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Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

wieder einmal haben wir Wolfgang Hirth zu danken für die immense Arbeit, die er vierteljährlich für MHR leistet. Das umfangreich bei ihm eingehende Schriftwerk in eine ansprechende Form zu gießen – und alles natürlich in letzter Sekunde, weil alle Autoren so zögerlich liefern – ist keine Kleinigkeit. Die Themenvielfalt dieses Heftes wird Ihnen manche kurzweilige Atempause bereiten, beginnend mit Günter Bertrams Sprachkritik „Die stammelnde Nation“. Die Ursachen für den festgestellten Befund sind zahlreich – eine ist die der Medienverwahrlosung insbesondere der Kinder und Jugendlichen. Der Kriminologe und ehemalige Justizminister Niedersachsen, Prof. Dr. Christian Pfeiffer, gelangt zu der These, die PISA-Ergebnisse in Deutschland seien auch deswegen so schlecht, insbesondere bei Jungen, weil Kinder schon nachmittags der Medienverwahrlosung ausgesetzt seien. Unsägliche Nachmittagsshows, die jüngst der Programmdirektor des NDR als „verbale Pornographie“ bezeichnete, füllen den Bildschirm, um in wortschatzarmem Neusprech Fragen zu erörtern wie „Hilfe, das Kind ist nicht von mir!“ oder andere menschheitserschütternder Themen, bei denen die Protagonisten intimste Verhältnisse darlegen. Mangelnder Wortschatz, geringe Lesekompetenz, Bewegungsmangel und Verkümmern der sozialen Kompetenz sind die Folgen. Pfeiffer sieht Hilfe in der Ganztagsschule, die die Kinder nachmittags aktiven Beschäftigungen zuführt. Bewegung, Kultur, Musik, Soziales Lernen, Familienkunde, Sport, kurzum Menschenerziehung, hätten Priorität. Dann brauche man auch weniger Mittel für Jugendhilfe, weil alles Wesentliche in der Schule geschehe. Und noch weiter: Wer das Geld in Menschenerziehung stecke, brauche weniger Strafanstalten.

Auch den Lesehunger zu stärken, ist ein Mittel, denn Lesen fordert und trainiert das Hirn. Apropos, es gibt ein wunderbares (Kinder?)buch, dessen 570 Seiten zum Lesen empfohlen seien, und dies nicht nur für Kinder: Cornelia Funke, Tintenherz. Die spannende Geschichte entwickelt sich aus einer faszinierenden Idee: Der Bücherrestaurator Mo ist fähig, Gestalten aus Büchern herauszulesen! Sie werden lebendig, bevölkern unsere Welt und sind nur sehr schwer wieder in ihre Geschichten zurückzulesen. „Mut machen, die Geister beflügeln und letztlich vielleicht sogar die Macht der herrschenden Meinung erschüttern“ so endet Bertram seinen Beitrag, was nicht nur für die Sprache gilt, sondern letztlich auch beschreibt, was dieses Land aus seiner Erstarrung befreien könnte. Zum „Beflügeln der Geister“ sowohl der Schüler als auch des Autors selbst hat sicher auch Dirk van Buirens Beitrag zum Tag der Menschenrechte geführt. Auch die Justiz kann sich an der Werteerziehung beteiligen, indem das Verständnis für Recht und Rechtsprechung durch persönliche Kontakte zwischen Schülern und Richtern bzw. Staatsanwälten (alle auch in der weiblichen Ausprägung) stärkt. Die Einbindung der Praxis in den Rechts­kunde- und Ethikunterricht ist dazu ein sinnvolles Mittel, das nicht nur an Tagen der Menschenrechte eingesetzt werden sollte.

Mit besonderer Erwartung können wir dem angekündigten Vortrag Dr. Nadjma Yassaris entgegensehen. Das Zusammenleben mit den Anhängern des Islam in Zeiten fundamentalischen Terrors macht es zunehmend dringlicher, sich stärker mit den Grundlagen von Religion und Recht jenes Kulturkreises auseinanderzusetzen. Zum einen, um zu einer gerechten Einschätzung der friedlich unter uns lebenden Menschen jenes Glaubens zu finden, zum anderen, um uns selbst über unsere Werte Klarheit zu verschaffen. Der Streit um das Tragen des Kopftuches in öffentlichen Ämtern ist nur ein kleiner aber signifikanter Teil der notwendigen Diskussion. Ob „das Kopftuch“ mehr religiöses oder mehr politisches Symbol ist, auch dies wird uns Dr. Yassari erläutern können.

Ich wünsche Ihnen heitere Frühlingstage und empfehle zur Einstimmung die Pastorale, dem neuen, modernen Stil der Welle NDR Kultur folgend natürlich den zweiten Satz. Oder vielleicht Goethens Osterspaziergang?


Ihre

Karin Wiedemann