I.
Mit der deutschen Sprache ist kein Staat mehr zu machen, das haben wir seit Pisa und Iglu nun amtlich. Wenn zehntausende Kinder und junge Leute unfähig bleiben, sich mündlich oder schriftlich auszudrücken, lediglich stammeln, der Alphabetisierung bedürfen und wenn die Opfer dieser Vernachlässigung zwar in erster Linie - aber nicht allein - Zuwanderer, sondern auch eingesessene Landeskinder sind, dann steht uns das Wasser wohl bis zum Halse. Integration, von der so viel geredet und die feierlich „angemahnt“ wird, ist schließlich zunächst die Aufnahme – das Hinweinwachsen – in Sprache und Sprachgemeinschaft. Sie ist die geistige Vitalseite eines Staates, der ohne sie nur die äußerlich geregelte Anhäufung diverser Millionen bliebe. Die hohen Barrieren vor diesem lebensentscheidenden Zugang könnten nur mit großer pädagogischer Anstrengung und intensiver Zuwendung abgetragen werden, wofür der Staat die finanziellen Mittel nicht zu besitzen meint. Dennoch soll diese Frage hier beiseite gelassen werden. Selbst unter günstigen Voraussetzungen äußerer Art ist nämlich eine Rettung der Sprache (besser: Rettung in die Sprache) unmöglich, wenn es nicht öffentliche Vorbilder gibt, die sich einer guten, richtigen, lebendigen – eben: vorbildlichen – deutschen Sprache befleißigen und damit ein geistiges Klima fördern, das für Schule, Elternhaus oder den einzelnen persönlich einen Spracherwerb praktisch ermöglicht. Denn machen wir uns nichts vor: Es sind die Medien, die Weltbild und Sprache prägen und färben. Schule, Elternhaus und andere Instanzen des Lebens kommen gegen sie nicht auf. In höherem Maße noch als das Volk insgesamt sind Kinder und junge Leute – entwicklungsbedingt und deshalb, weil sie viel Zeit vor dem Fernseher und mit flüchtigen Medien verbringen – ihrem Einfluss, ihrer Wirkung und Suggestion ausgesetzt. Sitzen also, um die Frage darauf zuzuspitzen, in den oberen Etagen der Gesellschaft die Vorbilder, von denen eine notleidende Basis sprachliche Entwicklungshilfe erwarten kann?
Es mag reizen, die Frage mit ein paar satirischen Bemerkungen abzutun; die werden auch nicht zu vermeiden sein. Die Sache hat aber zugleich einen Hintergrund, der ernstlich bedacht und diskutiert werden muss, der sie freilich keineswegs besser macht.
II.
Die Klagen über den Verderb der deutschen Sprache und ihren Niedergang in Wort und Schrift – in Satzbau, Wortwahl, Syntax, Grammatik usw. - sind alt. Ludwig Reiners’ Stilkunst[1], vor sechzig Jahren erstmals erschienen und immer wieder aufgelegt, dürfte heute noch ein Standardbuch sein, das Reichtum und Ausdruckskraft der deutschen Sprache erschließt und die Stilkrankheiten und Unsitten vorführt, die auch damals längst eingerissen waren. Was schon er gerügt hatte, ist auch heute zu beklagen. Es gibt freilich einen Punkt, an dem Quantität – sozusagen: nach unten! – in Qualität umschlägt: Die alte Sammlung von Stilkrankheiten, Modewörtern, Phrasen, Plattheiten, Schludrigkeiten, Kitsch und anderen Lastern ist mittlerweile exponentiell ins Kraut geschossen, so dass man dem heutigen Bestand wohl eine neue – durchaus negative! – Qualität bescheinigen muss. So gibt es triftige Gründe, ein paar Zusätze zu machen. Freilich kann das nur unsystematisch, mit ein paar Beispielen geschehen. Wo anfangen, wo aufhören?
