(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 1/07, 18) < home RiV >


Das neue Richterbild[1]

 

Es ist fast auf den Tag 50 Jahre her, dass der berühmte Rechtslehrer Prof. Dr. Fritz Baur seine Tübinger Antrittsvorlesung zu dem Thema hielt „Ausgleich durch Richterspruch – Ein Beitrag zum Wandel des Richteramts", eine allerdings etwas betuliche Betrachtung, eben ein Stück 50er Jahre[2].

Ich möchte mit den kurzen Ausführungen eine ganz persönliche Einschätzung wiedergeben, die geprägt ist durch meine eigene Einstellung zum Richterberuf.

 

I. Thema Richterbild

   - ein altes oder neues Thema?

 

Es ist zunächst eine Banalität, dass mit gesellschaftlicher Entwicklung und Veränderung auch stets eine Veränderung des Richterbildes einhergeht, aber natürlich mit zeitlicher Verzögerung, aber eben doch manifest.

So hat schon im Jahre 1904 ein Richter in einer kleinen Schrift über den deutschen Richter die mangelnde Akzeptanz der Gerichte in der Bevölkerung beklagt und gefordert: „Das wichtigste und notwendigste Mittel, das Vertrauen des deutschen Volkes zu seinen Richtern wieder zu heben, ist aber die Umgestaltung und Verbesserung der Gesetze nach Maßgabe der Verhältnisse und Bedürfnisse …" - eine klare Ursachenanalyse, die man auch heute noch oder wieder für zutreffend halten kann.

Aber der Wechsel war in der Vergangenheit nicht so kurzatmig – alle Entwicklungen haben eine innere Beschleunigung erfahren –, und der Wechsel geschieht unabhängig von Thesen und Absichtserklärungen als Abbild sich von selbst vollziehender Entwicklungen.

 

II.    Deshalb ein kurzer Rückblick auf die Vergangenheit

 

Dieser offenbart m. E. zwei wesentliche Errungenschaften, deren Wert wir in der Alltagsarbeit kaum zur Kenntnis nehmen, aber glücklicherweise auch nicht in Frage stellen:

Das Bild des „gelehrten" Richters hat sich behauptet und verdient dies auch.

Streitentscheidung durch ausgebildete Juristen ist uns selbstverständlich. Laiengerichtsbarkeit im strengen Sinne haben wir nicht, wohl aber Laienbeteiligung.

Noch wichtiger aber ist die richterliche Unabhängigkeit (Art. 20 Abs. 3 GG: Bindung nur an Gesetz und Recht. Besonders aber Art. 97: Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen).

Wie lang diese Tradition ist, wissen wir aus der nachrevolutionären Verfassungsdiskussion, aber auch schon aus dem Fall des Müllers Arnold.

Diese äußere Unabhängigkeit ist allgemein akzeptiert. Ihr muss aber auch eine innere Unabhängigkeit entsprechen. Die Bewahrung dieser Unabhängigkeit ist den Richtern selbst anvertraut. Die Grenzziehung ist gelegentlich sicher problematisch (z.B. bei der Frage der Dienstzeit).

Bei einem Vortragskurs in Peking löste die Schilderung der verfassungsmäßig abgesicherten und wirklich gelebten richterlichen Unabhängigkeit ungläubiges Staunen aus. In der Diskussion kamen die Teilnehmer  Rechtsanwälte und post graduate students ‑ immer wieder mit Fragen auf dieses Thema zurück.

Zum Konflikt kann es allerdings kommen, wenn unabhängige Richter über unabhängige Richter richten sollen. Gemeint ist die Dienstgerichtsbarkeit.

 

Juristen sind ja dafür bekannt, dass sie immer einen Fall zu erzählen haben. Hier also der sog. Dummdreisten-Lüge-Fall:

Ein Richter hatte im Rahmen eines Bußgeldverfahrens in der mündlichen Urteilsbegründung das Verteidigungsvorbringen der Betroffenen als „dummdreiste Lüge" bezeichnet[3]. Dies führte zu einem Vorhalt durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts. Der betroffene Richter rief das Dienstgericht an mit der Begründung, die dienstaufsichtliche Maßnahme beeinträchtige seine richterliche Unabhängigkeit, und beantragte die Aufhebung des Vorhalts. Das Dienstgericht und der Dienstgerichtshof wiesen den Antrag zurück, die Revision des Richters hatte Erfolg. In den Entscheidungsgründen des Urteils heißt es:

Die Charakterisierung einer Einlassung als ‚dummdreiste Lüge’ hält sich im Rahmen der in Betracht kommenden tatsachenadäquaten Wertung prozessualen Verhaltens. Aus dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung … folgt, dass dem Richter nicht vorgeschrieben werden kann, welche Wertung er im Einzelfall auf Grund welcher Sachlage als tatsachenadäquat ansehen darf. Der Bereich seines Ermessens endet erst dort, wo sein Werturteil als offensichtlich abwegig erscheint … Der Antragsteller hat diesen Bereich nicht überschritten. … Es kann keine Rede davon sein, dass der Antragsteller die Betroffene ’zusätzlich herabgesetzt’ oder gar in ihrer Würde als Mensch angetastet habe."

 

Die besondere Sicherung der Richtertätigkeit gegen äußere Einflussnahme ist m. E. auch der Grund dafür, dass im Bereich der Justiz noch kein Fall von Korruption bekannt geworden ist.

 

III.           Diese Stellung des Richters führte konsequenterweise zur Diskussion über das Richterbild im Sinne eines Anforderungsprofils.

 

Die Diskussion erhitzte sich nach 1968. Sie hatte mit Fritz Baurs Betulichkeit von 1956 nichts mehr gemein und war gekennzeichnet von Schlagworten wie „der Richter als Sozialingenieur", „Aufeinandertreffen von Rechts­staat und Sozialstaat", „Umformung der richterlichen Unabhängigkeit und ihre Garantie". Es wurde in diesem Zusammenhang die Frage nach der Zukunft der Justiz gestellt – so von keinem Geringeren als Kissel, damals Präsident des OLG Frankfurt, später Präsident des BAG, justizförmiges Streiten als unrationell kritisiert[4].

Diese Auseinandersetzungen und justizkritischen Ansätze für Reformen sind nicht folgenlos geblieben und haben sicher eine Neubesinnung und ein geschärftes Bewusstsein für die Bedeutung der Justiz und ihre Verankerung in der Gesellschaft bewirkt, aber in der damaligen Zuspitzung hat die Entwicklung diese Kritik nicht aufgenommen, weil sich ein großer Teil der Debatte schlicht totgelaufen hat.

 

IV.              Eine Veränderung des Justizbildes hat sich aber außerhalb jeder Gesetzgebung und ohne politischen Aktionismus vollzogen. Es ist die Realität der gesellschaftlichen Anforderungen:

-      mehr Transparenz

-      mehr Kooperation

-      mehr Partnerschaft.

Ich weiß, um evtl. Einwänden gleich zu begegnen: Es gibt auch schlechte Beispiele – es gibt immer noch

-  Überraschungsentscheidungen

-  Richter, die man nicht erreicht

-  Fehlende Bereitschaft zum Rechtsgespräch, aber

- und das ist eine meiner Thesen: das Bild hat sich entscheidend gebessert.

So wage ich die Behauptung, dass vieles von dem, was der frühere Präsident des LG Hamburg Dr. Makowka in seiner Schrift „Das humane Gericht" 1991[5] gefordert hat, heute für Richter zum beruflichen Selbstverständnis gehört. Zitat unter der Überschrift: Der Richter – kein flüchtiger Gast im Gebäude:

Die ihm anvertraute Verantwortung und Macht in seiner richterlichen Funktion fordert von ihm ein Mehr an Einsicht, Rücksichtnahme, Aufgeschlossenheit und ein Stück Demut gegenüber den ihn umgebenden sozialen Prozessen."

 

V.            Wodurch ist nun die Justizkritik in unseren Tagen gekennzeichnet?

 

Natürlich gibt es auch dies noch immer:

-       Kritik in der Presse

-       Kritik von Seiten der Wissenschaft,

-       kurz eine öffentliche Justizkritik.

Sie wird es immer geben, wenn auch hoffentlich mit immer weniger Berechtigung.

Vollkommen neu ist dagegen eine auch qualitativ andere Art der Justizkritik. Ich möchte sie als institutionell bezeichnen. Was ist damit gemeint? Gemeint sind Anforderungsprofile, wie sie

-       an Unternehmen

-       an Verwaltungseinheiten und eben auch

-       an die Justiz herangetragen werden,

eine Art nachfragebezogenes Benchmarking.

