(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 1/07, 25) < home RiV >


Die verfassungsrechtlich geschützte Stellung von Strafgefangenen

I.      Rasante Veränderung des kriminalpolitischen Diskurses

Der kriminalpolitische Diskurs hat sich im letzten Jahrzehnt geradezu revolutionär verändert (vgl. zuletzt in MHR: Roth, MHR 3/2002, 17), obwohl unsere Werteordnung, wie sie etwa im Grundgesetz und in der Europäischen Menschenrechtskonvention postuliert ist, konstant geblieben ist. Soziologen sprechen von einer neuen Lust am Strafen, von einer Obsession nach Sicherheit, wie sie in dem bekannten Kanzlerwort vom „Wegschließen für immer“ ihren Ausdruck gefunden hat.

Straftäter werden zunehmend nicht mehr als Mitmenschen gesehen, die durch Behandlung und Resozialisierung wieder in unsere Mitte einzugliedern sind, sondern als Andersartige, als Gesellschaftsfeinde, die unserer Zuwendung nicht wert sind. An dieser Stelle sei nur an das Wiederaufleben der Diskussion um ein Feindstrafrecht erinnert, das „Feinden“ unserer Rechtsordnung ein radikales Strafrecht verpassen will. Die Ausbürgerung von Menschen aus dem normalen Recht wurde in Deutschland zuletzt mit schlimmsten Auswirkungen im Dritten Reich praktiziert, gehört aber selbst in demokratischen Staaten leider nicht der Vergangenheit an – Guantanamo lässt grüßen.

Hier ist weder die Zeit noch der Ort, den Ursachen für den radikalen Wandel der öffentlichen Meinung zum Umgang mit Straftätern nachzugehen. Festzuhalten bleibt aber, dass die von Ulrich Beck beschriebene Risikogesellschaft sich auch im Strafrecht etabliert hat: In der Angst vor zum Teil verheerenden Risiken wie Kriegen, Terrorismus, Umweltzerstörung, Verlust eines angemessenen Arbeitsplatzes und einer ausreichenden Altersversorgung hat der Ruf nach mehr Sicherheit eine steile Karriere angetreten.

Auch der Gesetzgeber hat diesen Ruf nach mehr Sicherheit nicht überhört. So hat es im Strafrecht in den letzten Jahren zahlreiche Verschärfungen gegeben. Nur beispielsweise sei hier an das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten von 1998 und an die in mehreren Stufen erfolgte Ausweitung der Sicherungsverwahrung, die immer noch nicht abgeschlossen ist, erinnert.

II.       Verfassungsrang des vorrangigen Vollzugszieles der Resozialisierung

Zugleich hat sich der Gesetzgeber aber bisher der wiederholt von einzelnen Bundesländern geforderten Verschärfung des Strafvollzuges, etwa durch die Zurückdrängung des Vollzugszieles der Resozialisierung, verweigert. Wie ist das zu erklären? Darauf gibt es eine einfache Antwort: Der Vorrang der Resozialisierung im Strafvollzug hat Verfassungsrang und kann deshalb gesetzlich nicht abgeändert werden.

Schon drei Jahre vor Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes von 1976 hatte das Bundesverfassungsgericht die Resozialisierung als das „herausragende Ziel“ des Vollzuges eingestuft, um dann fortan immer wieder zu betonen, dass sich das Resozialisierungsgebot unmittelbar aus der Verfassung ableitet. Der Verfassungsrang des Vollzugszieles der sozialen Integration verpflichtet den Gesetzgeber, ein wirksames Resozialisierungskonzept zu entwickeln und den Strafvollzug vorrangig und konsequent daraufhin auszurichten. Dem einzelnen Gefangenen kommt ein aus Art. 2 Abs.1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG abzuleitender grundrechtlicher Anspruch auf Resozialisierung zu (vergl. dazu BVerfG E 35, 202, 235; E 45, 187, 238f; E 98, 169, 200f und Urteil v. 31.05.2006 – 2 BvR 1673 u. 2402/04). Im Einzelnen gilt folgendes:

1.) Der Verfassungsrang des vorrangigen Vollzugszieles der Resozialisierung leitet sich aus drei wesentlichen Verfassungsgrundsätzen ab, die nicht zur Disposition des Gesetzgebers stehen: Allem voran steht die in Art. 1 Abs. 1 GG normierte Pflicht zur Achtung der Menschenwürde jedes Einzelnen. Es folgen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG. Der Vollzug von Freiheitsstrafe als besonders tief greifender Grundrechtseingriff ist mit diesen Verfassungsprinzipien nur dann vereinbar, wenn er konsequent auf eine straffreie Zukunft des Gefangenen gerichtet ist. Zugleich folgt die Notwendigkeit, das Resozialisierungsgebot nachdrücklich umzusetzen, nach dem Bundesverfassungsgericht auch aus der staatlichen Schutzpflicht für die Sicherheit aller Bürger. Nur das intensive Bemühen um die soziale Integration der Gefangenen vermag auf Dauer wirksam vor Rückfalltaten zu schützen.