1. Schablonen, Redekitt und Geplapper
Der Prüfstand hat es den Deutschen angetan, vermutlich, weil sie eine Nation von Autofahrern sind, denen unablässig der TÜV im Sinn liegt. Deshalb steht alles und jedes jederzeit „auf dem Prüfstand“: Der Staatshaushalt, Gesetze, Medikamente, Zahnärzte, Krankenkassen, Ämter, Minister, Spesen, Reformschritte, Gutachter - und auch deren Auftraggeber[2]. Indessen verdankt unsere Sprache dem deutschen Nationalcharakter viel mehr: von morgens bis abends und in der Nacht wird „grünes Licht“ gegeben; kein höheres Lob ist denkbar, als das Prädikat „auf der Überholspur“; aber auch schon der Aufenthalt „im grünen Bereich“ ist ein erstrebenswertes Ziel. Ein kleiner Wechsel des Verkehrsmittels, und wir sind beim kaum weniger beliebten „Weichen stellen“. Bleiche Kunstblumen wie „zur Kasse bitten“, „ins Stammbuch schreiben“, „auf den Weg bringen“, „in den Raum stellen“, „ins Haus stehen“[3] schießen wie tausend andere aus sterilisiertem Boden hervor, wuchern „auf allen Ebenen“ und rauben den Naturgewächsen Licht und Luft. Ganz im Trend ist auch die Sprache der Macher: von früh bis spät wird „umgesetzt“ – ein Beschluss, ein „Maßnahmenbündel“, „Katalog“ oder eine ganze „Palette“, eine „Agenda“, eine Reform, eine Anordnung, ein Grundsatz, eine Richtlinie. ... Seit Roman Herzogs Ruck-Rede wissen wir, dass es in Deutschland (statt Erkenntnisfragen) überhaupt nur noch „Umsetzungsprobleme“ gibt.
Allerdings scheint die Mehrheit jedenfalls der Politiker den Akzent etwas anders zu setzen und allenthalben „Vermittlungsprobleme“ zu entdecken: wenn etwas schief gelaufen, eine Wahl verloren oder das Volk erbost ist, hat die Spitze ihre Programme oder Maßnahmen nicht richtig „vermittelt“ und muss die Maßnahmen, Pläne, Programme wohl noch „herunterbrechen“, bis sie „bei den Menschen“[4] „ankommen“ – die muss man ja „abholen“ und “mitnehmen“ Aber dann ist alles wieder „im Griff“... Auslösen: „...Hat jemand in seinem Leben schon einmal ein Feuer „ausgelöst?“ Natürlich nicht. Normalerweise werden Feuer entzündet, oder sie entstehen ganz einfach; man kann ein Feuer auch entfachen oder von einer Brandursache sprechen. Doch in den Nachrichtenagenturen, die für alles nur noch das Einheitsverb „auslösen“ haben, ganz gleich, worüber sie berichten, ob über Erdbeben, Lawinen, Sturmfluten, Flugzeugunglücke oder Grubenexplosionen, ist offenbar kritisches Sprachbewusstsein „nicht gefragt“ oder auch „nicht angesagt“, wie es im Jargon von heute heißt. Also wird Tag für Tag ohne Wechsel im Ausdruck irgendwo irgendwie etwas „ausgelöst“[5]. Unglück löst Trauer, Glück Freude, Irrtum Kriege, Hirnbewegungen den Willen aus. So einfach ist das, alles klar?
Ist ein Disput, eine Frage, ein Streit entschieden, vertagt oder sonst wie – aus irgendwelchen Gründen auf irgendeine Weise – „von der Agenda“, dann ist die Sache „vom Tisch“ - das muss genügen! Nur wenig anders der Beigeschmack des aus dem Kirchlichen entlehnten „Absegnen“: Auch hier ist im Ergebnis etwas „vom Tisch“, wobei dunkel bleibt, ob der Segen freiwillig erteilt, erpresst worden oder was geschehen war. Aber welch’ verschlungene Wege die Erledigung auch genommen hatte: nachher besteht kein „Handlungsbedarf“ mehr. Leicht aus den Mündern quillt der alte Bergmannsausdruck „vor Ort“ (im Streb an der Kohle), wie man mit Hilfe einer Strichliste nach einer viertel Stunde Tagesschau leicht bestätigt finden wird[6]. Recht apart die Mitteilung, jemand habe „Boden gutgemacht“ – ein gedankenloses mixtum compositum aus Boden zurückgewinnen und Schaden wieder gutmachen. Dabei scheint bei uns an medienerprobten Denkern doch kein Mangel zu herrschen – falls man die Häufigkeit zum Maßstab nimmt, mit der das Präfix „ich denke“ ertönt (sinnverwandt: „ich würde denken/meinen wollen“. Aber die Ernüchterung folgt auf dem Fuße, wenn nach wenigen Minuten und siebter Wiederholung kein Zweifel mehr bleibt, dass die Berufung auf den Geist nur an die Stelle des biederen – dem/der Talkmann/frau inzwischen abtrainierten - „äh, äh“ getreten ist: nichts als Redekitt gehobener Art! Welcher Fortschritt, wenn die Sache jedenfalls schon mal „angedacht“ – und dann vielleicht bereits „angeschoben“ - worden ist!
