(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 1/06, 24) < home RiV >

Kleidung und Recht

 

Wo sonst pflegt man noch (oder wieder?) einen so gediegenen Stil: Feierlich werden den Absolventen des juristischen Studiums ihre Examensurkunden in der großen Universitätsaula überreicht – musikalisch umrahmt, intellektuell geschmückt mit einem Festvortrag. So geschehen in Rostock am 11. April 2004. Der Festredner war freilich nicht zu beneiden, musste er doch zwischen Skylla und Charybdis hindurchschiffen: Von Spezialthemen (seine wären ihm natürlich leicht zur Hand gewesen) wollten die glücklich Geprüften in ihren dunklen Anzügen an diesem Tage nun sicherlich nichts hören, und auf die steilen Höhen allgemeiner Reflexionen über „Recht und Sittlichkeit“, „Wandel der Rechtsidee“ usw. trieb es sie gewiss ebenso wenig. So hatte Ingo von Münch damals also über das offenbar leichter fassliche Thema „Kleidung und Recht“ geplaudert – fasslich, aber keineswegs anspruchslos und am allerwenigsten abgestanden, wie sich in der erweiterten Vortragsfassung[1] nachlesen lässt.

 

Unnötig zu sagen, dass die Aktualität schon des ersten Abschnitts „Islamische Kleidung“ ins Auge springt, was der Festredner vor fast zwei Jahren so kaum ahnen konnte. Im Kopftuchstreit geht es um gesellschaftliche Fragen von höchster Brisanz. Von Münch stellt die mehr oder minder tastende Rechtsprechung kurz und bündig vor und vergisst auch nicht, dazu noch – im Anhang (S. 56) – den Vers 31 der 24. Sure des Korans[2] anzuführen, über dessen Inhalt und Sinn sich die verwaltungsgerichtliche Judikatur immer wieder den Kopf zerbrechen musste[3]. Dazu gehören auch, weil zugleich Kleidungsprobleme: koedukativer Sportunterricht, Gemeinsames Schwimmen. Dass der „Konflikt“ der Kulturen mit den durchweg besänftigenden Entscheidungen – auch des BVerfG – vermutlich kaum schon ausgetragen sein dürfte, nahmen die Hörer mit auf ihren Weg (S. 13).

 

Inzwischen hat sich die Szene nicht eben aufgeheitert: Seitdem Necla Kelek, Seyran Ates, Ayaan Hirsi und andere tapfere Frauen ihr Leben riskieren, um der deutschen Öffentlichkeit ihre leidvollen persönlichen Erfahrungen mit Kopftuch, Zwangsheirat, Männergewalt und Frauenunterdrückung in islamischen Ländern und den hiesigen – formal immer noch deutschen! - „Parallelgesellschaften“ zu offenbaren (egal, ob sich dergleichen auf Koran-Suren stützt oder einfach auf Tradition und Predigt), werden die Gerichte sozusagen mit der Nase auf einen Erfahrungsbereich gestoßen, den sie künftig wohl ernsthafter als bislang in Betracht ziehen müssen.

Der 2. Senat des BVerfG jedenfalls, der - statt eine Sachentscheidung im Kopftuchstreit zu treffen – es bei einer Schiebeverfügung beließ, hatte sich einen empirischen Zugang zum Problem geradezu verbaut, indem er im Herbst 2003 zur Frage der „Botschaft des Kopftuchs“ einer Sachverständigen sein Ohr lieh, die aus der militanten Pro-Kopftuchszene kam und ein Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst für eine „deutsche Fatwa“ hielt[4].

Karikaturen – unser gegenwärtiges Großthema! - sind zwar etwas anderes als Kleidung, haben mit jener aber doch wohl ein gemeinsames Drittes: Beides sind Phänomene äußerer Art: Stoff oder Bild, die um des Propheten willen als geboten (Verhüllung) oder als verdammenswert (Blasphemie) gelten. Wie es hier weitergeht, weiß keiner. Aber der Applaus, der gegenwärtig in türkischen Quartieren Berlins dem aufpeitschenden Hetzfilm „Tal der Wölfe“ gespendet wird[5], gibt zu denken. Läuft solche Agitation nicht früher oder später auf Volksverhetzung hinaus, und zwar auf eine Tatbestandserfüllung ganz anderer Art als der übereifrige deutsche Novellengesetzgeber des § 130 StGB es sich vorstellen konnte oder wollte? Und unser wohl unvermeidliches Antidiskriminierungsgesetz: Wird jemand auch nur auf den Gedanken verfallen, seine Regeln auch dann anzuwenden, wenn Deutsche im eigenen Land aber fremdethnischen Milieu auf gleiche Teilhabe pochen?

