(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/04, 20) < home RiV >

Gerichtsbarkeiten:

Aus fünf mach drei?

 

In die Diskussion über eine Zusammenlegung der Sozial-, Verwaltungs-, und Finanzgerichtsbarkeit ist erneut Bewegung geraten.[1] Am 24.9.2004 hat der Bundesrat zwei Gesetzentwürfe auf den Weg gebracht, mit denen den Ländern die Möglichkeit eingeräumt werden soll, die Verwaltungs- und Sozialgerichte zu einheitlichen Fachgerichten, das Landessozialgericht und Oberverwaltungsgericht und das Finanzgericht zu einem einheitlichen Oberfachgericht zusammenzulegen.[2] Der bisherige dreistufige Instanzenzug der Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit bleibt von dem Regelungsvorhaben damit ebenso unberührt wie die Existenz der fünf obersten Gerichthöfe auf Bundesebene (Art. 92, 95 Abs. 1 GG). Ein Name wurde der erst noch zu erschaffenden Gerichtsbarkeit bereits gegeben: Neben die Ordentliche- und die Arbeitsgerichtsbarkeit soll zukünftig die „Fachgerichtsbarkeit“ treten.

 

I. Änderung des Grundgesetzes

 

Der erste Gesetzentwurf, der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes[3], will die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die Reform schaffen; hierzu sollen Änderungen an zwei Artikeln verhelfen. Zum einen soll Art. 92 GG, wonach die rechtsprechende Gewalt durch das Bundesverfassungsgericht, durch die im Grundgesetz vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt wird, um einen zweiten Absatz ergänzt werden. Danach werden zukünftig die Länder festlegen können, ob die Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit durch Fachgerichte einheitlich ausgeübt wird. Ferner soll Art. 108 Abs. 6 GG gestrichen werden, der bisher vorsieht, dass die Finanzgerichtsbarkeit durch Bundesgesetz einheitlich geregelt wird.

 

Aufgegriffen werden mit diesen Änderungen die verbreitet an der Verfassungsmäßigkeit der Zusammenlegung der Gerichtszweige geäußerten Bedenken.[4] Umstritten ist in der einschlägigen Fachliteratur insbesondere, ob sich aus der Aufzählung der fünf obersten Gerichtshöfe des Bundes in Art. 95 Abs. 1 GG zwingende, verbindliche Folgerungen für den Gerichtsaufbau der Länder ableiten lassen. Beachtliche Stimmen bejahen dies unter Hinweis auf das in Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG verankerte Homogenitätsprinzip.[5] Entsprechend wird aus Art. 108 Abs. 6 GG bisweilen der Schluss gezogen, dass das Grundgesetz die Existenz einer eigenständigen Finanzgerichtsbarkeit auf Länderebene garantiere.[6] Zwingend ist diese Position zwar nicht, für verfassungsrechtliche Bedenken darf jedoch angesichts der mit dem Reformvorhaben verbundenen beträchtlichen Umwälzungen in der Gerichtsorganisation kein Raum verbleiben. Gleich welcher Seite man in der Debatte über Sinn und Unsinn der Neuordnung der Gerichtsbarkeit daher den Vorzug gibt, wird man die mit dem ersten Gesetzesentwurf verfolgte Schaffung von Rechtsklarheit und Rechtssicherheit begrüßen müssen.

II. Einführung einer Gerichtsordnung der einheitlichen Fachgerichte

Kontroverser werden die Reaktionen auf den zweiten Teil des Gesetzespakets ausfallen. In diesem so genannten Zusammenführungsgesetz[7] soll das Bundesrecht für landesspezifische Regelungen geöffnet werden. Wie so oft, geschieht dies in Form eines Artikelgesetzes. Schwerpunkt des Entwurfs ist in Artikel 1 die Einführung einer Gerichtsordnung der einheitlichen Fachgerichte (GOF-E). Die folgenden Artikel 2 - 4 fügen entsprechende Verweise in die einzelnen Gerichtsordnungen ein, Artikel 5 nimmt redaktionelle Angleichungen des Bundesbesoldungsgesetzes vor.