2. Ja und Nein
Eure Rede sei: Ja, ja, nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel (Matthäus 5, 39 - nach Martin Luther).
Davon ist die heutige Redewelt meilenweit entfernt. Beginnen wir mit dem oft ausgestreuten, scheinbar ganz harmlosen Wörtchen „umstritten“:
„Was will der sagen, der ‚umstritten’ sagt“, fragt eine schon alte Glosse[7] und fährt fort: „Und was will er eben nicht sagen? ... In der Demokratie ist so gut wie nichts unumstritten. Also wäre das Adjektiv „umstritten“ eine entbehrliche Floskel, typische Blähsprache der öffentlichen Redner? Nicht ganz. Es bietet dem Redner die Möglichkeit, die eigene Distanz einer Person oder Sache gegenüber als objektiven Befund darzustellen. Wer seines Urteils nicht sicher ist oder es nicht öffentlich preisgeben möchte, versteckt es in der Mitteilung, dieser Mann sei allgemein „umstritten“. Die Suggestion enthält eine Warnung: Vorsicht, hier geht es nicht mit rechten Dingen zu, man halte sich am besten heraus... Das sprachliche Warnschild vor dem Streit-Objekt schützt den Denkfaulen und Feigen davor, in einer heiklen Auseinandersetzung bei einer Festlegung, die ihn isolieren könnte, erwischt zu werden.“
Auch wer sein Urteil als sinnliche Wahrnehmung ausgibt, flüchtet in die Unverbindlichkeit: Clement „sieht die Talsohle durchschritten“, Merkel „sieht“ die CDU „auf der Überholspur“. Offensichtlich geht es da um Hoffnungen, Erwartungen, Prognosen, Befürchtungen, Spekulationen und dergleichen, also um Urteile, die begründet und verantwortet werden müssten. Sehen hingegen ist ein rein persönliches Erlebnis, ein optisches Vermögen, über das sich viel Schönes sagen lässt – aber ganz unverbindlich, denn worüber sollte man hier streiten?[8]. Und verdient selbst diese verwaschene Mitteilung den geringsten Kredit? Woher weiß der Reporter, dass der Minister oder Wirtschaftsboss seine proklamierten Prognosen ernst nimmt? Was allenfalls mitzuteilen wäre, beschränkt sich auf den Umstand, dass jemand geäußert hat, er sähe etwas. Aber diese korrekte Mitteilung wäre so offenbar belanglos (nicht eine Spur von „sexy“), dass sie bei keiner Redaktion durchgehen würde. Also: streichen oder aufbauschen – aufbauschen!
Der „Renner“ aller scheinbar begründenden Redensarten lautet vermutlich „ich gehe davon aus“ („Eichel geht für 2005 von 2 ½ % Wachstum aus“ usw. usw.); das klingt staatsmännischer als „sehen“, ist aber nicht besser[9]. Dolf Sternberger hat dazu ironisch angemerkt: „Die schönen, allerdings bescheideneren Geistestätigkeiten des Annehmens, Vermutens, Erwartens, Fürchtens und Hoffens scheinen dem Untergang verfallen zu sein“; und Erhard Eppler stellt am Ende seiner Betrachtung fest: „... „Ich rechne damit...“ wäre verbindlicher. Der Politiker könnte gefragt werden, was da alles in seine Rechnung eingehe. Und später könnte jemand sagen, er habe sich verrechnet. Wenn nur der Ausgangspunkt sich – leider – verschoben hat, was kann er dafür? „Ich gehe davon aus...“ erlaubt also auch, für eigenes Irren veränderte Umstände verantwortlich zu machen“.
Die Gefahr, wegen eines klaren „ja“ später haften zu müssen, wird mit Vorliebe beschränkt: So ist der „Schritt in die richtige Richtung“ ein billiger Zuspruch, von dem sich mit dem Bemerken, es sei dann falsch weitergegangen, jederzeit wieder abrücken lässt. Dass sich etwas, man selbst oder ein anderer schon „bewege“ noch „bewegen müsse“ usw., erfreut sich aus gleichem Grunde ähnlicher Beliebtheit.
„Nein, nein“ – auch diese Rede kriecht oft durch Schlangenwindungen:
Man sagt „eher nicht“[10], etwas sei als unberechtigt, falsch oder grundlos zurückzuweisen, sondern versichert, es sei „wenig hilfreich“, „nicht zielführend“, schlimmstenfalls „kontraproduktiv“ oder „unakzeptabel“.
