftigt, auch das Schwurgericht Hagen, das 1965 an 137 Tagen über die dort errichtete Vernichtungsmaschinerie und ihre Bedienungsmannschaften akribisch Beweis erhoben hatte[6]. Danach war es seinerzeit die Rolle der Trawniki, unter deutschem SS-Kommando[7] Lager und Opfer zu bewachen, die Judenkolonnen an die zu den Gaskammern führende „Rampen“ zu eskortierten, befohlene Liquidierungen und andere schaurige Dienste zu verrichten. Trawniki waren das letzte (genauer: vorletzte; dann folgten nämlich noch die – selbst todgeweihten - jüdischen Arbeitskommandos) ausführende Organ der satanischen Mordmaschine.

 

2. Was immer sie im Einzelnen hier taten – alles war, nach späterer rechtlicher Qualifikation „Beihilfe zum Mord“[8]. Diese Gehilfen (Trawniki also) sind – im Gegensatz zur deutschen SS-Lagermannschaft – von der Justiz nicht belangt worden[9]. Muss das angesichts ihrer Taten zunächst überraschen, so gab es dafür doch gewichtige Gründe. Denn schon die Staatsanwaltschaft musste die persönlichen Umstände der Beschuldigten ermitteln, um ein Bild von ihrer ganz unterschiedlichen Verstrickung in ein riesiges, Zehntausende oder weit mehr Männer umfassendes Staatsverbrechen zu gewinnen, damit Haupttäter härter angefasst werden konnten als das Heer der Randfiguren[10]. Was deutsche Tatbeteiligte anlangt, über die allein sich eine Praxis herausgebildet hat, ist festzustellen, dass Gehilfen, denen zwar kein Schuldausschluss, aber eine notstandsähnliche Lage zuzubilligen war, regelmäßig nach § 47 Abs. 2 Militärstrafgesetzbuch von Strafe freigestellt wurden[11], meist schon im Ermittlungsverfahren[12]. Für einen Trawniki (sofern kein Exzesstäter) muss, was für einen deutschen Beschuldigten galt, umso mehr gelten. Einem deutschen SS-Mann oder Polizisten wird in Rechtsprechung und Literatur echter Notstand in der Regel deshalb nicht zugebilligt, weil er einer Befehlsverweigerung wegen nicht ohne weiteres habe liquidiert werden können, sondern selbst innerhalb seiner brutalen Truppe in der Regel durch gewisse Ordnungsvorschriften davor geschützt gewesen sei[13]. Zu Verfahrenseinstellungen ist es bei ihnen trotzdem überaus häufig gekommen – wegen jedenfalls geminderter Schuld. Ein Trawniki aber war vor der SS durch nichts geschützt.

 

3. Deshalb würde die Verhandlung, wenn sie demnächst in München beginnen sollte – mit den Worten des Amsterdamer Professors Christiaan Rüter, der aus intimer Kenntnis deutscher NS-Verfahren spricht[14] auf ihre Art eine Premiere werden, nämlich zum Schluss noch „ein Prozess gegen den kleinsten der kleinen Fische[15]. Dass dieser Prozess gleichwohl stattfinden soll, hat zwei Gründe:

Demjanjuk war früher verdächtigt worden, „Iwan der Schreckliche“ gewesen zu sein, ein berüchtigter Trawniki, der sich im Vernichtungslager Treblinka[16] (nicht also in Sobibor) durch sadistische, exzessive Grausamkeiten – rechtlich also als Täter! - hervorgetan hatte. Deshalb hatten die USA ihn ausgebürgert und 1986 an Israel ausgeliefert, wo er zwei Jahre später als „Ivan Demjanjuk“ zum Tode verurteilt wurde. Vor der Vollstreckung tauchten Dokumente auf, die bewiesen, dass ein anderer (inzwischen Verstorbener) der berüchtigte Iwan gewesen war, und der Oberste Israelische Gerichtshof hob das falsche Urteil im Jahre 1993 auf, so dass Demjanjuk nach langer Haft in die USA zurückkehren konnte. Aber der „Geruch“ Iwans des Schrecklichen – so Rüter – muss am Beschuldigten so haften geblieben sein, dass diffuse öffentliche Wünsche dahin drängten, den „Freispruch eines KZ-Schergen“ nun doch noch korrigiert zu sehen.

Das führt auf den weiteren, tieferen Grund, nämlich unser politisches Klima, das gebieterisch verlangt, jeden Anlass zu ergreifen, Prozesse mit historischem Bezug zur NS-Herrschaft vor aller Welt sichtbar auszurichten - zum Nachweis nationaler Läuterung und um zu zeigen, dass die heutige Justiz im Umgang mit dem Schuldüberhang aus der Nazizeit „sensibler“ als ehedem verfährt (was Prantl lobend hervorheb[17].