 

Besonderes Augenmerk innerhalb der GOF-E verdient der den Ländern danach offerierte Organisationsspielraum. Nach § 1 Abs. 1 GOF-E können die Länder entweder die Gerichte aller drei Gerichtsbarkeiten zusammenfügen oder sich auf eine Zusammenlegung der Verwaltungs- und Sozialgerichtsbarkeit beschränken. Sonstige Wahlmöglichkeiten bestehen nicht. Ausgeschlossen ist damit etwa die Zusammenfügung des OVG, LSG und FG zu einem einheitlichen Oberfachgericht bei Beibehaltung des VG bzw. SG als Eingangsinstanzen. Etwas anderes gilt nur, sofern die Länder von der Möglichkeit der länderübergreifenden Zusammenarbeit nach § 1 Abs. 3 GOF-E Gebrauch machen. Danach können sie die Zusammenführung von Gerichten der Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit zu gemeinsamen einheitlichen Fachgerichten, zu gemeinsamen einheitlichen Oberfachgerichten oder zu gemeinsamen Spruchkörpern solcher Gerichte vereinbaren. Möglich wird dadurch nicht nur eine Zusammenarbeit zwischen Ländern, die ganz oder teilweise, d.h. mit oder ohne Einbeziehung der Finanzgerichtsbarkeit, ihre Gerichtsbarkeiten zusammenführen. Auch ein Land, das von der Öffnung des Bundesrechts keinen Gebrauch macht, kann sein OVG dergestalt mit dem OVG, LSG und FG eines anderen Landes zusammenführen, dass in diesem Gericht gemeinsame Spruchkörper für Verwaltungssachen eingerichtet werden.

Möglich ist überdies – auch für einzelne Sachgebiete – die Ausdehnung von Gerichtsbezirken über die Landesgrenzen hinaus (§ 2 Abs. 2 GOF-E). Erhalten bleiben indes die Gliederung in drei (VG/OVG/BVerwG und SG/LSG/BSG) bzw. zwei (FG/BFH) Instanzen und auch die bisherige fachliche Aufteilung (vgl. § 4 GOF-E). Bei den einheitlichen Fachgerichten ist die Bildung von Kammern sowohl für Verwaltungs- als auch für Sozialsachen vorgesehen, bei den einheitlichen Oberfachgerichten nehmen entsprechende Senate diese Aufgaben war. Wird die Finanzgerichtsbarkeit in die Neuorganisation miteinbezogen, sind bei dem einheitlichen Oberfachgericht Senate für Finanzsachen zu bilden (§ 4 Abs. 3 GOF-E).

 

Der Gesetzesentwurf sieht weiterhin vor, dass die Bildung und Besetzung der Spruchkörper, das von ihnen zu beachtende Verfahren, ihre Entscheidungen, Rechtsmittel, die Wiederaufnahme des Verfahrens sowie die Kosten und die Vollstreckung sich nach den jeweiligen Gerichtsordnungen für die einzelnen Bereiche (VwGO, SGG, FGO) richten. Eine Zusammenführung der separaten Verfahrenordnungen ist somit nicht bezweckt (vgl. § 6 GOF-E). Eine Ausnahme bildet die Anordnung der verfahrensübergreifenden Anwendung von § 183 VwGO. Hat das Verfassungsgericht eines Landes demzufolge etwa die Nichtigkeit von Landesrecht festgestellt, so bleiben vorbehaltlich einer besonderen gesetzlichen Regelung durch das Land die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen der einheitlichen (Ober-) Fachgerichte, die auf der für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt; lediglich die Vollstreckung einer solchen Entscheidung ist unzulässig.

