(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 3/03, 8) < home RiV >

85 Jahre
Frauenstimmrecht

Am 12.11.1918 faßte der Rat der Volksbeauftragten, die provisorische Reichsregierung nach der Flucht des Kaisers am 10.11.1918, bestehend aus den Sozialdemokraten Ebert, Scheidemann, Landsberg und den USPD-Mitgliedern Haase, Dittmann, Barth, den Beschluß, fortan alle Wahlen gleich, geheim, direkt, allgemein und für alle Personen über 20 Jahre zuzulassen. Erstmals gab es keine Sonderregelungen auf Grund des Standes, des Vermögens oder des Geschlechts. Auf der Reichskonferenz aller deutschen Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin vom 16.-21.12.1918 wurden die Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung in Weimar auf den 19.1.1919 angesetzt. An diesem Tage durften Frauen erstmals ihr Stimmrecht ausüben. Sie taten es mit einer Wahlbeteiligung von 80 %.[1] Die Weimarer Verfassung vom 11.8.1919 schrieb ihrerseits das allgemeine und gleiche Wahlrecht fest. Es wurde nach dem Zusammenbruch der Demokratie mit den bekannten Konsequenzen beibehalten und schließlich im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert.

Aktives und sogar passives Wahlrecht sind schwer erkämpfte Besitzstände, besonders für Frauen. Nicht die jahrzehntelangen Kämpfe, die Frauen und Männer in Deutschland mit großen persönlichen Opfern führten, haben zu dieser „jungen“ Errungenschaft geführt. Es bedurfte einer Umwälzung des gesamten Staatswesens und einer katastrophalen Niederlage des alten Systems, um eine seit mehr als 100 Jahren erhobene Forderung der Frauen und einiger ihrer wenigen männlichen Unterstützer zu erfüllen.

Die seit 1848 entstandenen Parlamente waren solche der Privilegierten. Beispielhaft sei Hamburg genannt. 1880/1881 hatte die Stadt 454.000 Einwohner. Wahlberechtigt zum Reichstag waren davon 103.000, Einkommenssteuerzahler gab es 90.000 und „Bürger“ 31.000. Wahlberechtigt zur Bürgerschaft waren 22.000 Bürger. 1890 waren 23.000 Bürger wahlberechtigt, es gab 28.000 Bürger, 152.000 Einkommenssteuerzahler, 138.000 Reichstagswähler und 623.000 Einwohner. Innerhalb der Bürgerschaftswähler waren einige besonders privilegiert, die Grundbesitzer – 1880/81 etwa 5500, 1890 rund 6000 - , die zweimal abstimmen durften und die Notablen (500 bzw. 600), die sogar drei Stimmen hatten[2].

Das Jahr 1892, das in Hamburg Vieles veränderte, brachte schlaglichtartig zu Tage, wie wenig die Herrschenden die wachsende Stadt vorbereitet hatten. Die Choleraepidemie des Jahres, gestärkt durch die unwürdigen sozialen und hygienischen Zustände in vielen Vierteln der Stadt, insbesondere den Gängevierteln, forderte 8600 Todesopfer. In einem sozialdemokratischen Flugblatt hieß es:

„Wir wollen nicht nur dulden, wollen nicht durch die Schuld der Handvoll „Bürger“ der grausigen Seuche zum Opfer fallen, wollen nicht nur Steuern und Zölle zahlen und im übrigen „das Maul halten“, wollen selbst mitsprechen, wollen selbst unsere Vertreter in die gesetzgebenden Körperschaften wählen…“.[3]

Das Staatsarchiv und die Staatliche Landesbildstelle verwahren einen Bestand an anschaulichen Bildern zu den damaligen Zuständen und Ereignissen.[4]

Der Druck wurde so stark, dass Hamburg das Wahlrecht mit Gesetz vom 5. März 1906[5] „reformierte“. Die Wahlberechtigten wurden künftig unter Berücksichtigung der Steuerleistung nur noch in zwei Gruppen (Klassen) eingeteilt und den Gruppen bestimmte Anteile an den Sitzen zugeordnet: Zur ersten Gruppe der Wahlberechtigten gehörten jene, die mehr als 2500 Mark Jahreseinkommen im Durchschnitt der letzten drei Jahre erwirtschafteten. Ihnen standen 24 Sitze zu. 12 Sitze erhielt die zweite Gruppe, die diejenigen vereinte, die 1200-2500 Mark Jahresverdienst aufwiesen. Im Ergebnis nahmen von den 160 Sitzen der Bürgerschaft die gut situierten Bürger 128, die weniger verdienenden Bürger 24 Sitze ein. Die Masse der Einwohner – nicht einmal die der Steuerzahler – war überhaupt nicht repräsentiert. Die Einkommensgrenzen konnten durch einfache Mehrheit geändert werden. So war für den Fall einer Vergrößerung der besitzenden Klasse „vorgesorgt“[6]. Eckardt weist zu recht darauf hin, dass hier eine irrationale Angst gegen das Eindringen neuer Bevölkerungsgruppen waltete.[7] Gesetze konnten nur durch Senat und Bürgerschaft gemeinsam beschlossen werden. Die Bürgerschaft bestand zur Hälfte aus Abgeordneten der Notablen und Grundeigentümer, also einer kleinen Oberschicht, zur anderen Hälfte aus den in den sogenannten allgemeinen Wahlen bestimmten Abgeordneten, die von den Land-Bürgern und den beiden Einkommensgruppen der Stadt-Bürger gewählt wurden mit den oben dargelegten festen Mehrheitsverhältnissen. Die „Gefahr“ existierte nicht.