2.) Mit besonderem Nachdruck hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 31. Mai 2006 darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber verpflichtet sei, ein wirksames Resozialisierungskonzept zu entwickeln und den Strafvollzug konsequent darauf aufzubauen. Dabei habe der Staat die erforderlichen personellen und sachlichen Ressourcen für den gebotenen Resozialisierungsvollzug dauerhaft zu sichern. Dies betreffe insbesondere Formen der Unterbringung und Betreuung, die soziales Lernen in Gemeinschaft, aber auch Schutz der Inhaftierten vor wechselseitiger Gewalt ermöglichten, ausreichende pädagogische und therapeutische Betreuung, hinreichende Ausbildungsmöglichkeiten und angemessene Hilfen bei der Entlassungsvorbereitung und der Phase nach der Entlassung.

3.) Bei der Ausgestaltung des Resozialisierungskonzeptes - so das Bundesverfassungsgericht weiter - habe der Gesetzgeber wissenschaftliche Erkenntnisse und Praxiserfahrungen auszuschöpfen und sich sorgfältig mit der Wirksamkeit unterschiedlicher Vollzugsgestaltungen und Behandlungsmaßnahmen auseinander zu setzen. Geboten sei die gezielte Erforschung der Faktoren für Erfolge und Misserfolge des Vollzuges, insbesondere der Rückfallhäufigkeiten.

Diese wohltuend sachlichen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts sind nicht nur rechtlich stringent, sie stimmen darüber hinaus mit einer rationalen Kriminalpolitik überein, die sich an den Erfahrungen der Vollzugspraktiker und an den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert. Die verfassungsrechtliche Durchdringung des Strafvollzuges durch das Bundesverfassungsgericht ist eine große Kulturleistung der vergangenen Jahrzehnte.

 

III.    Hamburg, Hessen, Niedersachsen und Bayern wollen im Wege einer verfassungswidrigen Gegenreform den Vorrang der Resozialisierung kippen

 

Allerdings können wir nicht die Augen davor verschließen, dass der hamburgische Justizsenator und die Justizminister und -ministerinnen von Hessen, Niedersachsen und Bayern sich unter weitgehender Zustimmung der Öffentlichkeit ungestraft über die Verfassungsgebote zum Strafvollzug hinwegsetzen, obwohl sie alle einen Amtseid auf die Einhaltung der Verfassung abgelegt haben.

Mit der Föderalismusreform von 2006 ist die Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug bekanntermaßen auf die Länder übergegangen. Ganz offen plädieren die genannten Länder dafür, den Vorrang des Resozialisierungszieles zugunsten einer stärkeren Betonung der Sicherheit der Allgemeinheit aufzugeben - gemeint ist damit unausgesprochen ein kostengünstigerer Verwahrvollzug mit einer „Resozialisierung light“. Mit der Postulierung eines erhöhten Schutzbedürfnisses der Bevölkerung wird geschickt die in der Öffentlichkeit vertretene Forderung nach einem härteren Umgang mit Straftätern aufgegriffen, die ihrerseits wiederum zu großen Teilen aus der unseriösen Berichterstattung der Massenmedien über spektakuläre Straftaten gespeist wird. Man kann heute - wie wir in Hamburg leidvoll erfahren haben - mit verantwortungslosen populistischen Thesen zum Thema Kriminalität und Strafvollzug Wahlen gewinnen.

1.)   Gegenreformer handeln verfassungswidrig

Nachdem Kusch zwischen 2002 und 2006 durch die Zurückdrängung der Resozialisierung einen in seiner Grundausrichtung verfassungs- und gesetzeswidrigen Strafvollzug installiert hat, will der jetzige Justizsenator Lüdemann offensichtlich noch eins draufsetzen, indem er versucht, diesem unhaltbaren Zustand durch ein – insoweit verfassungswidriges – hamburgisches Landesgesetz eine nachträgliche Schein-Legitimität zu verschaffen. Auf einer Pressekonferenz am 21. Juli 2006 hat Lüdemann deutlich gemacht, dass er „mit Verve“ ein hamburgisches Strafvollzugsgesetz auf den Weg bringen wolle. Es sei schon vieles von seinem Vorgänger angeschoben worden und das werde er vollenden. Die Verschärfung des Strafvollzuges sei richtig und wichtig. Mit dem früheren Laisser-faire von Rot-Grün könne man nicht resozialisieren. Als vorrangiges Vollzugsziel müsse die Sicherheit der Bevölkerung verankert werden.