Schon früher gelegentlich benutzt, inzwischen aber inflationär geworden, ist die Wendung, etwas sei „nicht nachvollziehbar“. Auch die Rechtsprechung liebt sie – einschließlich der Revisionsgerichte und des BGH. Das ist bemerkenswert bei einem Gewerbe, das auf Genauigkeit Wert legen muss. Es ist schließlich nicht nur von ästhetischem Reiz, dass die deutsche Sprache über einen Reichtum (neudeutsch: eine „breite Palette“) von Verben verfügt. Der sachliche Gewinn liegt in der gedanklichen Präzision, die das ermöglicht: Ob etwas nicht logisch entwickelt, unschlüssig, unbegründet, unbegreiflich, absurd, schwer verständlich, überkompliziert, rechtlich oder in der zugrunde gelegten Wertung abwegig oder angreifbar ist und viele andere Feinheiten lassen sich auch genau ausdrücken. “Nachvollziehbar“ ist auch seiner Scheinobjektivität wegen verfehlt. Die Redensart weist mit spitzem Finger auf die Subjektivität ihres Benutzers zurück. Vielleicht liegt es ja an ihm; denn was der eine gleich begreift, will in den Kopf des anderen nicht hinein.
Brechen wir diese Litanei ab; jeder kann für sich selbst bei Lust und Laune damit fortfahren – mit Zettel und Bleistift – vor dem Fernseher oder bei seiner Zeitungslektüre[11].
3. modern talking
Die deutsche Sprache war nie isoliert und allein auf Erden, wie keine Sprache der Welt - jedenfalls nicht mehr in späterer geschichtlicher Zeit. Goethe ist einer unter den Geistern, denen wir Einsicht in Fruchtbarkeit, Sinn und Nutzen des sprachlichen Weltverkehrs verdanken[12]. Seine lebenslange leidenschaftliche Hingabe an die deutsche Sprache[13] stand dazu in keinem Widerspruch, war vielmehr Grund und Quelle seiner literarischen Weltbürgerschaft.
Er zieht darüber eine Summe, wie sie aktueller kaum sein könnte: „Die Gewalt einer Sprache ist nicht, dass sie das Fremde abweist, sondern dass sie es verschlingt“[14]. Aber dazu später.
Wir Heutigen jedenfalls sind auch sprachlich hochmodern geworden. Während das Deutsche früher letztlich ohne große Probleme Fremdwörter die Fülle in sich aufgenommen hatte[15], fluten die Anglizismen nun massenhaft herein und treten neben oder an die Stelle deutscher Wörter. Das ist zu offensichtlich, um noch des Beweises zu bedürfen. Was hier aus dem Boden schießt, könnte nur ignorieren, wer niemals sein Haus verließe, keine Einkäufe machte, weder Zeitungen noch Prospekte läse und es überhaupt mit den Medien hielte wie ein frommer Einsiedler in seiner Klause. Der Showmaster Rudi Carrell fasst es treffend in dem einen Satz zusammen: Als ich nach Deutschland kam, sprach ich nur Englisch – aber weil die deutsche Sprache inzwischen so viele englische Wörter hat, spreche ich jetzt fließend Deutsch!“[16]. Kabarett und Satire jedenfalls fänden hier genug Stoff und Anregung; auch für Spaßvögel ist gesorgt[17].
