(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/03, 20) < home RiV >

Ein Verfassungsgericht in den besten Jahren

 

Das Hamburgische Verfassungsgericht feiert sein 50-jähriges Bestehen

 

Am 31. Oktober 2003 ließ sich das Hamburgische Verfassungsgericht zu den Klängen des Hamburgischen Juristenorchester feiern. Anlaß war das 50-jährige Bestehen des im Oktober 1953 gegründeten Verfassungsgerichts. Die Präsidentin der Bürgerschaft, Dr. Dorothee Stapelfeldt[1], und der Erste Bürgermeister, Ole von Beust, übermittelten bei dem Festakt in der Eingangshalle des Hanseatischen Oberlandesgerichts die Glückwünsche der beiden anderen Staatsgewalten und würdigten die Rolle des Verfassungsorgans Verfassungsgericht.

 

Der Präsident des Hamburgischen Verfassungsgerichts, Wilhelm Rapp, nutzte die Gelegenheit, um nicht nur die etwa 150 anwesenden Gäste aus Justiz, Politik und Gesellschaft sowie die erschienenen Medienvertreter zu begrüßen, sondern zugleich auch Grundsätzliches über die Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Justiz zu sagen[2]:

 

„Die Dritte Gewalt ist nun einmal in einem Rechtsstaat nicht das „Kuscheltier“ der anderen Staatsgewalten, genauso wenig wie sie von den anderen Staatsgewalten stets nur Streicheleinheiten erwartet. Das gilt übrigens nicht nur für das Verfassungsgericht, sondern für alle Gerichte. Aus aktuellem Anlaß, der nicht das Hamburgische Verfassungsgericht, sondern ein Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Sorgerechtsverfahren betraf, sage ich: Die Justiz insgesamt erwartet, daß ihr Auftrag zur Anwendung des geltenden Rechts im Einzelfall nicht aus dem politischen Raum mit wiederholten öffentlichen Formulierungen wie z.B. „die Richter haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt“ quasi in Frage gestellt wird. Der Zeitgeist, aus welcher Richtung er, kurzlebig wie er ist, auch gerade kommt, ist für uns kein Entscheidungsmaßstab. Unser Maßstab ist die geltende Rechtsordnung. Die mag unvollkommen und veränderungsbedürftig sein. Wer das in der Politik meint, muß auf ihre Veränderung hinwirken. Wer dies aber mangels Rechtsetzungskompetenz oder mangels Mehrheit nicht zustandebringt, darf von der Dritten Gewalt nicht erwarten, daß sie da durch Subsumtion unter politische Programme, großgedruckte Schlagzeilen oder die bereits benannten „Zeichen der Zeit“  hilft.

 

Die staatlichen Gewalten haben unterschiedliche Aufgaben und der Rechtsstaat in seiner Gesamtheit funktioniert nur dann, wenn sie die Grenzen ihrer Aufgabenbereiche beachten und die der jeweils anderen Gewalten respektieren. Verfassungsgerichtliche Arbeit ist auch Kontrolle politischer Macht. Wir müssen in einem Teil Deutschlands weniger und im anderen Teil nur wenig mehr als fünfzig Jahre zurückblicken, um zu sehen, daß der Rechtsstaat keine Selbstverständlichkeit ist. Er ist sozusagen täglich neu zu erarbeiten und zu sichern. Dafür sind alle staatlichen Gewalten gemeinsam, aber auch die Bürgerinnen und Bürger und nicht zuletzt auch die Medien verantwortlich. Dieser Verantwortung sind wir alle in den letzten fünfzig Jahren durchweg (von einigen wenigen kleinen Ausrutschern mal abgesehen) gerecht geworden und so soll es bleiben.“

 

Diese Akzentsetzung wurde notwendig angesichts der in den letzten Wochen und Monaten zunehmenden populistischen Richterschelte nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland in Hamburg. Diese bei weitem nicht mehr sachliche Kritik, die in einem Fall sogar die Forderung nach „Versetzung“ einzelner Richter einschließt, beruht zum Teil auf mangelnder Kenntnis der im Einzelfall komplizierten und damit öffentlich schwer vermittelbaren Sach- und Rechtslage, zum Teil wird sie aber eben auch wider besseres Wissen vorgetragen.

