(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/05, 35) < home RiV >
„Riga ist die pulsierende Hauptstadt Lettlands. Sie lockt mit einer gut erhaltenen Altstadt, an deren mittelalterlichen Häuserfassaden sich die wechselvolle Geschichte ablesen lässt.“ So leitet jener Reiseführer1, den gut die Hälfte der 36 Richter und Staatsanwälte bei sich führten, seinen Stadtbericht über die lettische Kapitale ein.
Der Brockhaus2 konzentriert sich – sachlicher im Ton – auf Fakten wie „... an der Mündung der [...] Düna3 in der Rigaer Bucht, erstreckt sich über 307 km² in der z.T. versumpften Küstenebene, 1,5 bis 28 m ü.M., (1996)4 826.500 Ew. (davon etwa 60 % Russen, ferner Weißrussen und Ukrainer) ...“
Ganz so sachlich waren Auftakt und Ablauf der diesjährigen Assessorenreise nicht. Der Start am Hamburger Flughafen verlief – nach Ausstellung eines Passersatzpapiers anstelle eines abgelaufenen Personalausweises – zwar reibungslos, es zeigte sich aber bereits bei der Entscheidung, wann die Gepäckkontrolle zu durchqueren sei, das verbreitete Phänomen besonderer Trägheit größerer Reisegruppen.
In Riga gelandet, gefiel es zunächst einem Drogenhund des lettischen Zolls, sich in der Reisetasche eines Staatsanwalts lebhaft und unter grollendem Knurren zu verbeißen. Die Zeit, bis der Irrtum aufgeklärt war, konnte mit munter ausgetauschten Mutmaßungen über die Gründe, weshalb der deutsche Schäferhund anschlug, kurzweilig überbrückt werden; favorisiert wurde eine (zu) intensive Bearbeitung von Akten des Rauschgiftdezernates.
Diese Wartezeit holte die Reisegruppe „Tenorth“5 durch die Busfahrt zum Hotel – „ABC Camping Hotel“ – unproblematisch wieder auf. Nachdem es zunächst schien, als habe der Busfahrer sich verfahren, stellten wir bald fest, dass die Straßenführung ein längeres Hin- und Herfahren auf der Autobahn erforderte, um das eigentlich nur wenige hundert Meter vom Flughafen entfernte Hotel zu erreichen. Die - für einige Teilnehmer überraschenden - Drei- und Vier-Bett-Zimmer waren zügig verteilt; die spontan zusammengestellten Gruppen harmonierten mit kleinen Ausnahmen über die folgenden vier Nächte reibungslos. Der erneut etwas langwierige Entscheidungsprozess über den weiteren Tagesablauf endete in dem mutigen Entschluss zur eigenverantwortlichen ersten Stadtbesichtigung.
Riga präsentierte sich uns weltoffen, gastfreundlich und überwiegend hervorragend restauriert. Lediglich an den Bauten im zu recht viel gelobten Jugendstilviertel ist noch einiges zu tun. Das Lebensgefühl der Rigenser erschien mir als Mischung aus mediterraner Lebenslust und einer kleinen Prise kleinstädtischer Geruhsamkeit.
Die „offizielle“ Stadtführung folgte am nächsten Vormittag: Rigaer Altstadt mit Dom, Petrikirche und Schwarzhäupterhaus; Neustadt mit Freiheitsdenkmal und Boulevardring etc. Um die freie Zeit bis zu dem geplanten Termin in der Deutschen Botschaft zu überbrücken, taten sich zwecks Besichtigung ausgelassener Sehenswürdigkeiten oder auch für eine Pause in einem der zahlreichen Straßencafés kleinere Gruppen zusammen. Letztere sind auch den Einheimischen sehr beliebt. Es springt auf erfreuliche Weise ins Auge, wie sehr sich das Leben der Rigenser bei gutem Wetter - solches herrschte an allen vier Reisetagen vor - in den Straßencafés und ‑restaurants sowie auf den öffentlichen Plätzen und in den Grünanlagen der Stadt abspielt.
In diesem Reisebericht soll jedoch der programmatische Tiefpunkt nicht verschwiegen werden:6 der Besuch der Deutschen Botschaft. Niemand hatte erwartet, vom Botschafter empfangen zu werden, zumal es an einem solchen aufgrund ausstehender Akkreditierung durch die Präsidentin der Republik Lettland fehlte. Sowohl unsere Begrüßung als auch den Vortrag über die Rolle der Botschaft, die historische Entwicklung und politische Situation Lettlands von einer darauf alles andere als gut vorbereiteten Referendarin durchführen zu lassen, die – u.a. als ihr Referat das Thema der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung Lettlands in der Zeit von 1941 bis 1945 berührte – die gebotene Ernsthaftigkeit des Vortragsstils vermissen ließ, war enttäuschend. Das einzige, das ein Teil unserer Gruppe von dem Botschaftsbesuch „mitgenommen“ hat, dürfte der dort ausliegende Jahresspielplan der Bundesliga gewesen sein.