Die empfohlene „Sensibilität“ erweist sich indessen, genau betrachtet, als fragwürdig, als eine deutsche „Zeichensetzung“ auf Kosten und zu Lasten eines Dritten: im konkreten Fall peinlich und beschämend:

Wie schon bemerkt, sind Verfahren gegen deutsche Gehilfen, soweit sie als letzte Glieder in der Verbrechenskette gestanden hatten, routinemäßig - viel tausendfach! - eingestellt worden. Demjanjuk war und ist kein Deutscher, sondern Ausländer – Ukrainer – , der als junger Sowjetsoldat gefangen genommen worden war, von den Deutschen in ihre SS-Hilfstruppe gepresst, als Trawniki abgerichtet und in Sobibor als Handlanger missbraucht worden war (der obendrein viel später jahrelang zu Unrecht in der israelischen Todeszelle gesessen hatte). Kann man es wirklich sensibel – oder gar mit Prantl „sorgfältig“ - nennen, den heutigen Greis – „den kleinsten der kleinen Fische“ (Prof. Rüter) – als Angeklagten öffentlich vorzuführen? Das Lehrstück wäre mit dem Schuldprinzip[18] ebenso wenig vereinbar wie mit dem Gleichheitssatz, der doch – wie dieser Tage bei Verfassungsfeiern hervorgehoben – für alle Menschen gilt.

 

Vermutlich wird und soll in München ein Schuldspruch nie gefällt werden, weil es mehr auf das öffentliche Verfahren und dessen Medienecho ankommt als auf ein abschließendes Urteil, das immerhin begründet werden müsste. Irgendwann, wenn die Öffentlichkeit der ewigen Unterbrechungs- und Verlesungstermine (§§ 229 Abs. 1-3, 249 ff StPO!) müde geworden sein wird, lässt sich das Verfahren wegen Verhandlungsunfähigkeit des Greises vielleicht still und leise einstellen. Ein Ruhmesblatt der Justiz und ein anständiger Abschluss deutscher NS-Verfahren wäre das freilich nicht.

 

Günter Bertram

 


[1] Einzelheiten darüber z.B. in NS-Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse: Belzec - Sobibor - Treblinka - Chelmno, Hrsg. Adalbert Rückerl, dtv Dokumente Nr. 2904, 1977; zu Sobibor dort S. 145 -197, 86 ff. (OStA Rückerl war 18 Jahre lang Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg.)

 

[2] SZ vom 13.05.2009: „Demjanjuk und die Schuld“

 

[3] voreilig jedenfalls dann, wenn man der verfehlten aber schon lange üblichen Redeweise folgt, die „Kriegsverbrecherprozesse“ (wie sie seit Jahren bis heute z.B. aus Italien nach Deutschland übernommen werden) mit der Kategorie „NS-Prozesse“ gleichsetzt und vermischt (vgl. zum Hamburger Fall Engel: „Fragwürdige Geschichtsstunde“, MHR 3/2002, S. 4 ff; Nachbemerkungen zum Fall Engel, MHR 4/2004, 33; Bertram: Zweierlei Maß? in NJW 2004, 2278 (dort Ziff. 3: „Ungeschiedene Quellen der Grausamkeit: Kriegshandlungen, Kriegsverbrechen, Nazitaten“). Solcher Art Neuzugänge scheint es immer noch zu geben.

 

[4] Sachverhaltswiedergabe und Lebenslauf beschränkt sich hier auf das, was als unstreitig gelten kann. Offenbar haben die Zentrale Stelle Ludwigsburg und die Staatsanwaltschaft München der Presse Auskünfte erteilt und Dokumente vorgezeigt; auch der Pflichtverteidiger hat den Medien gewisse Fragen beantwortet. Das findet sich dann in Zeitungen und Medien wieder. Sorgfältig und detailreich. Friedrich Schmidt - Der falsche Iwan - Die verwickelte Geschichte John Demjanjuks, FAZ v. 12.05.2009.

 

[5] Zur Rolle der Trawniki in Sobibor vgl. Rückerl aaO. (oben Anm.1) S. 158 - 161, 178 ff

 

[6] vgl. Rückerl aaO.(Anm.1) S. 84 f

 

[7] Der 1941 eingesetzte Lagerleiter SS-Sturmbannführer Karl Streibel stand ab Dezember 1972 vor dem Hamburger Schwurgericht, wurde jedoch nach mehrjähriger Verhandlung mangels ausreichenden Beweises freigesprochen, StA Hamburg 147 Js 43/69.

 

[8] Zur Abgrenzung Täterschaft/Beihilfe bei NS-Verbrechen vgl. Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht, 1984, S. 274- 281; Baumann bei Henkys Die NS-Gewaltverbrechen, 1965, dort: Die strafrechtliche Problematik der NSG- materiell-rechtliche Probleme – Teilnahmeformen, S. 267 ff.   Die Beihilfe-Rechtsprechung der Schwurgerichte in NS-Verfahren ist früher heftig teils berechtigter, teils unberechtigter Kritik unterzogen worden. Dazu etwa Reinhard Henkys Die NS-Gewaltverbrechen, 1965, dort Ziffer VI. Probleme und Erkenntnisse: Täter und Gehilfen, S. 229 ff; Baumann bei Henky: Die strafrechtliche Problematik der NSG, S. 267 ff, Ziff. III: Materiell-rechtliche Probleme –Teilnahmeform, S. 303 ff; Barbara und Just Dahlmann, Die Gehilfen – NS-Verbrechen und Justiz nach 1945, 1988 passim; Ingo Müller, Furchtbare Juristen Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz, 1987: S. 250 ff: Täter und Gehilfen. Auf alles dies kommt es hier nicht an, weil ein Trawniki, der sein furchtbares Geschäft nach Weisung und Befehl verrichtete, allen Lehrmeinungen nach nur Gehilfe sein konnte - Täter nur dann, wenn er Exzesse auf eigene Faust beging.