 

III. Zur Begründung des Gesetzgebungsvorhabens

Der verbreitet an der Zusammenlegung der Gerichtsbarkeiten geäußerten Kritik wird das Zusammenfügungsgesetz nur bedingt den Wind aus den Segeln nehmen können. Bereits die Realisierbarkeit der tragenden Motivation des Gesetzesvorhabens - die Senkung der hohen Personalkosten der Justizverwaltung, die in den einzelnen Justizhaushalten bis zu 70% der Gesamtkosten ausmachen -, wird angezweifelt.[8] Bloße Bedenken an der Effizienz taugen als argumentative Stütze gegen die Neuregelung freilich wenig: Zweifel allein überwinden die gesetzgeberische Einschätzungsprärogative nicht. Wer sich gegen eine Zusammenlegung der Gerichtsbarkeiten aussprechen will, muss entweder Kostenersparnisse generell in Abrede stellen oder die Unzweckmäßigkeit des Vorhabens darlegen; auch für die insoweit geführte Diskussion bietet die Entwurfsbegründung weiterführende Anhaltspunkte.


 

1. Flexibilisierung des Personaleinsatzes

 

Besondere Einsparungsmöglichkeiten verspricht sich der Bundesrat insbesondere durch eine effizientere Steuerung des Personaleinsatzes durch den Wegfall des Zustimmungserfordernisses der Richterinnen und Richter zur Tätigkeit in einem anderen Gerichtszweig. Insbesondere das geltende deutsche Richterrecht macht eine flexible Anpassung der Richterstellen bislang quasi unmöglich. Ändert sich zum Beispiel bei einer Gerichtsbarkeit die Anzahl der Verfahrenseingänge, so stellt das Richtergesetz praktisch keine Versetzungsmöglichkeiten gegen den Willen der Richterinnen und Richter zur Verfügung. Aktuell wird diese Problematik zum 1.1.2005 im Rahmen der geplanten Übertragung der Zuständigkeit für sozialhilferechtliche Streitigkeiten von den Verwaltungsgerichten auf die Sozialgerichte. Nach Schätzung des Bundesrats werden damit bis zu 15% der Gesamteingänge der Verwaltungsgerichte auf die Sozialgerichte übergehen; dies entspricht über 200 „richterlichen Arbeitskraftanteilen“ zur Bewältigung dieser Verfahren. Eine nach § 37 Abs. 3 DRiG ohne Zustimmung des Richters oder der Richterin zulässige Abordnung schafft hier keine dauerhafte Abhilfe, weil sie nur die vorübergehende Entsendung in ein anderes Richteramt für eine Dauer von drei Monaten erlaubt und zudem nur innerhalb der jeweiligen Gerichtsbarkeit möglich ist.

 

Der Grund für dieses starre Korsett, in dem sich die Versetzungsmöglichkeiten bewegen, liegt in der Gewaltenteilung und dem Recht auf den gesetzlichen Richter begründet. Eine offene Personalverteilung von Richtern durch die Verwaltung würde die Gewaltenteilung ad absurdum führen und dem Bürger den durch Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG garantierten gesetzlichen Richter entziehen. Die in Art. 97 Abs. 2 S. 3 GG normierte Unversetzbarkeit der Richter unterliegt zudem der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, so dass eine Änderung der Versetzungsnormierungen auch deshalb nicht in Frage kommt. Durch die Zusammenlegung zu einem einheitlichen Fachgericht kann auf Schwankungen bei den Verfahrenseingängen mit der Änderung der Geschäftsverteilungspläne grundgesetzkonform reagiert werden.