 

In diesem nicht immer freundlichen Umfeld erledigen die Gerichte ihren Verfassungsauftrag, dies in stetig steigender Zahl. Die nicht einmal 120 Verfahren, die das Hamburgische Verfassungsgericht seit 1953 insgesamt bearbeitet hat, sind zahlenmäßig nicht so sehr beeindruckend. Inhaltlich hat das Verfassungsgericht aber in der Hamburger Verfassungspraxis einige entscheidende Wegmarken gesetzt. Neben der wohl bekanntesten Entscheidung zur Ungültigkeit der Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft vom 2. Juni 1991 war das Verfassungsgericht mit den Rechten und Befugnissen der bürgerschaftlichen Untersuchungsausschüsse, der Fünf-Prozent-Sperrklausel auf Bezirksebene, der vermuteten Bewaffnung eines Senators, der Beihilfe für hamburgische Beamte, der Nettokreditaufnahme und dem Online-Roulette befaßt. Ganz aktuell ist die Anrufung des Verfassungsgerichts durch eine Volksinitiative, die dem Senat den geplanten Verkauf der städtischen Krankenhäuser bis zur Durchführung eines Volksentscheides untersagen lassen möchte, dies sowohl im Hauptsacheverfahren als auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Insofern sieht sich das Verfassungsgericht, das in den Anfangsjahren kaum aktiv wurde und dessen Mitglieder ihr Richteramt neben ihrem Hauptberuf wahrnehmen, einem wachsenden Zustrom an Verfahren gegenüber, um in letzter Instanz über die Einhaltung und Auslegung der Hamburgischen Verfassung zu wachen.

 

Daß die Bedeutung der Verfassungsgerichte auf Länder- wie auf Bundesebene künftig eher noch zunehmend wird, hat der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Jürgen Papier, in seinem Festvortrag eingehend beschrieben[3]. Die Landesverfassungsgerichte seien ein unentbehrliches Element der Eigenstaatlichkeit der Länder. Allerdings sei es Zeit, die föderale Ordnung mit ihrem Kompetenzgefüge der Bundesrepublik zu überdenken und gegebenenfalls auf eine zukunftsfähige Grundlage zu stellen. Notwendig dazu sei eine klare Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern. Diese Forderung übertrug der Bundesverfassungsgerichtspräsident sodann auf die europäische Ebene, indem er sagte, daß eine Föderalismusdebatte in Deutschland ohne eine gleichzeitige Diskussion über Ausmaß und Grenzen einer europäischen Integration wenig Sinn mache und an der Realität vorbeiginge. In diesem Zusammenhang forderte er eine deutlichere Abgrenzung der Kompetenzen der EU und der Mitgliedstaaten. Ob und inwieweit Prof. Papier mit seiner ausdrücklichen Bezugnahme auf die in der einschlägigen Literatur kritisierte Maastricht-Entscheidung von 1993 und Formulierungen wie „fremdbestimmte europäische Nivellierung“ den hohen Grad an Kooperation und gegenseitiger Respektierung zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof teilweise wieder zurückgenommen hat, blieb am Ende offen. Das nächste Verfahren, das im Zusammenhang mit der derzeit im Werden befindlichen Europäischen Verfassung sicher an das Bundesverfassungsgericht herangetragen werden wird, wird diese Frage erneut aufwerfen.

 

Eindeutig ist jedenfalls die Schlußbemerkung des Festredners, daß sich die nationalen Verfassungsgerichte bereits heute darüber im Klaren sein müßten, was auf sie zukommen kann, sind sie doch diejenigen, die für die Statik an dem zu errichtenden „Europäischen Haus“ mitverantwortlich sind. „Tun sie das nicht, so laufen sie Gefahr, zum bloßen Ornament in der Europäischen Verfassungsarchitektur zu werden: Schön anzusehen, aber ohne praktischen Nutzen.“ Dies gilt indes nicht für Verfassungsgerichte allein, sondern für alle Gerichte und alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen.

 

RiLG Dr. Ingo Beckedorf


 

[1] Im Volltext bei http://fhh.hamburg.de/stadt/Aktuell/ justiz/gerichte/verfassungsgericht/aktuelles/

presseerklaerungen/pressemeldung-2003-11-13-verfg-01.html

[2] Im Volltext bei http://fhh.hamburg.de/stadt/Aktuell/ justiz/gerichte/verfassungsgericht/aktuelles/presse erklaerungen/pressemeldung-2003-11-07-verfg-01.html

[3] Im Volltext bei http://fhh.hamburg.de/stadt/Aktuell/ justiz/gerichte/verfassungsgericht/aktuelles/

presseerklaerungen/pressemeldung-2003-11-10-verfg-01.html