Aber es ist kein Spaß: Auch hier in der Sprache vollzieht sich eine Globalisierung, gegen die im großen und ganzen wohl kein Kraut gewachsen ist. Ist das alles, was zu sagen bleibt? Wäre es so, dann könnte man allerdings nicht erklären, wieso und warum unterschiedliche Länder, die dem gleichen fremdsprachlichen Globalisierungsdruck ausgesetzt sind wie wir, in ihrem jeweiligen Sprachgefüge durchaus unterschiedlich reagieren. Finnland, Frankreich und Polen verstehen es von neun untersuchten Ländern am besten, Anglizismen zu integrieren: sie sich einzuverleiben oder abzuweisen, Dänemark und Deutschland am schlechtesten[18]. Das Problem liegt nicht bei der puren Zahl der Zuwanderer. Assimiliert eine Sprache die fremden Wörter durch Aufnahme in ihr eigenes Gefüge, indem sie das hereinkommende Sprachgut ihrem eigenen Lautsystem, ihrer Syntax, Grammatik, ihrem ganzen Duktus: kurzum: ihrem „Tiefencode“ unterwirft[19], dann kann sie eine Menge verkraften. Eben dies ist es, wofür das Goethesche „Verschlingen“ steht – auch hier ein Stirb und Werde! Die deutsche Sprache der Gegenwart aber erweist sich als wässrig und widerstandslos, nimmt wahllos, ungeprüft, unsortiert und unverändert herein, was kommt, so dass viele tausend Anglizismen in unserer Sprache irgendwo und irgendwie frei und auf eigene Rechnung herumschwimmen und ihr die Poren verstopfen. Um den Sachverhalt durch ein einziges Zitat anschaulich zu machen, hier die Vorstellung der Hamburger Modeschöpferin Jil Sander im Magazin der FAZ:
„Mein Leben ist eine giving-story. Ich habe verstanden, dass man contemporary sein muss, das future-Denken haben muss. Meine Idee war, die hand-tailored-Geschichte mit neuen Technologien zu verbinden. Und für den Erfolg war mein coordinated concept entscheidend, die Idee, dass man viele Teile einer collection miteinander combinen kann. Aber die audience hat das alles von Anfang an auch supported. Der problembewusste Mensch von heute kann diese Sachen, diese refined Qualitäten mit spirit eben auch appreciaten. Allerdings geht unser voice auch auf bestimmte Zielgruppen. Wer Ladyisches will, searcht nicht bei Jil Sander. Man muss Sinn haben für das effortless, das magic meines Stils“[20].
Eine so misshandelte, gedemütigte und ausgelaugte Sprache aber wird unfähig, als Wirt des Hauses fremde Gäste zu empfangen, zu beköstigen und einzukleiden; sie kann sich nur noch überwältigen lassen und degeneriert letztlich zum halbtoten Pidgin[21] eines kulturell verödeten Landes[22].
Erinnern wir uns, dass es just zehn Jahre her ist, dass die Deutschen den Franzosen in hochmütiger Häme „Kulturchauvinismus“ vorwarfen, weil deren Nationalversammlung ein Sprachgesetz gegen Überfremdung (la Loi Toubon) beschlossen hatte (von 80% aller Franzosen begrüßt), das allerdings –entgegen falschen Darstellungen - kein Verbot des Englischen enthielt, sondern der Bewahrung des Integrationsvermögens der eigenen Sprache diente, die damals auch zu degenerieren drohte - zum „franglais“, wie man sagte. In Frankreich ist es dann auch gelungen, die Sprache jedenfalls einstweilen vor größerem Schaden zu bewahren, freilich weniger durch das Gesetz als dank seiner hoch angesehenen Academie Francaise, die in Deutschland nicht ihresgleichen hat[23].
III.
Das sei an sich nicht unmöglich, meint Zimmer, fährt aber fort: „Es setzt jedoch den gemeinsamen Willen voraus, das Deutsche an der deutschen Sprache zu erhalten. Dieser Wille ist nicht vorhanden und würde, wenn er sich irgendwo regen sollte, sofort als Deutschtümelei ausgepfiffen werden. Also werden die, die später in unserem Land leben, eines Tages die Engländer, Franzosen, Polen, Finnen und Spanier um ihren Eigensinn beneiden. Und die Klügsten werden ihre Kinder von Anfang an Englisch lernen lassen, damit sie später wenigstens eine der geschichtlichen europäischen Sprachen von Grund auf und richtig beherrschen“[24].
Diese Prognose trifft vermutlich ins Schwarze – vermutlich: Das heißt zugleich, dass sie unser Schicksal nicht mit voller Sicherheit voraussagt. Nicht alles ist schierer Sachzwang! Wir müssen das spezifisch deutsche Motiv, der eigenen Sprache den Schutz zu versagen, unter die Lupe nehmen, welches in der Tat darin zu finden sein wird, dass diese Spielart von „Sensibilität“ („sich zurücknehmen“) als Akte der Vergangenheitsbewältigung[25] gerechtfertigt und sogar als moralische Leistungen überhöht und verlangt werden. Die nationale Sprache gilt dann als verdächtige und deshalb peinliche Mitgift, so dass es schicklich und jedenfalls opportun ist, sie wenn überhaupt nur leise zu sprechen und sie keinesfalls zum Zensor über fremd zugewanderte Wörter zu setzen: Unantastbarkeit gleichberechtigter Multikultur! Nun lässt sich darüber streiten, welche Konsequenzen die Verbrechen der Nazizeit haben - oder zugeschrieben bekommen müssen[26]. Aber eben dies ist jetzt keineswegs das Thema, ja: hier ist dessen Auftritt völlig absurd, denn die deutsche Sprache ist unschuldig und wäre das falsche Opferlamm. Vielleicht muss man daran erinnern, wie vielen der zur Nazizeit Geschundenen, den verfolgten deutschen Juden vor allem, deutsche Sprache und Literatur zum letzten Halt und Trost geworden waren – zu ihrem geistig-gefühlsmäßigen „portativen Vaterland“[27].