Ein „Highlight“ des Reiseprogramms folgte dagegen am nächsten Tag mit dem Besuch des lettischen Parlaments, das neben der Führerin einen lettisch-englisch-Dolmetscher zu unserem Empfang bereit gestellt hatte. Die Parlamentsferien der 100 lettischen Abgeordneten erlaubten eine umfang- und kenntnisreiche, außerdem sehr liebevoll vermittelte und gleichwohl die Probleme der jungen Demokratie Lettlands nicht verschweigende Führung durch das Gebäude einschließlich des Plenarsaals, in dem vormals der lettische Oberste Sowjet tagte und am 20./21. August 1991 die Unabhängigkeit Lettlands erklärt und die Verfassung von 1922 wieder in Kraft gesetzt wurde.
Nachmittags wurde uns im Rahmen eines englischsprachigen Vortrages in der Freihafenbehörde der Rigaer Freihafen in Zahlen, Daten und Fakten vorgestellt. In der folgenden - im Angesicht eines dreidimensionalen Hafenmodells geführten - Diskussion waren vor allem der Einfluss des Rechts der Europäischen Gemeinschaft und die Expansionsvorhaben des Hafens thematische Schwerpunkte.
Der Samstag als letzter voller Reisetag war (ausschließlich) dem Vergnügen gewidmet. Ziel war das lettische Seebad Jurmala, wenige Kilometer von Riga entfernt am Rigaer Meerbusen gelegen. Es sollte ein Strand- und Sporttag werden und wurde es auch – nachdem dem Busfahrer Klarheit über unser genaues Ziel – der Ort Jurmala hat eine Längsausdehnung am Meer von ca. 25 Kilometer – verschafft wurde. Diese Aufgabe übernahm dankenswerter Weise Marc Wenske, dem es oblag, dem englisch radebrechenden Busunternehmer per Mobiltelephon Angaben über den besten Strandabschnitt zu entlocken, die dieser sodann dem lediglich lettisch-sprachigen Busfahrer ebenfalls per Mobiltelephon übersetzte.
Der abendliche Zeitvertreib während der Reise bot Vielfältiges: Einige gingen auf die Jagd nach kulinarischen Köstlichkeiten: so führten einige Teilnehmer eine Rangliste der zehn besten lettischen Biere bei sich, die es zu verkosten galt, und die Schokolade von Emihla Gustava ermöglichte es, auf höchstem Niveau der Naschlust zu frönen. Dem berühmten „Rigas Balzams“, einem bitteren Kräuterlikör, sind jedoch nach allgemeiner Meinung mildere italienische Varianten vorzuziehen. Das Studium aktueller Damenmode und Musik in Rigas Tanzlokalen war eine weitere Attraktion, zur Erheiterung eines Teils der weiblichen Reiseteilnehmer wurde der diesjährige Mr. Riga gewählt. Als „Abenteuerurlaub“ erwies sich der (Beinahe‑) Besuch des Restaurants „Lido“ einiger Teilnehmer auf Empfehlung einiger anderer, die dort bereits gewesen sein wollten, ohne zu ahnen, dass es mehrere Restaurants dieses Namens in Riga gibt. Nach mehreren Kilometern Fußweges durch Rigaer Problemvororte, dem Versuch, sich von Bewohnern den Weg schildern zu lassen und ersten Panikattacken setzte man zunächst zur Umkehr an, allerdings nicht ohne die Straßenbahn zu verpassen, um nicht den Verfasser dieses Beitrages allein in einem nahegelegenen Café zurücklassen zu müssen. Letztlich erreichten die Akteure doch mit der Straßenbahn in anderer Richtung das Restaurant, um festzustellen, dass es sich um eine Art Autobahnraststätte mit Vergnügungsparkcharme handelte. Nachdem einige Mitreisende von der Essensausgabe zurückgeholt worden waren, ging es mit drei Taxen zurück in die Altstadt, wo der Ausflug bei einem Italiener endete ...
Hervorzuheben ist noch der Besuch in der architektonisch beeindruckenden Lettischen Nationaloper, in der eine Aufführung von „Schwanensee“ in – erwartet – klassischer Inszenierung gegeben wurde. Die tänzerische Leistung und das wunderbare Ambiente erlaubten es, über kleinere Fehlleistungen des Orchesters hinwegzusehen.
Am 21. August endete die Reise mit dem mittäglichen Rückflug nach Hamburg. Das eingangs abgebildete Gruppenphoto ist noch am Rigaer Flughafen entstanden. Da sich weder im Rahmen des gemeinsamen Abschluss(cocktail)abends am Samstag in der „Skyline Bar“ im 26. Stockwerk des „Reval Hotels Latvija“ noch in der Hektik des Auseinanderstrebens am Hamburger Flughafen die Gelegenheit ergab, den Organisatoren der Reise, Kristina Groth, Michaela Paul, Miriam Tenorth, Arne Schramm und Marc Wenske, in aller Ruhe für die gelungene Vorbereitung und Durchführung zu danken, sei das hiermit herzlichst nachgeholt.
Axel Herchen
1 Könnecke/Rubzov, Lettland mit Stadtführer Riga, DuMont Reiseverlag 2005.
2 Brockhaus – Die Enzyklopädie, Bd. 18, 20. Aufl. 1998, S. 395.
3 Lettisch: „Daugava“.
4 2005: 736.000.
5 So die Beschilderung des Reisebusses, mit dem wir zum Hotel befördert wurden.
6 Das dies nicht den Organisatoren der Reise anzulasten ist, bedarf an sich keiner ausdrücklichen Erwähnung.