 

Aber nun zurück zum Thema:

Für die weiteren Abschnitte (Zivile Kleidung / Berufskleidung / Uniformen / Sportkleidung / „Varia“) muss es bei dieser Aufzählung sein Bewenden haben. Jeder kommt hier auf seine Kosten, ob es um die Bekleidungsregel des Hamburger Übersee-Clubs (15), um Schul-Dress (18), Firmenkluft und „Unternehmensphilosophie“ (22)[6], Dienstkleidung des LH-Bordpersonals (23 f.) oder das „Ehrenkleid der Nation“: die Uniform (25 ff.) geht.

Wie, wenn - vom Straßburger Gerichtshof in die deutschen Streitkräfte hineinkatapultiert - Frauen auftauchen? Dann wirft der Gleichheitssatz plötzlich ungeahnte Probleme auf: „Es liegt auf der Hand, dass männliche Soldaten nicht unter Berufung auf den Gleichheitssatz beanspruchen können, alle ausdrücklich für Soldatinnen vorgesehenen Bekleidungsstücke als Dienstkleidung tragen zu dürfen“ (28, zit. BVerwG).

Und wie ist’s mit den langen Haaren, die sich auch manch’ junger Mann vom Barras nur ungern kurz schneiden lässt? „Der Bundesminister der Verteidigung“, bemerkt das BVerwG billigend, „hat die Regelung, deren Erstreckung auf sich der Antragsteller beansprucht, deshalb geschaffen, weil er der Auffassung war und ist, dass Frauen das Tragen langer Haare als besonderen Ausdruck von Weiblichkeit empfänden, d.h. der Gestaltung ihres äußeren Erscheinungsbildes allgemein und regelmäßig weit größere, grundlegende Bedeutung beimessen.“ (S. 28). Sehr hübsch, menschlich, lebensnah und vollkommen überzeugend – aber für einen maskulinen Querulanten kaum ganz plausibel; und auch sonst nicht ganz frei von Wertungswidersprüchen zu Begriffen und Vokabeln, die der Gleichstellungsdebatte gemeinhin ihr Gepräge geben.

Wer immer schon wissen wollte, was es – rechtlich! – mit der Trikotwerbung auf sich hat und welche Grenzen ihr gesetzt sind, der kommt S. 44 ff auf seine Kosten und wird im Anhang auch noch mit der neuesten Fassung der Spielkleidungs-Vorschriften des DFB versorgt – mit ihrer schlichten Ziffer 1 im § 2: “Die Werbung darf nicht gegen die allgemein im Sport gültigen Grundsätze von Ethik und Moral verstoßen“ –: Na ja, wir wollen das Thema „Recht und Rechtswirklichkeit“ nicht taktieren, es ist längst abgedroschen.

 

Der Abschnitt Roben und Talare (S. 33) dürfte unser besonderes Interesse wecken: Indem er sich nicht auf Rechte und Pflichten der Akteure beschränkt, sich bei ihren Amtshandlungen in bestimmter Weise zu kleiden, sondern auch über Sinn, Zweck, Praxis und Geschichte der ganzen Prozedur reflektiert, wird das Thema um die Frage erweitert, ob das wirkliche, das gesprochene Recht nicht auch einer "Kleidung" bedürfe, das Recht sozusagen selbst ein Recht auf Kleidung habe.

Das Ideal der Objektivität des Rechts, gar seine Sakralisierung, drängen dahin, das menschliche Subjekt des Rechtsprechers hinter der Amtskleidung verschwinden zu lassen - es zu verstecken und zu verleugnen, sagen moderne (freilich inzwischen nicht mehr ganz moderne) Kritiker, als deren gruppendynamisches Ideal der runde Tisch gelten kann. Das alles weiß der Autor mit Seitenblicken in die Weite (Ausland) und Tiefe (Geschichte) zu würzen.

Aber auch die Rechtsfragen kommen hier nicht zu kurz: Wer weiß, auf welcher Rechtsgrundlage die Richter des BVerfG rote Roben tragen? Man erfährt dies und mehr auf S. 34 f.  - so auch, dass und wieso ein Anwalt durch die Nötigung, vor Gericht eine Robe zu tragen, nicht in seiner Menschenwürde (!) verletzt wird.

 

Nacktheit im Recht – dies ließ sich unter die gewählte Überschrift beim besten Willen nicht mehr subsumieren, findet aber doch in den Varia eine abschließende Erwähnung (S. 51); die Entrüstung über (meist partielle) Nuditäten sind Theatergeschichte geworden. Das Publikum hat heutzutage nicht selten die Nase voll von Tabubrüchen, die längst zur öden Masche verkommen sind (S. 53 mit Anm. 98); aber das sind keine Rechts-, sondern nur noch Geschmacksfragen[7].