Dass eine Flexibilisierung ihres Einsatzes auf wenig Gegenliebe innerhalb der Richterschaft stoßen wird, versteht sich von selbst, stellt der Bundesrat doch selbst fest, dass die Bereitschaft zum freiwilligen Wechsel in einen anderen Gerichtszweig nur selten besteht. Von in den Arbeitsmarkt eintretenden wie noch in der Ausbildung sich befindlichen Juristen wird der Gesetzgeber überdies kaum Zustimmung erwarten können, geht es ihm doch auch um den Abbau von Beschäftigungsmöglichkeiten in einem zusehends enger werdenden Arbeitsmarkt. Richtet man den Blick allerdings allein auf mögliche Effizienzgewinne eines solchen Unterfangens, wird man potentielle Einsparmöglichkeiten nicht ohne weiteres übergehen können. Diese müssen keineswegs auf den Verzicht auf Neueinstellungen begrenzt sein. Gerade die durch die GOF-E eröffnete Möglichkeit der Errichtung von länderübergreifenden Fach- bzw. Oberfachgerichten verspricht Synergieeffekte.[9] Im Wirtschaftsleben finden sich hierzu zahlreiche Vorbilder. Angesichts der sozioökonomisch engen Verbindung von Hamburg und Schleswig-Holstein beispielsweise ist dort die Notwendigkeit einer Verstärkung der länderübergreifenden Zusammenarbeit beider Länder anerkannt[10]; die Justiz kann hieran durchaus Anhalt nehmen. An entsprechenden Vorbildern fehlt es nicht: Beim FG Hamburg existiert bereits seit langem ein gemeinsamer Senat der Länder Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein für Zoll- und Marktordnungssachen, das OVG Lüneburg war noch bis 1991 als gemeinsames Oberverwaltungsgericht für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein tätig, seit Jahrzehnten besteht zwischen Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein ein gemeinsames Prüfungsamt, beim Grundbuch- und Handelsregister wird länderübergreifend zusammengearbeitet und regelmäßige Treffen der Justizvollzugsanstaltsleiter der norddeutschen Länder gibt es auch.

 

2. Kosteneinsparung durch Zusammenlegung von Verwaltung und Gebäuden

Den Einsparungen im Bereich der Personalkosten stehen allerdings, je nach den Gegebenheiten des jeweiligen Landes, kurzfristige Investitionskosten gegenüber, die aus einer nicht nur rechtlichen, sondern auch tatsächlich-räumlichen Zusammenführung von Gerichten resultieren. Die dauerhaften Personal- und Sachkostenersparnisse werden nach Auffassung des Bundesrates diese einmaligen Investitionskosten allerdings deutlich übersteigen.[11] Als ein Beispiel für die Einsparungsmöglichkeiten wird der Servicebereich genannt, wo etwa beim Bibliothekspersonal und dem Personal für Informations- und Kommunikationstechnologie Kosten einzusparen sind. Auch der positive Effekt auf die Auslastungsquote der gerichtlichen Infrastruktur, also der Sitzungssäle, Besprechungsräume, Bibliotheken etc. führt zu einer spürbaren Senkung der allgemeinen Fixkosten.[12] Dem wird allerdings entgegengehalten, dass ‑ wie etwa bei dem Hamburger Haus der Gerichte ‑ dieser erstrebte Synergieeffekt bei der Nutzung von Gebäuden und Einrichtungen auch ohne Zusammenlegung von Gerichtszweigen erzielt werden könne, wenn Gebäude und Infrastruktureinrichtungen durch mehrere Gerichte verschiedener Gerichtszweige gemeinsam genutzt würden.[13] Teilweise wird auch gänzlich bezweifelt, ob die Zusammenlegung überhaupt zu Einsparungen führt. Befürchtet wird vor allem, dass es zu erheblichen baulichen Investitionen komme.[14] Um diese einzusparen, könnten die Gerichte als Außenstellen bestehen, wodurch der Synergieeffekt allerdings kaum eintreten wird. Vor allem die Reise- und Telefonkosten, die wegen der notwendigen Zusammenarbeit allein der Gremien anfallen, würden bei dem Modell der Außenstellen die Einsparungen durch den Wegfall eines Präsidentenpostens wettmachen.[15] Außerdem wird angemerkt, dass die Einsparung von Präsidenten- und ähnlichen Funktionsstellen nur mit so großer zeitlicher Verzögerung wirksam werde, dass dadurch den gegenwärtigen finanziellen Problemen der Länder keine Erleichterung verschafft würde.[16] Ob es durch die Zusammenlegung der Gerichtszweige tatsächlich zu den erwarteten Einsparungen kommt, kann noch nicht abschließend bewertet werden. Entscheidend dürfte dafür sein, wie die Länder das Problem der räumlichen Zusammenlegung lösen und welche Kosten dadurch auf die Justizverwaltung zukommen werden. Von der Hand zu weisen sind mögliche Effizienzgewinne jedoch auch insoweit nicht.

