Zum Aufsatz von Günter Bertram
in MHR 3/2003, S. 10 ff.
“Letzte Instanz – Wohltat oder Plage”
Günter Bertram hat in seinem Aufsatz die Entscheidung des BGH vom 17.03.2003 (NJW 2003, 1588) verteidigt, in welcher der BGH die Auffassung vertritt, dass bei einem einwilligungsunfähigen Patienten, bei dem sein Grundleiden einen “irreversiblen tödlichen Verlauf” genommen hat, lebenserhaltende oder ‑verlängernde Maßnahmen unterbleiben müssen, wenn dies seinem zuvor – etwa in der Form einer Patientenverfügung – geäußerten Willen entspricht. In dem vom BGH entschiedenen Fall hatte der Patient Ende November 2000 einen hypoxischen Hirnschaden im Sinne eines apallischen Syndroms erlitten. Seither wurde er über eine PEG-Sonde ernährt; eine Kontaktaufnahme mit ihm war nicht möglich. In einer schriftlichen Patientenverfügung hatte der Patient u.a. festgelegt, dass er im Fall einer irreversiblen Bewusstlosigkeit keine Intensivbehandlung wünsche und die “Einstellung der Ernährung” fordere.
Günter Bertram hatte meine Stellungnahme angekündigt. Diesem Wunsch komme ich nunmehr, wenn auch – wie ich zugebe – nach einigem Zögern nach. Dabei möchte ich anmerken, dass ich Ombudsmann im UKE bin, ich mich also insbesondere mit Patientenanliegen befasse. Ferner bin ich Mitglied und Koordinator des beim UKE eingerichteten Ethik-Konsils.
Bei diesem Konsil – nicht zu verwechseln mit der bei der Ärztekammer Hamburg angesiedelten Ethikkommission – handelt es sich um eine freiwillige Selbsteinrichtung beim UKE. Das Ethik-Konsil hat nach seinen “Grundsätzen” vom 10.05.2000 die Aufgabe, in medizinischen Grenzfällen zwischen Leben und Tod zu beraten und Empfehlungen auszusprechen, darüber hinaus die sich aus individuellen Behandlungsfällen ergebenden ethischen Zweifelsfälle zu behandeln und Lösungsvorschläge zu machen. Das Konsil wird auf Anruf der mit einem Patienten befassten Ärzte und Pflegekräfte tätig, ferner der Patienten selbst, ihrer Vertreter und nächsten Angehörigen.
Dem Ethik-Konsil gehören außer mir zwei Ärzte, ein Seelsorger und eine Pflegekraft an. Zu den Sitzungen ziehe ich ferner – im allseitigen Einvernehmen - meinen Vertreter, den inzwischen pensionierten VRiLG Jürgen Meyer hinzu. In Einzelfällen – meistens in Eilfällen – führe ich außerhalb der Konsils Vorgespräche.
Mit einem vom BGH behandelten vergleichbaren Fall war das Ethik-Konsil bisher nicht befasst. Das ist darauf zurückzuführen, dass in Fällen, in denen bei einem Patienten ein hypoxischer Hirnschaden festgestellt wird und er im Krankenhaus nicht mehr curativ behandelbar ist, der Patient zunächst in eine Reha-Klinik verlegt wird, alsdann in ein Pflegeheim. Aus eigener Erfahrung kann ich also zu dem BGH-Fall nicht Stellung nehmen. Die Beratungstätigkeit des Ethik-Konsils erstreckt sich in erster Linie auf Fragen des Ob und Wie einer Behandlung in akuten Krankheitssituationen. Das letzte Beratungsgespräch mit einem Chirurgen und dem Betreuer bezog sich darauf, ob bei einer hochbetagten dementen Patientin eine Tumoroperation durchgeführt werden sollte. Allgemein kann gesagt werden, dass für die vom Ethik-Konsil ausgesprochenen Empfehlungen der erklärte oder mutmaßliche Wille des Patienten von großer Bedeutung ist.
Was nun die überaus gründlichen und ausgewogenen Ausführungen von Günter Bertram anbetrifft, so möchte ich voranstellen, dass ich der von ihm vertretenen Ansicht folge. Der Patientenwille ist Richtschnur für jedes ärztliche und pflegerische Handeln; das gilt für den Vertreter (Betreuer) des Patienten ebenso wie für seine Angehörigen. Dieser Grundsatz findet auch auf einen einwilligungsunfähigen Patienten Anwendung, der zuvor seinen Willen in einer schriftlichen Patientenverfügung eindeutig festgelegt hat. Auch wenn ich die – schwer lesbare - Entscheidung des BGH im Ergebnis für zutreffend halte, wirft sie doch eine Reihe von Fragen auf, die sich teils aus der Begründung, teils aus den Schlussfolgerungen ergeben. Aus der Fülle der sich ergebenden Probleme seien nachfolgend nur einige angesprochen:
1. Der BGH fordert für die von ihm postulierte Bindungswirkung an die Patientenverfügung, dass das Grundleiden beim Patienten “einen irreversiblen tödlichen Verlauf” angenommen haben muss. Bei einem im Wachkoma liegenden kreislaufstabilen Patienten ist das jedoch nicht der Fall. Dieser kann bei künstlicher Ernährung noch Jahre leben, so wie es bei dem Patienten der Fall ist, der Gegenstand der Entscheidung ist. Wenn die Vorsitzende des erkennenden Senats in einem Interview mit der FAZ vom 18.07.03 u.a. formuliert, ein irreversibler tödlicher Verlauf sei eine Krankheit, “die ohne künstliche Hilfsmittel den Patienten sterben lässt”, so müsste die Feststellung auf jeden kranken Menschen zutreffen, der aber mit künstlichen Hilfsmitteln heilbar ist. Das ist aber - soweit ich es übersehe - wohl nicht gemeint, auch wenn ich an keiner Stelle der Entscheidung gefunden habe, dass sich die Begründung nur auf Patienten bezieht, die im Wachkoma liegen.