Ist eine Predigt wider die Prediger falschen Verzichts ein hoffnungsloses Unterfangen? Vielleicht, aber vielleicht auch nicht: Elisabeth Noelle-Neumann erläutert in ihrer „Schweigespirale“[28], wie Einstellungen, Meinungen und Haltungen, deren Maßgeblichkeit der Gesellschaft von den Medien ständig suggeriert wird, sich verbreiten und ihre Herrschaft umso umfassender erlangen, je weniger ihnen Widerspruch entgegentritt. Da der Mensch seiner Natur nach „furchtsam und vorsichtig“ ist[29], neigt er dazu, sich in Meinung und Haltung der präsumtiven Mehrheit zu unterwerfen[30] – und zu schweigen, wodurch die Macht der herrschenden Meinungen gleichsam spiralförmig ins Unermessliche wächst. Allerdings gilt das sozialpsychologische Gesetz in beiden Richtungen: Ein Widerspruch, der die Deckung verschmäht, sich selbst laut und kräftig zur Geltung bringt und das Schweigen bricht, kann als Kontrast zur gängigen Schablone umso mehr Interesse erregen, Mut machen, die Geister beflügeln und letztlich vielleicht sogar die Macht der herrschenden Meinung erschüttern[31].
Die Zukunft ist letztlich offen, und in unserem Falle steht so viel auf dem Spiel, dass der Versuch, nichts geringeres als ein Kulturerbe der Menschheit zu retten, allemal unternommen werden muss.
Günter Bertram
[1] Ludwig Reiners: Stilkunst. Erstausgabe 1944, Sonderausgabe München 1973; jetzt bei BECK 2003 (Euro 23,90); vgl. auch Karl Korn: Sprache in der verwalteten Welt, München 1962
[2]
Dazu näher: Klaus Natorp in FAZ vom
06.11.1999: Alles auf den Prüfstand – Klagelied über die tägliche
Sprachschändung; ders. in FAZ vom 03.08.1996: Verarmt und
verwildert – kleines Lamento über den Umgang mit der Sprache; vgl.
denselben in FAZ vom
25.02.2004: Alles ist nur noch "zufolge", und die Sprachschande ist da -
Politikerjargon und Massenmedien verändern die deutsche Sprache
[3] Eine widersinnige Kombination: ins drückt Dynamik, Bewegung aus; stehen ist statisch und bezeichnet Bewegungslosigkeit. Das zusammengeflickte Wort besagt: „unmittelbar bevorstehend“. Lässt sich das denn nicht auch sprachlich ausdrücken?
[4] Vgl. dazu MHR 1992 Heft 1 S. 14: Über Menschen
[5] Klaus Natorp: FAZ v. 03.08. 1996
[6] Dazu der Zwischenruf einer Leserin in der FAZ v. 06.09.2001: Stets “vor Ort“: ...“Jeder Reporter, jeder Feuerwehrmann, überhaupt jeder, der glaubt, etwas sagen zu müssen, kennt nur noch „vor Ort“... keiner macht sich die Mühe zu überlegen, ob etwas „in, auf, unter, über, neben, an Ort und Stelle oder am Ort des Geschehens“ stattgefunden hat. ...“vor Ort“ ist inzwischen zu einem „Passepartout“ verkommen... Es erspart ganz einfach die Mühe des Nachdenkens“...
