Am 19.1.2004 fand in Schleswig in den Räumen des Oberverwaltungsgerichts zu diesem Thema ein Vortrag des Mitglieds des Europäischen Parlaments RA Dr. Christian von Boetticher, Pinneberg, statt. Herr von Boetticher ging zunächst auf die Frage ein, ob Europa überhaupt eine Verfassung brauche. Da trotz des Vertrages von Nizza eine weitere Vertragsänderung im Zuge der anstehenden Osterweiterung dringend geworden war, wurde die seit Jahren unterschwellig vorhandene Frage nach einer Europäischen Verfassung wieder aktuell. Es wurde nun im Konventverfahren ein Vorschlag über eine solche erarbeitet, wobei es sich nicht um eine Verfassung im staatsrechtlichen Sinne handelt, sondern weiterhin um einen Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten.
Zu der Arbeitsweise des Konventes, den allgemeinen Änderungen durch die geplante Verfassung und zu den Gründen ihres vorläufigen Scheiterns in Brüssel am 13. Dezember 2003 gibt es hinreichend Literatur und Tagespresse. Allerdings merkte von Boetticher an, dass es den polnischen Vertretern wohl nicht klar war, dass ihre Forderungen zu einem Scheitern der Verhandlungen führen könnten. Es bestehe so auch weiterhin gute Hoffnung, dass sie einlenken und der Verfassungsvertrag bald weitestgehend unverändert beschlossen werden kann. Insofern lohnt es sich durchaus, die geplante Verfassung näher zu betrachten.
Es bleibe der Binnenmarkt als Kernbereich bestehen, in anderen Bereichen gäbe es jedoch erhebliche Neuerungen. Neben den inhaltlichen Veränderungen würden auch neue Begrifflichkeiten für die europäischen Rechtsakte eingeführt. Im weiteren soll nun hier insbesondere auf die interessanten Änderungen in den Bereichen Justiz und Inneres eingegangen werden. Diese sind unter dem Titel „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ zu finden. Es handelt sich dabei um einen Bereich mit geteilter Zuständigkeit, d.h. die Union handelt, wenn ihr Tätigwerden einen zusätzlichen Nutzen zu dem Tätigwerden der Mitgliedstaaten bringt. Wichtige Neuerung ist dabei, dass nach dem Verfassungsentwurf hierfür auch die allgemeinen Regelungen über das Gesetzgebungsverfahren gelten, d.h. Parlament und Rat entscheiden gemeinsam. Das Initiativrecht liegt bei der Kommission, lediglich in den Bereichen der polizeilichen und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen kann auch ein Viertel der Mitgliedstaaten Vorschläge machen. Dies ist eine große Neuerung, da dieser Bereich ursprünglich mit dem Vertrag von Maastricht als dritte und rein intergouvernementale Säule gegründet worden war. Seit dem Vertrag von Amsterdam sind Visa, Asyl und Einwanderung im EGV zu finden, gehören also zur ersten Säule. Trotzdem ist bisher in diesem Bereich der Rat allein gesetzgeberisch tätig. Von Boetticher erklärte, dass daher die Verfassung erhebliche Veränderungen und eine weitere Demokratisierung bedeuten werde.
Es werde ferner eine allgemeine europäische Staatsanwaltschaft für schwere Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension geschaffen, die auch die Anklage vor nationalen Gerichten vertreten solle.
In den Bereichen Einwanderung und Asyl sollen nach dem Verfassungsentwurf gemeinsame europäische Regelungen geschaffen werden. Als problematisch sei allerdings zu sehen, dass die Leitlinien vom europäischen Rat beschlossen werden, somit ohne Beteiligung von nationalen Parlamenten und dem europäischen Parlament.
Im Verfassungsentwurf werde die Grundlage für einen gemeinsamen Grenzschutz an den EU Außengrenzen gelegt. Das werde in einigen Jahren nötig, nämlich dann wenn der Rates beschließt, die Binnengrenzen zwischen den jetzigen und den neuen Mitgliedstaaten abzuschaffen. Von Boetticher wies darauf hin, dass es zum Beispiel für Polen sehr schwierig werde, die sehr lange Außengrenze allein adäquat zu überwachen, zumal es sich dabei um eine Landgrenze handele.
Von Boetticher äußerte sein Erstaunen darüber, dass die weiten Regelungen im Bereich Innen und Justiz bei den Sitzungen der Staats- und Regierungschefs so von allen 25 Staaten akzeptiert worden seien. Als Vermutung führte er an, dass über dem Streit wegen der Stimmenverteilung niemand mehr diesem Teil des Entwurfes Beachtung geschenkt habe.
Insgesamt machte von Boetticher seine Zustimmung deutlich, dass die Verfassung jetzt (schon) entworfen wurde. Über diese Diskussion, vor allem auch in den Medien, seien europäische Belange an die Bürger gelangt. Dies sei ein ungewöhnlicher und mutiger Weg.
RA Hans Arno Petzold/Eva Bodenstaff/Marlen Mittelstein (Info-Point Europa Hamburg)