 

3. Geht spezialisierter Sachverstand verloren?

Als Hauptargument gegen eine Zusammenlegung der Gerichtsbarkeiten werden vielfach befürchtete Einbußen bei der Qualität der richterlichen Entscheidung gesehen. Insbesondere Spezialmaterien wie jene des Steuerrechts müssten durch besondere Experten entschieden werden.[17] Argumentiert wird nicht nur mit dem vielzitierten Steuer-Chaos, sondern auch mit der Materie des Steuerrechts, die vor allem wegen der Bilanzierungs- und Buchführungsfragen keine eigentlich nur-juristische ist. So kann bisher Finanzrichter nur werden, wer nach Abschluss beider juristischer Staatsexamina eine spezielle Ausbildung im Steuerrecht absolviert und eine mehrjährige praktische Tätigkeit z.B. in der Finanzverwaltung durchlaufen hat. Diese Spezialisierung sei vor allem wegen der Stärke und der Macht der deutschen Finanzverwaltung notwendig. Ein effektiver Rechtsschutz im Steuerrecht sei ohne die zusätzlichen Kenntnisse des Finanzrichters nicht mehr gewährleistet.[18] Wenn die vielseitig tätige Finanzverwaltung fachlich nicht hinreichend vorgebildeten Richtern gegenübertreten könnte, wäre der Rechtsschutz für den Steuerpflichtigen nicht mehr ausreichend garantiert. Selbst wenn künftig Senate speziell für Steuerfragen bestünden, könnte daraus nicht geschlossen werden, dass die bisherige Qualität der Rechtsprechung erhalten bleibe, da der Gesetzesentwurf ja gerade dazu dienen solle, den fachübergreifenden Wechsel von Richtern zu ermöglichen.

Diese Kritik überzeugt nur bedingt.[19] Zum einen lässt auch der Bundesrat nicht außer Acht, dass es zur Sicherung einer fundierten Rechtsprechung einer intensiven Einarbeitung und partiellen Spezialisierung der Richterinnen und Richter des jeweiligen Spruchkörpers bedarf. Die angestrebte Flexibilisierung des richterlichen Personaleinsatzes bedeutet deshalb nicht, dass alle Richterinnen und Richter „regelmäßig“ den Spruchkörper zu wechseln hätten. Die Praxis in der ordentlichen Gerichtsbarkeit beweist zudem, dass eine Binnenspezialisierung innerhalb einer Gerichtsbarkeit mit vielen Zuständigkeiten unerlässlich, aber auch möglich ist.[20] Der Wechsel zwischen Spruchkörpern ist bereits heute keine Unbekannte in der Richterlaufbahn. In der Zeit des Richterverhältnisses auf Probe beispielsweise werden bereits jetzt in der ordentlichen Gerichtsbarkeit verschiedene Spruchkörper mit unterschiedlichen Sachmaterien und Prozessordnungen durchlaufen und auch später wechseln Richter nicht selten das Ressort oder Staatsanwälte ins (Zivil-) Richteramt, ohne dass dadurch Qualitätseinbußen zu befürchten sind. Zudem gibt es bereits jetzt erhebliche Überschneidungen in den einzelnen Rechtsbereichen. Fragen zu Milchquoten etwa werden von Finanz- und Verwaltungsgerichten behandelt, Sozialhilfe und- Sozialversicherungsrecht sind im Einzelfall oft kaum abgrenzbar und bedienen sich beide des SGB X als Verwaltungsverfahrensregel.[21]