 

[9] Dass sie (falls ermittelt) in Verfahren gegen deutsche Beschuldigte als Zeugen von Interesse waren, steht auf einem anderen Blatt.

 

[10] Hier ist es ungerecht zugegangen: Zunächst deshalb, weil viele der von alliierten Gerichten zum Tode verurteilte Haupttäter nach ihrer Begnadigung ab Mitte der 1950er Jahre vor deutschen NS-Schwurgerichten gegen ihre früheren Untergebenen als straffreie Zeugen auftreten konnten (Rückerl, Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen  1945 – 1978, 1979, S. 48 f). Näher zum inadäquaten „Täterprofil“ Bertram: „Vergangenheitsbewältigung durch NS-Prozesse? Individualschuld im „Staatsverbrechen“, in Das Unrechtsregime – Internationale Forschung über den Nationalsozialismus, Festschrift für Werner Jochmann, Hamburg 1986, Bd. 2, S. 421 ff. Auch die Aufhebung der Verjährung hatte zur Folge, dass tendenziell nur noch damals blutjunge Männer – ohne Rang und Ermessen – als Beschuldigte in Betracht kommen – also nur noch „die Kleinen“.

 

[11] Diese Bestimmung lautet:

1. Wird durch die Ausführung eines Befehls in Dienstsachen ein Strafgesetz verletzt, so ist dafür der befehlende Vorgesetzte allein verantwortlich. Es trifft jedoch den gehorchenden Untergebenen die Strafe des Teilnehmers:

(1) wenn er den erteilten Befehl überschritten hat oder

(2) wenn ihm bekannt gewesen ist, dass der Befehl … eine Handlung betraf, welche ein Verbrechen … bezweckte.

2. Ist die Schuld des Untergebenen gering, so kann von einer Bestrafung abgesehen werden.

 

[12] Es gibt keine Statistik, die über die hier interessierenden Einstellungsgründe Aufschluss gibt, vgl. Hanack JZ 1967, 329 ff , Fn. 67

 

[13] so jedenfalls die h. M., vgl. etwa Herbert Jäger: Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, 1967: Die Bedeutung des Notstandes – Der disziplinäre Aspekt, S. 152 – 155

 

[14] Rüter, seit 1972 Ordinarius für Strafrecht und Strafprozess an der Universität Amsterdam, stellvertretender Vorsitzender der Stiftung Topographie des Terrors, Berlin, ist Herausgeber der (einzig existierenden!) Sammlung deutscher Strafurteile wegen NS-Tötungsverbrechen (Urteile der Jahre 1945 – 1999, insg. 50 Bände)

 

[15] zitiert bei Schmidt, FAZ vom 12.05.2009 (vgl. oben Anm. 4).

 

[16] Die SS hatte ihre Trawniki auch im ca. 80 km nordöstlich von Warschau gelegenen Vernichtungslager Treblinka eingesetzt; vgl. dazu Rückerl aaO. (oben Anm. 1), S. 197 ff (insb. S. 207- 210). Zwei lange Beweisaufnahmen des SchwG. Düsseldorf hatten hierzu gründliche Aufklärung geschaffen – Urteil gegen Franz u.a. vom 03.09.1965; gegen Stangl vom 22.12.1970 - dazu. Rückerl S. 81 und 86.

 

[17] Prantl in SZ v. 13.05.2009, s. o. Anm. 2

 

[18] Auch bei deutschen Tätern, die dem Mordbefehl in aller Regel nicht so barbarisch-strikt unterworfen waren wie die Trawniki, führt die strafrechtlich Frage nach der Schuld zu großen Problemen (und führte zu Zehntausenden von Verfahrenseinstellungen), vgl. dazu etwa Ernst-Walter Hanack: Zur Problematik der gerechten Bestrafung nationalsozialistischer Gewaltverbrecher, JZ 1967 S. 297-303; 329 – 338, Konrad Redeker und Ernst-Walter Hanack, Vorträge auf der Königsteiner Klausurtagung des 46. DJT 1967: Probleme der Verfolgung und Ahndung von NSG, Band II (Sitzungsberichte), Teil C, S. 45 ff, 53 ff; Bertram, a.a.O. (Fußn. 10); vgl. auch LG Hamburg vom 09. 03. 1976 NJW 1976, 1756 mit Anm. Hanack