 

VI.          Ein Blick in die Zukunft – was ist
charakteristisch?

 

Diese Forderungen und Herausforderungen muss die Justiz vor den Augen einer kritischen Öffentlichkeit (Stichwort Transparenz; insbesondere auch Medienöffentlichkeit), bewältigen, und zwar ohne dass sie Einfluss auf die Mittel nehmen kann, die ihr dafür zur Verfügung stehen. Gleichwohl wird die Justiz an Effizienzkriterien gemessen. Wir arbeiten mit Begriffen wie Kosten-Leistungsrechnung, neues Steuerungsmodell, Benchmarking, Qualitätszirkel.

 

Der Richter als Dienstleister? Ist der „gelehrte" Richter zu alternativer Streitschlichtung aufgerufen? Ist seine Tätigkeit nach der Zahl der Erledigungen zu beurteilen?

 

Das Ziel der Effizienz und von alternativen Streitschlichtungsverfahren ist an sich gut! Vor allem die lange Dauer von Gerichtsverfahren ist ein Problem und nach außen in vielen Fällen nicht zu vermitteln. Dies gilt sowohl für Zivil- als auch für Strafprozesse, nur leider sind die Gründe dafür so vielschichtig, dass sie sich einer einfachen Analyse und monokausalen Erklärung entziehen. Sie liegen jedenfalls nicht begründet in der Faulheit der Richter – auch hier gibt es natürlich Ausnahmen – sondern sehr oft in prozessualen Regelungen.

 

Derartige Zielkonflikte führen zur Suche nach anderen Lösungen: Verstärkte Inanspruchnahme der Schiedsgerichtsbarkeit (hervorzuheben ist hier das Wirken der Handelskammer), Mediation, Deal im Strafverfahren.

 

Gleichwohl wird all dies voraussichtlich an der starken Belastung der Justiz nichts ändern, denn es kommen durch die fortschreitende Internationalisierung ja immer neue Problemfelder hinzu, auf die die Richter in ihrer Aus- und Fortbildung wiederum vorbereitet werden müssen.

Ich möchte nicht missverstanden werden. Es ist richtig, dass auch die Justiz insgesamt kostenbewusst arbeitet und mit den zur Verfügung gestellten Mitteln sachgerecht wirtschaftet, aber hier lauert auch eine Gefahr für die richterliche Unabhängigkeit. Die Unabhängigkeit wird zu einer bloßen Hülle, wenn ein Richter in seiner Leistung danach beurteilt wird, wie viele Fälle er mit welchem Kostenaufwand „erledigt" (Thema: Richter zwischen Ethik und Ökonomie!).

Solchen Gefahren ist vorzubeugen und rechtzeitig zu begegnen. Gefordert ist dabei auch die zuvor angesprochene innere Unabhängigkeit, die den Richter in der Ausübung seines Richteramtes von der Rücksichtnahme auf Befürchtungen dieser Art ebenso wenig beeinflusst wie die Sorge um eine nicht förderliche Beurteilung.

Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt betont, dass der Staat verpflichtet ist, die Gerichte mit den erforderlichen persönlichen und sachlichen Mitteln auszustatten, die es den Gerichten erlauben, anstehende Verfahren ohne vermeidbare Verzögerungen abzuschließen. Darauf hat der Präsident des BVerfG Prof. Papier kürzlich erst wieder ausdrücklich hingewiesen.

 

Ein Stichwort muss in diesem Zusammenhang als Ausblick in eine hoffentlich nicht zu ferne Zukunft noch Erwähnung finden: die Selbstverwaltung der Justiz.

Deutschland ist in Europa eines der wenigen Länder ohne eine selbstverwaltete Justiz. Diese Selbstverwaltung wird ausgeübt von Obersten Richterräten, allerdings gibt es sehr unterschiedliche Modelle, insbesondere auch solche, in denen die Räte nicht nur die Aufgaben zum Schutz der richterlichen Unabhängigkeit und die Selbstverwaltung für die richterliche Laufbahn (Einstellung, Beförderung, Aus- und Fortbildung, Dienstrecht) wahrnehmen, sondern auch eine aktive Rolle in der Planung, im finanziellen und administrativen Management der Gerichte sowie in der Organisation und Leitung der Rechtspflege spielen.

Wenn wir so weit sind, werden wir sicher wieder über ein neues gewandeltes Richterbild diskutieren können.

 

Inga Schmidt-Syaßen


[1] Vortrag; gehalten am 27.11.2006 im Übersee-Club. Der Vortragsstil wurde beibehalten.

[2] JZ 1957, 193 ff.

[3] BGHZ 70, 1

[4] vgl. Nachw. bei Richter, JZ 1974, 345

[5] http://www.richterverein.de/j2000/mako.pdf