 

4. Zusammenlegung schafft Transparenz

Ob die Zusammenlegung der Gerichtszweige die Möglichkeit des Bürgers, Zugang zu effektiven Rechtsschutz zu erlangen, behindert oder gerade erleichtert, wird ein Stück weit von der praktischen Umsetzung der GOF-E durch die Länder abhängen. Insbesondere die länderübergreifende Zusammenführung lediglich einzelner Spruchkörper birgt die Gefahr, mehr zu verschleiern als an Transparenz zu schaffen; hier gilt es seitens der Länder, die ihnen eröffneten Gestaltungsspielräume sinnvoll zu nutzen.[22] Allerdings bietet die GOF-E auch Chancen für den Rechtssuchenden, vor allem deshalb, weil in der ersten Instanz kein Anwaltszwang besteht und oft ohne solchen geklagt wird. Aber auch anwaltliche Fehlberatungen können insoweit nicht mehr vorkommen. Reibungs- und Zeitverluste reduzieren sich für alle Beteiligten auf ein vertretbares Minimum.[23] Zwar wird der Bürger schon dadurch geschützt, dass sich fristgebundene Rechtsbehelfe regelmäßig auf Behörden- oder Gerichtsentscheidungen beziehen und daher mit Rechtsbehelfsbelehrungen versehen sind,[24] aber in allen anderen Fällen ist es für den Bürger sicherlich leichter, sich an ein einheitliches Fachgericht zu wenden, als erst herausfinden zu müssen, welches Gericht für die spezielle Materie zuständig ist. Insgesamt dürften für den Bürger damit die positiven Effekte einer Zusammenführung der Gerichtszweige überwiegen.

 

5. Gerichtsorganisation im europäischen Vergleich

Hebt man den Blick über Deutschland hinaus, so überwiegen in den übrigen Mitgliedstaaten der EU Gerichtsorganisationen mit einer Einheitsgerichtsbarkeit (so etwa in Belgien, England, Wales, Nordirland und Spanien) und Modelle mit zwei Gerichtsbarkeiten, regelmäßig einer ordentlichen und einer Verwaltungsgerichtsbarkeit (so etwa in Finnland, Frankreich, Griechenland, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Schweden).[25] Zwingende Folgerungen für den deutschen Gesetzgeber lassen sich hieraus zwar nicht ableiten[26], der Rechtsvergleich zeigt jedoch, dass der eingeschlagene Weg kein unpraktikabler sein kann. Die mit der Zusammenlegung der Gerichtszweige verbundene behutsame Angleichung an die Gerichtsorganisation anderer europäischer Staaten ist überdies ein wichtiger Schritt zur Harmonisierung der gerichtlichen Strukturen in einem zusammenwachsenden Europa.

 

IV. Ausblick

Die Argumente für und gegen eine Zusammenfügung der Gerichtsbarkeiten sind weitgehend ausgetauscht, nun ist der Bundestag am Zuge. Ob und in welcher endgültigen Form das Gesetzesvorhaben dort Erfolg haben wird, ist derzeit noch ungewiss. Prominente Gegner des Vorhabens finden sich nicht nur im Bereich der Rechtsprechung[27], sondern auch in der Politik.[28] An der kontinuierlichen Verbesserung des deutschen Gerichtssystems mit dem Ziel klarer Strukturen und dauerhafter Kostenreduzierung zu Gunsten höherer Effizienz führt aber kein Weg vorbei. Längst nicht alle Anforderungen des 21. Jahrhunderts lassen sich mit den Werkzeugen des 19. Jahrhunderts bewältigen.

 

RA Hans Arno Petzold,

RRef.e Pascale Kewitz und Tobias Leder,

Hamburg


 

[1] S. bereits Petzold, MHR 4/2003, 31. Zum Diskussionsstand vgl. Brand/Fleck/Scheer, NZS 2004, 173.

