(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 3/04, 2) < home RiV >

Editorial

 

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Reformbestreben allerorten! Alles verändern! Hier und jetzt! Nicht unverzüglich, sondern sofort! Diese Hektik führt zu ständigem Zeitdruck mit der Folge unausgegorener und unfertiger Ergebnisse mit denen die sog. Rechtsanwender, u.a. wir, dann zu arbeiten haben.

Ich will nicht für eine Größenordnung wie bei der Schaffung des Bürgerlichen Gesetzbuches (1874-1900) plädieren, aber wir können eine gründliche Durcharbeitung an Stelle atemloser Flickschusterei verlangen, sei es bei „Hartz IV“ oder bei Änderungen von materiellen und Verfahrensgesetzen. Rechtspolitik muss sich nicht in Aktionismus manifestieren. Die Flut der Gesetzesänderungen, die keine wirkliche Reform zum Gegenstand haben, sondern nur an vermeintlichen Schwachstellen laborieren, ist ärgerlich. So existiert der Lieblingsparagraph aller Wettbewerbsrechtler, § 1 UWG, nicht mehr. Er heißt jetzt § 3 n.F. und wird dafür in Einzelfälle zerlegt. § 3 a.F. ist nun in einem Füllhorn von Irreführungsfällen versteckt, dass es (k)eine Lust ist. Die Änderungen an der Zivilprozessordnung haben vor allem umfangreiche Schriftsätze und eine Flut an unbegründeten Tatbestandsberichtigungsanträgen kreiert, mit denen versucht wird, Sachvortrag nach- oder unterzuschieben. Die Diskussionen um die unsinnige Abgabe eines endlich funktionierenden und einträglichen Handelsregisters an die Handelskammer sind kaum verebbt, wird die Begehrlichkeit der Rechtspfleger durch eine Öffnungsklausel des Bundesgesetzgebers geweckt. Als hätte man nichts zu tun als „umzuräumen“, diskutiert man munter über die Zusammenlegung von Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit, notfalls wieder in Form einer Öffnungsklausel hin zur Kleinstaaterei - nur weil manche meinen, die notwendigen Personalumschichtungen wegen der Mehrarbeit der Sozialgerichte durch Hartz IV anders nicht in den Griff zu bekommen. Reformen nennt man dies alles. Reform bedeutet verbessernde Umgestaltung, wenn ich mich recht erinnere ……….


 

Menschen haben immer ihre Kenntnis von Geschichte benutzt, um ihren Weg in die Zukunft zu finden. Da sie über ihre Geschichte nichts wussten, hatten denkende Frauen nicht die Selbsterkenntnis, von der aus sie hätten Zukunftsbilder entwerfen können …. Die Vorherrschaft des patriarchalischen Denkens in der  abendländischen Kultur beruht darauf, dass alle anderen Stimmen entmutigt, lächerlich gemacht, daran gehindert, am Diskurs teilzunehmen und zum Schweigen gebracht wurden“, führt Gerda Lerner in ihrem Buch „Die Entstehung des feministischen Bewußtseins“ aus.

Dem Vergessen wirkt entgegen ein Buch des Kunsthistorikers Gottfried Sello „Malerinnen aus vier Jahrhunderten“. Zu den mühsam rekonstruierten Biographien von 47 heute zum großen Teil vergessenen Künstlerinnen zeigt das kleine gehaltvolle Buch der Edition Ellert & Richter jeweils ein Gemälde der beschriebenen Frauen, die ihren Zeitgenossen durchaus als Malerinnen bekannt waren, in die von Männern verfassten kunsthistorischen Werke aber kaum Aufnahme fanden. Man erkennt an den wiedergegebenen Bildern: diese Künstlerinnen standen ihren männlichen – und heute berühmten - Zeitgenossen nicht nach! Man sieht ebenfalls: Wer in der (geschriebenen) Geschichte nicht vorkommt, fällt dem Vergessen anheim. Dessen eingedenk weigerte sich der Literaturkritiker Karl Barthel 1853, Schriftstellerinnen in sein literaturgeschichtliches Werk aufzunehmen, weil er angesichts „der emanzipierten, von ihrer wahren Natur abgefallen Weiber“ einen „Brechreiz“ empfand. Das Buch ist ein schönes Geschenk nicht nur für Feministinnen und gibt Denkanstöße besonderer Art.

Anstöße zum Denken werden Sie auch durch die Vielfalt unserer Artikel im vorliegenden Heft erfahren, und wie immer sind Sie aufgerufen, uns Ihre Beiträge zuzusenden. Das Weihnachtsheft naht.

Bis es soweit ist, wünsche ich Ihnen angenehme Herbsttage und die Gelassenheit, die die Ent­deckung der Langsamkeit uns bringen sollte.

 

Ihre
Karin Wiedemann