(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/06, 16) < home RiV >
Eckpunkte einer Rahmentheorie
richterlicher Ethik[1]
Die (für alle Interessierten offene) Schleswiger Ethikrunde hat auf ihrem Gründungstreffen vom 15. Mai 2006 beschlossen, das Projekt „Richterliche Ethik“ fortzusetzen. Eine (wenn nicht: die) wesentliche Voraussetzung für ethische Standards - darin bestand Einvernehmen - ist die Transparenz von Verfahren und Inhalten. Dies gilt auch für das Projekt selbst. Die folgenden Überlegungen wollen in diesem Sinne einen Anstoß für die weitere Diskussion geben.
Richterliche Ethik als personale Sonderethik
Gegenstand einer richterlichen Ethik ist das an Gut und Böse orientierte Verhalten des Richters, auch und gerade insofern es nicht die (durch die materielle und Verfahrensrechtsordnung bestimmte) Entscheidung konkreter Sachverhalte betrifft. Damit deckt die richterliche Ethik per definitionem einen Teilbereich der allgemeinen Ethik ab, die sich als die Wissenschaft vom menschlichen Handeln und Verhalten in sittlicher Hinsicht definieren lässt (Ev. Staatslexikon, 3. Aufl., „Ethik“, vgl. auch Staatslexikon, 7. Aufl., „Ethik“). Die richterliche Ethik ist eine Sonderethik - zunächst – in personaler Hinsicht: Besonderer Adressat der richterlichen Ethik ist der Richter.
Zum ersten Prüfstein einer richterlichen Ethik wird insofern die begriffliche Abgrenzbarkeit ihres Adressaten. In Betracht kommen Spruchrichter, Schiedsrichter, Richtermediator, Schlichter u. a. Der Klarheit und Einfachheit halber soll hier – als Kernbereich – der enge Richterbegriff zugrunde gelegt werden, also derjenige des Spruchrichters.
Sinn und Zweck einer richterlichen Sonderethik
Das Bedürfnis nach einer richterlichen Ethik leitet sich aus der Machtstellung ab, die mit der richterlichen Entscheidung verbunden ist. Richterliche Erkenntnisprozesse sind – solange nicht einem Subsumtionsautomaten das Wort geredet wird – nicht frei von willkürlichen Elementen. Die Spannung zwischen Recht und Gerechtigkeit hat das BVerfG einprägsam formuliert: „Das Verfahrensrecht dient der Herbeiführung gesetzmäßiger und unter diesem Blickpunkt richtiger, aber darüber hinaus auch im Rahmen dieser Richtigkeit gerechter Entscheidungen“ (BVerfGE 42, 73) - dies gilt für das materielle Recht genauso. Bei einer richterlichen Ethik geht es um den Gebrauch („Praxis“) der Gerechtigkeit im Umgang mit dem Recht. Festzustellen ist demnach eine Zweistufigkeit: Zunächst deckt sich die Diskussion um eine richterliche Ethik mit der - allgemeinen - Gerechtigkeitsdebatte. Insoweit kann auf diese verwiesen werden. So vielschichtig aber der Gerechtigkeitsbegriff ist, die richterliche Ethik greift darüber hinaus. Weil sie akzessorisch zum Erkenntnis- und Entscheidungsprozess ist, wirkt sie bis in das faktische Umfeld der Entscheidungsfindung zurück. Denn sie zielt darauf ab, eine Vertrauensgrundlage und eine Stetigkeit zu schaffen, die geeignet ist, nicht nur (wie das Ablehnungs-/Befangenheitsverfahren) in den Augen Dritter und rechtsförmig, sondern tatsächlich und wahrhaftig freie Willkür zu bändigen. Es handelt sich mithin um einen von der allgemeinen Debatte zu lösenden prozeduralen Ansatz, der - auch in der Durchführung – prozessordnungsakzessorisch bleibt (Schüller, SchlHAnz 2006, 145 ff, 146): Nur wo sich „Entscheidungsfenster“ öffnen, besteht Anlass, Willkür zu besorgen; nur insoweit bedarf es des Vertrauens in die Lauterkeit und Verlässlichkeit des Richters als solchen.
„Staatsfreiheit“ und Verbindlichkeit
einer richterlichen Ethik
Adressat und Zweck der richterlichen Ethik korrelieren mit dem Begriff der richterlichen Unabhängigkeit, die denklogisch eine Freiheit des Richters voraussetzt. In ihrem Begründungszusammenhang lässt sich die richterliche Ethik somit mittelbar aus der allgemeinen Staatslehre, nämlich der Gewaltenteilung, herleiten. In Theorie und Praxis ist die richterliche Ethik dann aber eine staatlich definierte Ethik, denn sie folgt einem Gesetzes- bzw. Verfassungsbegriff, ebenso wie ihr Zweck dienender Natur ist (Art. 20 Abs. 3, 92 GG): Soll sie doch das Rechtsideal der Unabhängigkeit des Richters und seiner gerechten Entscheidung ausfüllen und sichern.