[7] FAZ vom 27.01.1986: Umstritten? Vgl. auch FAZ vom 27.06.2002: Umstritten
[8] vgl. auch MHR 1987 Heft 4 S.14
[9] Dazu MHR 1993 Heft 2 S. 20: Reden, um nichts zu sagen - mit Hinweis auf Erhard Eppler: Kavalleriepferde beim Hornsignal, Suhrkamp 1992 (Nr. 1799)
[10] Auch diese auf Anhieb unscheinbare Wendung nimmt Kurt Reumann in der FAZ vom 17.10. 1995 auf die Hörner:
„Auch eher besonders: Ist Steffi Graf niedergeschlagen? Nein, so etwas gibt es nicht. Sie ist eher niedergeschlagen. Also, eigentlich nicht niedergeschlagen, aber natürlich erst recht nicht fröhlich – also eher doch niedergeschlagen. Scharping ist nicht zornig, sondern eher zornig. Kohl ist nicht zufrieden, sondern eher zufrieden; Juhnke ist nicht zuversichtlich (dass seine Ehefrau in die Grunewaldvilla zurückkehren werde), sondern eher zuversichtlich. Eine seltsame Welt: Niemand ist mehr etwas richtig, alle sind etwas eher. Kann man sagen, der Eifelturm ist hoch, der Heldentenor Pavarotti dick? Man kann so sagen, aber besser liegt man in der Zeit, wenn man sagt: Der Eifelturm ist eher hoch, P. ist eher dick. Woher kommt das? Wahrscheinlich daher, dass niemand mehr gerade stehen will für das, was er gesagt hat. Es könnte ja jemand darauf zurückkommen: Sie haben gesagt, P. ist dick: stehen Sie dazu? So ein forscher Nachfrager käme nicht weit, bliebe gleich in der Fußangel hängen: Nein mein Lieber, ich habe nicht gesagt, P. ist dick, sondern habe gesagt, P. ist eher dick ....“
[11] Es ist ein Meer von Floskeln, in dem die deutsche Sprache förmlich ertränkt wird. Vgl. z.B. Eike Christian Hirsch: Deutsch für Besserwisser, 1976; ders.: Mehr Deutsch für Besserwisser, 1979: Karl Korn: Sprache in der verwalteten Welt, dtv. 1962; Hansjörg Maus in: Weißbuch zur Rettung der Sprache, München 1976: Werbedeutsch. Unter dem Eindruck der NS-Sprachverwüstung: Sternberger/Storz/Süßkind: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Zur Nazisprache auch: Victor Klemperer: LTI (scil: Lingua Tertii Imperii: Sprache des Dritten Reichs), Halle 1957. Eine durchweg scheußliche Sprache prägt leider auch die deutschen Fassungen europarechtlicher Texte, wie sie uns seit Jahren aus Brüssel präsentiert werden, vgl. dazu die beißende Glosse Toni Walters in NJW 2004, 582: Entwurf einer Richtlinie zur sprachlichen Gestaltung europarechtlicher Texte.
[12] Vgl. z.B. Dichtung und Wahrheit passim; Maximen und Reflexionen, Leipzig 1954, dort Aus dem Nachlass – über Literatur und Leben, S. 174 ff. Unter Ziffer 983: Der Deutsche soll alle Sprachen lernen, damit ihm zu Hause kein Fremder unbequem, er aber in der Fremde überall zu Hause ist.
[13] Und seine hohe Wertschätzung Luthers –„des trefflichen Mannes“, dessen deutscher Bibeltext von den Philologen nur noch verwässert werden könne (Dichtung und Wahrheit, 11. Buch)
[14] Goethe: Maximen aaO. (Anm. 12), Ziffer 984
[15] Dazu Reiners aaO. (Anm.1) S. 539 ff: Fremdwort und Neuwort. Ausführlich aktualisiert von Dieter E. Zimmer: Deutsch und anderes – Die Sprache im Modernisierungsfiber, Rowohlt 1997, S. 54 ff.
[16] Zit. nach Bergedorfer Zeitung vom 06.10.2001: Die coole deutsche Sprache – wir werden von Anglizismen überrollt – und einige wenige wehren sich dagegen; vgl. auch Walter Krämer: Modern Talking auf Deutsch, Piper Mü. 2000; Eike Christian Hirsch: Deutsch für Besserwisser, S. 167 ff: Fremd-Wörtliches
[17] Philip Broughton, ein vom BWL-Sprachdickicht und -Jargon frustrierter Angestellter des US-Gesundheits-dienstes erfand sein „automatisches Schnellinformationssystem“ – aus dreißig ausgewählten Schlüsselworten –, das jedenfalls im Kern auch unsere Verhältnisse plastisch wiederspiegelt und deshalb hier mitgeteilt wird, zumal es zu den heitersten Gesellschaftsspielen anregen kann:
Spalte 1 Spalte 2 Spalte 3
0. konzentrierte 0. Führungs- 0. -struktur
1. integrierte 1. Organisations- 1. -flexibilität
2. permanente 2. Identifikations- 2. -ebene
3. systematisierte 3. Drittgenerations- 3. -tendenz
4. progressive 4. Koalitions- 4. -programmierung
5. funktionelle 5. Fluktuations- 5. -konzeption
6. orientierte 6. Übergangs- 6. -phase
7. synchrone 7. Wachstums- 7. -potenz
8. qualifizierte 8. Aktions- 8. -problematik
9. ambivalent 9. Interpretations- 9. -kontingenz
Das Vokabular ist nicht mehr ganz a jour - wohl aus den 70ern. Doch Worte lassen sich beliebig auswechseln. Das Prinzip ist leicht zu fassen: 526 z.B. heißt: funktionelle Identifikationsphase; wer so zu reden versteht, hat die qualifizierte Wachstumsebene (872) zweifellos schon erklommen!