 

2.)     Gegenreformer handeln irrational

 

Wie begründen nun Landespolitiker ihren Generalangriff auf den verfassungsrechtlich zwingenden Vorrang der Resozialisierung? Im Wesentlichen sind es drei Thesen, die immer wieder angeführt werden:

Die erste Behauptung geht wider besseres Wissen dahin, dass der Resozialisierungsvollzug nichts bringe und daher rausgeschmissenes Geld sei. Vielmehr schaffe ein härterer Vollzug mehr Sicherheit. Diese These ist längst wissenschaftlich widerlegt: Zahlreiche Untersuchungen in Deutschland und im anglo-amerikanischen Raum belegen, dass ein qualifizierter Behandlungsvollzug die Rückfallquote durchaus um mindestens 10-15% senken kann. Umgekehrt belegt eine 2002 veröffentlichte Studie aus den USA über 270.000 Gefangene, dass der Anteil rückfälliger Täter trotz härterer Strafen und trotz härteren Vollzuges um rund 5% gestiegen ist, weil Resozialisierungsmaßnahmen zugunsten von immer neuen Gefängnisbau-Programmen gestrichen worden sind. Auf Hamburg bezogen nenne ich hier nur das Stichwort „Billwerder“.

 

Die zweite These der Gegenreformer geht dahin, dass immer mehr Gefangene, darunter Ausländer mit fehlenden sozialen Bindungen, Drogen- und Alkoholabhängige und gefährliche Gewalttäter für den Vollzug behandlungsungeeignet seien. Dem ist entgegenzuhalten, dass gerade diese besonderen Problemgruppen einen erhöhten Behandlungsbedarf bedingen und nicht eine Zurückdrängung des Behandlungsvollzuges begründen können.

Hinsichtlich der Ausländer ist an dieser Stelle klar zu stellen, dass diesen im Strafvollzug die gleichen Rechte zukommen wie deutschen Gefangenen. Noch haben wir kein Feindstrafrecht in Deutschland, das bestimmten Personengruppen nur Rechte minderer Art zubilligt. Auch Ausländern steht im Vollzug ein grundrechtlicher Anspruch auf Resozialisierung zu. Abermals missachtet Kusch die verfassungsrechtlichen Vorgaben, wenn er im April 2006 im Fernsehen äußert: “Einen türkischen Mörder erziehen – haben wir nichts besseres zu tun hier?“

 

Auch die dahin gehende dritte These der Gegenreformer, die Gefangenen seien zunehmend nicht resozialisierungsbedürftig oder –willig, geht ins Leere: Über jeden nicht resozialisierungsbedürftigen Gefangenen wird der Vollzug sich freuen, weil dann keine besonderen Bemühungen zu entfalten sind. Auch weiterhin wird die Zahl dieser Gefangenen jedoch denkbar gering bleiben. Ein Argument gegen den Behandlungsvollzug kann dies daher nicht sein. Soweit es um behandlungsunwillige Gefangene geht, gebietet es das Menschenbild des Grundgesetzes, diese nicht links liegen zu lassen - wie es der in Hamburg derzeit propagierte Chancenvollzug praktiziert - , sondern sich verstärkt um diese Gefangenen zu bemühen. Das geltende Recht schreibt dem gemäß in § 4 StVollzG vor, dass die Bereitschaft des Gefangenen, an seiner Behandlung und an seiner sozialen Integration mitzuwirken, zu wecken und zu fördern ist.

IV.   Der verfassungswidrigen Gegenreform ist entschieden entgegenzutreten!

Nach allem zeigt sich, dass die von einigen Bundesländern beabsichtigte Zurückdrängung des Vollzugszieles der Resozialisierung zugunsten eines auf vermehrte Verwahrung ausgerichteten Vollzuges nicht nur verfassungswidrig ist, sondern auch den Erkenntnissen einer rationalen Kriminalpolitik widerspricht. Die Gegenreformer können nichts von Gewicht in die Debatte einbringen. Sie müssen sich vielmehr mit irrationalen populistischen Thesen begnügen. Das ist verantwortungslos und gefährlich zugleich: Entgegen den Erwartungen der Öffentlichkeit wird mit der Zurückdrängung der Resozialisierung nicht mehr Sicherheit, sondern mehr Unsicherheit geschaffen, weil dann die Rückfallkriminalität zwangsläufig steigt.

 

Zur Gegenreform im Strafvollzug haben die Vollzugswissenschaftler Dünkel und Schüler-Springorum vor kurzem unter dem Titel „Der Wettbewerb der Schäbigkeit ist schon im Gange“ einen äußerst lesenswerten Artikel in der Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe veröffentlicht. Lassen Sie mich mit einem Zitat aus diesem Aufsatz schließen: „Forderungen, die Sicherheit zum gleichwertigen oder sogar vorrangigen Vollzugsziel aufzuwerten, sind nicht nur blanker Populismus, sondern auch der Versuch, eine in mehr als einhundertjähriger Rechtsentwicklung gewachsene zivilisatorische Kulturleistung rückgängig zu machen. Hessen und Hamburg sind die unrühmlichen Beispiele einer wider bessere empirische Einsicht verfolgten irrationalen Kriminalpolitik“(ZfStrVo 2006,145).

 

Es ist daher an jedem einzelnen von uns, dem entschieden und beharrlich entgegenzutreten.

 

Reinhold Roth