Die richterliche Ethik erschöpft sich darin, der Fiktion des „billig und gerecht Denkenden“ einen Rahmen zu geben. Fraglich ist freilich, ob eine solche rechtlich generierte – und begrenzte - Ethik gegenüber der Rechtsordnung hinreichend selbständig ist. Kann eine rechtsakzessorische Materie dem Anspruch an eine Ethik gerecht werden? Zwar ist nach Kelsen die Rechtsordnung ein geschlossenes System aus einer sog. Grundnorm abgeleiteter rechtlicher Ermächtigungsnormen. Mit H. L. A. Hart kann der Geltungsgrund des Rechts aber auch tatsächlich bestimmt werden. Nach beiden Ansätzen gerät eine richterliche Ethik in die Gefahr allzu großer Rechtsnähe, insofern sie auf der begrenzten Regelbarkeit beruhende Lücken des (idealen) Rechtssystems schließt.
Sicher ist: Eine Moralnorm muss sich in Geltungsgrund und Verbindlichkeit von einer Rechtsnorm klar unterscheiden. Mit anderen Worten: Die richterliche Ethik darf sich nicht unter der Hand in einen Appendix der Rechtsordnung verwandeln. Das nämlich wäre selbstwidersprüchlich, denn moralische Normen schöpfen ihre Geltung gerade nicht aus rechtlicher Ermächtigung. Die richterliche Ethik darf nicht aus ihrem Begründungszusammenhang heraus in den Sog der Rechtsordnung geraten. Eine Ethik hat vielmehr im Sinne der Trennung von Staat und Gesellschaft notwendig „staatsfrei“ zu sein. Sie findet im wahrsten Sinne des Wortes „im rechtsfreien Raum“ statt. Dieser Feststellung stehen praktische Interdependenzen konkurrierender Normensysteme nicht entgegen: Selbstverständlich stehen Recht und Moral nicht beziehungslos nebeneinander. Als Eckpunkt bleibt festzuhalten, dass eine richterliche Ethik außerhalb ihres Begründungszusammenhangs konsequent rechtsfrei gehalten werden muss, auch und gerade im Hinblick auf ihre Verbindlichkeit. Etwa rechtsförmige Sanktionen - dazu gehören auch disziplinarische Maßnahmen - überschritten die Grenzen einer richterlichen Ethik.
Diskursbezug und Einzelproblemorientierung
Handelt es sich bei einer richterlichen Ethik um einen prozeduralen Ansatz, bleibt dieser – auch in der Durchführung – prozessordnungsakzessorisch: Wo das Recht Befangenheitsregelungen vorsieht, bedarf es weder einer konkurrierenden richterlichen Ethikkultur, noch ist eine solche vorstellbar (vgl. Schüller, a. a. O.). Dann aber variiert der oben genannte Zweck nicht nur auf Grund der unterschiedlichen Verfahrensordnungen und deren gesetzlicher Leitbilder (Beibringung oder Amtsermittlung?), sondern auch und vor allem zwischen den Instanzen (Tatsachen- vs. Revisionsinstanz; ortsnaher Amts- vs. OLG-Richter). Als weiterer Eckpunkt bleibt festzustellen: Eine richterliche Ethik lässt sich als einheitliche Ethik nicht begründen; es besteht auch kein Bedarf für sie. Raum bleibt für eine diskursbezogene, einzelproblemorientierte Ethik.
Kein Ersatz für eine materiale Ethik
Zu klären ist schließlich das Verhältnis einer richterlichen Ethik zur allgemeinen Ethik. Folgt man den vorstehenden Ausführungen, kommt eine vorrangiger Ausschlusscharakter der richterlichen Ethik im Sinne einer „lex specialis“ nicht in Betracht. Zwar geht die (prozedurale) Verlässlichkeit der richterlichen Entscheidung womöglich einher mit der Freiheit von weiter gehenden Einflüssen. Zu solchen gehört eben auch eine materiale Ethik, der sich der gewissenhafte Richter verpflichtet fühlt. Jedoch ist der aufgezeigte Rahmencharakter, über den eine richterliche Ethik nicht hinaus greifen kann, nicht geeignet, an Stelle einer materialen Ethik eine abschließende Orientierung zu geben. Nicht ohne Grund liegt der freiheitlichen Rechtsordnung nicht das Leitbild einer verselbständigten richtigen Gerichtsentscheidung, sondern dasjenige des unabhängigen Richters zu Grunde (Art. 92 GG). Gesichtspunkte der Ethik erfordern keinen anderen, engeren Maßstab, ja ermöglichen ihn nicht einmal. Anderenfalls nämlich würde der unabhängige Richter durch das Zerrbild des - autoritär missbrauchsanfälligen - Subsumtionsautomaten ersetzt.
Ausblick
Damit bekommt die Ausarbeitung der richterlichen Ethik eine enge, aber genau bestimmbare Richtung: Es geht darum, Foren für einen außerrechtlichen Diskurs anzubieten mit dem Ziel, Entscheidungsstrukturen zu stabilisieren und transparent zu gestalten. Nicht mehr und nicht weniger. Wenig ist dies nicht.
Reinhard Wrege
[1] Info des Schl.-Holst. Richterverbandes 2/2006, 36