2. Im Rahmen meiner Tätigkeit im oder für das Ethik-Konsil bin ich immer wieder auf Betreuer und Angehörige getroffen, die unter Hinweis auf die Patientenverfügung eine sofortige Einstellung der künstlichen Ernährung forderten. Eine Rücksprache mit dem Arzt hingegen ergab, dass sich eine endgültige Prognose noch nicht treffen lasse, das Leiden jedenfalls noch nicht als infaust anzusehen sei. Meine Bemühungen gingen in derartigen Fällen dahin, auf die Angehörigen beruhigend einzuwirken, sie um Geduld zu bitten und zunächst auch evtl. Therapieerfolge in der Reha abzuwarten. Dass die Umsetzung einer Patientenverfügung Sorgfalt, Behutsamkeit und Zeit verlangt, schimmert in der BGH-Entscheidung leider nicht durch.
3. Unklar ist auch, ob die Bindungswirkung der Patientenverfügung auch bei Patienten im jüngeren Alter “unbesehen” eingreift. Der Fall des Handballspielers Deckarm, der erst nach mehreren Jahren aus dem Koma aufwachte, macht mich nachdenklich. Ich meine, dass kein Arzt mit Sicherheit voraussagen wird, dass in jedem Fall das Leiden irreversibel ist. Ich kenne Fälle, in denen Kinder etwa nach einem Verkehrsunfall einen schweren Hirnschaden erlitten haben. Die Eltern pflegen das Kind voller Hingabe und glauben aus jeder Reaktion auf einen Fortschritt schließen zu können. Das Leben eines solchen jungen Menschen beenden zu wollen – soweit die Eltern im Rahmen ihres Sorgerechts die Umsetzung eines solchen Wunsches durchsetzen können – ist etwas anderes, als die letzte Entscheidung über einen alten Patienten zu treffen. “Die Hoffnung stirbt zuletzt”.
4. Vor ein nahezu unlösbares Problem wird der Arzt gestellt, wenn bei Nichtvorliegen eines erklärten Willens der mutmaßliche Wille des Patienten aufzuklären ist. Der BGH fordert, dass dieser dann individuell – also aus dessen “Lebensumständen, Wertvorstellungen und Überzeugungen” - zu ermitteln ist. Welche Faktoren hierfür von Bedeutung sein können, wird nicht gesagt. Der Arzt wird jedoch nicht in der Lage sein, in eine umfangreiche Beweisaufnahme etwa zur Ergründung der inneren Beweggründe des Patienten einzutreten. Die Angaben der vielfach befangenen Angehörigen haben eine problematische Beweiskraft. Dem Arzt kann also nur abgeraten werden, in eine solche auch strafrechtlich riskante Prüfung einzutreten. Wer garantiert ihm, dass die von ihm getroffenen Feststellungen und Schlussfolgerungen richtig sind und letztlich nicht vom Staatsanwalt in Zweifel gezogen werden. Er sollte den Betreuer und das Vormundschaftsgericht in die Verantwortung einbeziehen.
5. Der BGH meint, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Einstellung der künstlichen Ernährung lebenserhaltende oder –verlängernde Maßnahmen unterbleiben müssen. Offen gelassen ist, wer den Vollzug dieses “Todesurteils” vornehmen soll. Die Pflegekräfte des Pflegeheims, die einen Kontakt zum Patienten voller Zuwendung aufgebaut haben, werden das häufig ablehnen. Das erscheint umso mehr berechtigt, als der Todeskampf des Patienten Wochen dauern kann. Ihre ethische Konfliktlage wird man als berechtigt anerkennen müssen. Ähnlich wie auch ein Arzt nicht gezwungen werden kann, bei einem Zeugen Jehovas im Notfall von einer lebensrettenden Blutübertragung abzusehen. Generell erscheint es ratsam, diese Patienten einem Hospiz anzuvertrauen.
6. Zu begrüßen ist die Feststellung des BGH, dass für die Einwilligung des Betreuers und für eine Zustimmung des Vormundschaftsgerichts dann kein Raum ist, wenn ärztlicherseits eine Behandlung oder Weiterbehandlung nicht “angeboten” wird – sei es, dass sie von vornherein medizinisch nicht indiziert, nicht mehr sinnvoll oder aus sonstigen Gründen nicht möglich ist. Damit wird sichergestellt, dass die Vormundschaftsgerichte nur in Konfliktlagen angerufen werden können. Im Ergebnis wird damit die letzte Entscheidung über das Leben eines Angehörigen dem Bereich anvertraut, in den sie hingehört, nämlich in den Kreis der Familie und ihres Arztes.
7. Eingangs habe ich auf das Ethik-Konsil beim UKE hingewiesen. Ich glaube, es sollte eine Entwicklung gefördert werden, die darauf ausgerichtet ist, die Entscheidungen über das Lebensende eines Menschen mehr und mehr vom Vormundschaftsgericht und damit von einem gerichtlichen Verfahren zu entfernen. Der Würde des Patienten wird es eher gerecht, auf einen Konsens aller Beteiligten hinzuarbeiten. Diesem Ziel kann ein interdisziplinäres Konsil, das dem Arzt, dem Betreuer und den Angehörigen beratend zur Seite steht, in vielen Fällen mehr gerecht werden als eine Gerichtsverhandlung am Krankenbett.
Dr. Roland Makowka
(Ehrenvorsitzender des Richtervereins)