[18] Zimmer, aaO. (Anm.15) S. 48
[19] Eingehend dazu Zimmer aaO. (Anm.15) S. 7–85: Neuanglodeutsch – Über die Pidginisierung der Sprache
[20] zit. bei Zimmer aaO. (Anm. 15) S. 21
[21] „Pidgins“ sind die Behelfssprachen, die sich ad hoc bilden, wenn Sprecher verschiedener sprachlicher Herkunft ohne gemeinsame Sprache sich auf Biegen und Brechen miteinander verständigen müssen, ohne dass einer wirklich die Sprache des anderen lernt.. Das erste Pidgin im heutigen Sinne war die Sprache, die sich nach der Mitte des XVII. Jh. in südchinesischen Häfen herausbildete, wo Chinesen und Engländer miteinander Handel trieben. Zimmer aaO. (Anm. 15) S. 71.
[22] Das Szenario gilt nicht nur für Deutschland. Für sein eigenes Land stellt der italienische Wissenschaftler Giancarlo Oli die Diagnose: „Das Italienische hat die in seinem Genom ... angelegte Immunabwehr eingebüßt, die es in all den vergangenen Jahrhunderten befähigte, ausländische Entlehnungen einzubürgern ...“. Darum gewönnen völlig sprachfremde Wörter heute die Oberhand, die Anpassung an neue Gegebenheiten bleibe nichtitalienischen Wörtern überlassen, das Italienische verliere mithin seine Beziehung zur kontemporären Wirklichkeit – es sei eine „zum Tode verurteilte Sprache“; vgl. auch Zimmer aaO. (Anm. 15) S. 73, der (s.o.Anm.18) eine Analyse mitteilt, demzufolge Finnisch, Französisch, Polnisch und Spanisch am wenigsten, Dänisch und Deutsch am stärksten anglisiert worden, also am „kaputtesten“ seien.
[23] Zimmer (Anm.15) S. 44 ff: „In Frankreich scheint weitgehend Konsens zu bestehen, dass die Sprache genauso bewahrenswert ist wie Kathedralen...“. Würden sich die Deutschen doch etwas Ähnliches leisten wie eine französische Akademie - statt ihre der Sprache zugemessenen Energien bei der Suche nach Unwörtern zu verpulvern!
[24] Zimmer aaO. (Anm.15) S. 85, zur deutschen Seelenlage (Übertragung des Bewältigungsmotivs auf die Sprache) vgl. auch S. 8, 12, 30 – 33.
[25] dazu MHR 1994 Heft 1 S. 17 (Deutsche Identität)
[26]
Zu einem im Doppelsinn naheliegendem
Beispiel
vgl. MHR 1994 Heft 3, S. 15, 1995 Heft 2, S. 12, 1997 Heft 1, S. 5, 1998
Heft 2, S. 9: Mahnmal vor dem HansOLG
[27] Nach Heinrich Heine, vgl. nur Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben, Stuttgart 1999, passim; auch Victor Klemperer: Tagebücher 1933 – 1945
[28] Die Schweigespirale – Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut, Frankfurt 1982
[29] James Madison (1788), vgl. Noelle aaO. (Anm.28) S. 107, 267
[30] Für den amerikanischen Soziologen David Riesman (The Lonely Crowd, Yale 1950; dt. – die einsame Masse - Rowohlt 1972 mit Vorwort von Helmut Schelsky) ist der moderne Amerikaner im Gegensatz zum älteren (innengeleiteten) Typus „außengeleitet“: Er beobachtet die Umwelt und folgt ohne inneres Fragen dem herrschenden äußeren Geist der Mehrheit. Das gilt keineswegs nur für die USA, wie z.B. die psychologischen Versuche Stanley Milgrams gezeigt haben. Die Noelle’schen Überlegungen sind vor diesem literarischen Hintergrund dessen Nutzanwendung auf ihre Fragestellung.
[31] vgl. Noelle-Neumann aaO. (Anm.28) S. 240: Der Kampf gegen die Schweigespirale, und passim