[2] BR-Drucks. 543/04 sowie BR-Drucks. 544/04.

[3] BR-Drucks. 543/04.

[4] S. jüngst v. Renesse, NZS 2004, 452.

[5] Vgl. nur Degenhardt, in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 2 Aufl. 1996, § 75 Rn. 5 f.; Maurer, Staatsrecht I, 3. Aufl. 2003, § 19 Rn. 22.

[6] Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 108 Rn. 45.

[7] Entwurf eines Gesetzes zur Öffnung des Bundesrechts für die Zusammenfügung von Gerichten der Verwaltungs-, Sozial-, und Finanzgerichtsbarkeit in den Ländern, BR-Drucks. 544/04.

[8] Hein, DVBl. 2004, 464 (467); Redeker, NJW 2004, 496.

[9] Vgl. aber auch die Aussage von Justizministerin Anne Lütke auf der 101 Sitzung (28.04.04) des Schleswig-Holsteinischen Innen- und Rechtsauschusses, wonach man festgestellt habe, dass die Diskussion über die Zusammenlegung der Obergerichte von Hamburg und Schleswig-Holstein nicht zu Fortschritten geführt habe, sondern eher zu Irritationen, einsehbar über das Internet unter http://www.sh-landtag.de/infothek/wahl15/aussch/iur/niederschrift/ 2004/15-101_04-04.html.

[10] Vgl. etwa die Regionalstudie „Hamburg und Schleswig-Holstein als Wirtschaftsraum“ der HSH Nordbank von 11/2003, erhältlich über deren Website www.hsh-nordbank.de.

[11] BR-Drucks. 544/04, S. 22.

[12] BR-Drucks. 544/04, S. 22; so auch schon Petzold, MHR 4/03, 31 unter Hinweis auf das Hamburger Haus der Gerichte.

[13] Jung, DRiZ 2004, 39; Schäfer, Betrifft JUSTIZ 2004, 222 (224).

[14] Hein, DVBl. 2004, 464 (467); Wissenschaftlicher Beirat des Fachbereichs Steuern bei der Ernst & Young AG, BB 2004, 1825 (1826).

[15] Hein, DVBl. 2004, 464 (467); Redeker, NJW 2004, 496; Wissenschaftlicher Beirat des Fachbereichs Steuern bei der Ernst & Young AG, BB 2004, 1825 (1826).

[16] Schäfer, Betrifft JUSTIZ 2004, 222 (224).

[17] Wissenschaftlicher Beirat des Fachbereichs Steuern bei der Ernst & Young AG, BB 2004, 1825 (1826).

[18] Wissenschaftlicher Beirat des Fachbereichs Steuern bei der Ernst & Young AG, BB 2004, 1825 (1827).

[19] Vgl. dazu BR-Drucks. 543/04, S. 19; de Maizière, DRiZ 2004, 38; Petzold, MHR 4/03, 31.

[20] BR-Drucks. 543/04, S. 19, de Maizière, DRiZ 2004, 38, Petzold, MHR 4/03, 31.

[21] Petzold, MHR 4/03, 31.

[22] Kritisch auch Jung, DRiZ 2004, 39; Schäfer, Betrifft JUSTIZ 2004, 222 (224).

[23] Petzold, MHR 4/03, 31.

[24] BR-Drucks. 543/04, S. 24.

[25] BR-Drucks. 543/04, S. 20; de Maizière, DRiZ 2004, 38.

[26] Jung, DRiZ 2004, 39.

[27] S. z.B. die ablehnende Haltung von BSG Präsident von Wulffen, BSG Presse-Sonderbericht Nr.11/03.

[28] Vgl. FAZ v. 29.11.2004, S. 15, wonach sowohl Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) als auch Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) sich für den Erhalt einer eigenständigen Sozialgerichtsbarkeit einsetzen wollen.