 

Günter Bertram


[1] Ingo von Münch: Kleidung und Recht, Berliner Wissenschaftsverlag: Rostocker Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 19, Berlin 2005, 60 Seiten, Euro 14,80

[2] “Und sag den gläubigen Frauen, sie sollen ihre Augen niederschlagen, und sie sollen darauf achten, dass ihre Scham bedeckt ist, den Schmuck, den sie am Körper tragen, nicht offen zeigen, ihren Schal sich über den Schlitz (des Kleides) ziehen.

 

[3] z.B. BVerwG vom 25.08.1993, Bd. 94, 82 (87 f), OVG Münster v. 12.07.1991 in NVwZ 1992, 77 (78 f); OVG Lüneburg vom 26.04.1991 in NVwZ 1992, 79 (80)

 

[4] zum Gutachten der auch mündlich angehörten Frau Dr. Karakasoglu vgl. BVerfG vom 24.09.2003 in NJW 2003, 3111 (3114). Zu ihrer damaligen Begutachtung Alice Schwarzer in FAZ vom 11.02.2006, S. 40. Frau K. trat als Wortführerin einer Unterschriftenaktion hervor, die sechzig sog. „Integrationsforscher“ hinter einem „Offenen Brief“ versammelt hatte, der am 1. Februar 2006 in der ZEIT gedruckt stand („Gerechtigkeit für die Muslime“) und Necla Kelek („Die fremde Braut“ u.a.) mit wilder Polemik angriff, sie der Unwissenschaftlichkeit und Ausländerhetze zieh. Dagegen Alice Schwarzer aaO.: Ihrem Mut verdanken wir alles - brillante Verteidigung der Angegriffenen, Entlarvung der Dürftigkeit, Anmaßung und Parteilichkeit der Verleumdung; vgl. ähnl. FAZ vom 09.02.06: Zwangsheiratsschwindler – Bitte unterschreiben: Wer sind Necla Kelecs Kritiker? FAZ vom 09.02.06: Islam in unserem Alltag – Warum Necla Keleks Erforschung der Muslime provoziert; FAZ v.03.02.06: Falsche Freiheit – Autorenbeschimpfung: Wer uns wachrüttelt, hat nicht recht.

 

[5] vgl. FAZ vom 16.02.2006: Filmische Hasspredigt; Mein Minderheitsgefühl: Am Schauplatz der Desinte-gration: „Tal der Wölfe“ im türkischen Familienkino; Christus-Karikaturen – Perfide Unterhaltung: Was im „Tal der Wölfe“ geschieht; FAZ vom 17.02.2006: Ich bin ein Türke – Selbstbilder: Was findet das Publikum im „Tal der Wölfe“?

 

[6] Dieser Art „Marken-Philosophie“ wird durchweg in schauderhaftem BWL-Jargon, aber todernst abgehandelt; so in FAZ vom 09.01.2006 (S.20: „Management“) Leben die Mitarbeiter ihre Marke? von F-R. Esch aus Gießen, Professor für BWL mit dem Schwerpunkt Marketing, Direktor des Instituts für Marken- und Kommunikationsforschung. Nur ein herausgegriffener Satz: „Der Roll-out der Markenidentität ist kaskadenförmig vorzunehmen. Neben herkömmlichen kommunikativen Maßnahmen sind Markenbotschafter zu schulen, die wiederum Manager in unterschiedlichen Bereichen trainieren müssen, die diese in Workshops in ihren Verantwortungsbereichen face-to-face ihre Mitarbeiter auf die Marke einstimmen und konkrete Vereinbarungen für markenkonformes Verhalten treffen können; in diesen Prozess sind frühzeitig relevante Gatekeeper einzubeziehen ...“ usw.

[7] Wie Geschmacksfragen doch wieder mit Rechtsfragen befrachtet werden können, ließ sich unlängst in einem Frankfurter Theater studieren: Als bei der Verhunzung und Verferkelung von Ionescos Massakerspiel einem Schauspieler die Miene des FAZ-Theaterkritikers Stadelmaier missfiel und dieser dann auch jede „Interaktion“ verweigerte, erging sich der Schauspieler in wüsten Beschimpfungen, nahm seinem Opfer die Notizen weg und verhöhnte schließlich den Hinausschreitenden, vgl. FAZ vom 18.02.2006: Ein Angriff – Bericht von einer Attacke; auch: Konsequenzen – In aller Form: Reaktionen auf den Angriff am Tag danach.