Ein Stimmrecht für Frauen gab es auch nach der „Reform“ nicht. Bis zur Neufassung des Gesetzes über das Hamburger Bürgerrecht von 1896 waren Frauen ausdrücklich vom Erwerb des Bürgerrechts und damit auch vom Wahlrecht ausgeschlossen worden. Das Gesetz über den Erwerb der Bürgerrechte von 1896 sah keinen ausdrücklichen Ausschluß mehr vor. Die Hamburgerin Lida Heymann, Tochter eines Großkaufmanns im Kaffeehandel, die als begüterte Erbin die Bedingungen des Gesetzes erfüllte – sie war volljährig, staatsangehörig, nicht straffällig geworden und versteuerte ein Jahreseinkommen von 2000 Mark - beantragte beim Standesamt die Erteilung des Bürgerrechts, das sie zur Wahl berechtigt hätte. Sie erhielt eine abschlägige Antwort mit der – gesetzwidrigen – Begründung, Frauen könne das Bürgerrecht nicht gewährt werden. Ihre Beschwerde an den Senat war erfolglos. Die Antwort lautete, durch das Gesetz von 1896 sei die Zulassung weiblicher Personen zum Erwerbe des Bürgerrechts weder erfolgt noch beabsichtigt. Lida Heymann teilte mit, dann weigere sie sich, weiter Steuern zu zahlen.[8] Die Öffentlichkeit nahm lebhaften Anteil. Die Steuerbehörden blieben natürlich ungerührt. .....................

Die Diskussion um das Frauenstimmrecht wurde erstmals laut in der Französischen Revolution, von der sich gerade Frauen, die aktive Rollen in diesem Prozeß spielten, viel versprochen hatten. Doch sie kämpften vergeblich für ihre politischen Rechte. Madame Roland (1754-1793) starb am 31.10.1793 unter der Guillotine, Olympe de Gouges vier Tage später am 4. November (1748-1793). Beide wurden hingerichtet, „weil sie Staatsmann, Philosoph und Wissenschaftlerin sein wollten“, wie auch Zeitgenossen klar sahen. Man schob rechtliche Kategorien vor und konstruierte Hochverrat. „Wahnvorstellungen, Unsinnigkeiten“ nannte man ihre politischen Forderung, die Gleichheit auch auf diejenige zwischen den Geschlechtern zu beziehen. 1791 erschien ihre Schrift „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“, die sie an die Nationalversammlung richtete. Darin faßte sie in 17 Artikeln einen Forderungskatalog zusammen, der mit dem Artikel beginnt „Die Frau ist frei geboren und ist dem Mann an Rechten gleich.“ Der „Moniteur“ schrieb in einem Nachruf auf Olympe de Gouges – „diese Verschwörerin gegen die Ziele der Revolution sei vom Gesetz bestraft worden, weil sie die Tugenden, die ihrem Geschlecht eigen seien, vergaß“[9].

Hedwig Dohm (1833-1919) gehörte zu den ersten, die das Frauenstimmrecht in Deutschland einforderten – und sie erlebte die Erfüllung noch kurz vor ihrem Tode am 4.6.1919. Neben anderen Werken veröffentlichte sie 1876 das Buch „Natur und Recht“, in dem sie sich gegen die Festlegung der Frau auf Gattin, Hausfrau und Mutter wandte. Sie sah ökonomische Unabhängigkeit und berufliche Selbstverwirklichung als Voraussetzung für die Änderung der traditionellen Rollenverteilung in der Familie, auch im Interesse der Männer, die sie zur Teilnahme an der Kindererziehung aufrief. Die Institution der Ehe sollte sich durch die Emanzipation der Frau zu einer lebendigen Partnerschaft zwischen Mann und Frau entwickeln. Ihre Enkelin Katia Mann lebte nicht ohne inneren Protest das Gegenteil.

1902 wurde in Hamburg von Mitgliedern des radikeln Flügels der Frauenbewegung, Anita Augsburg, der Steuerrebellin Lida Gustava Heymann, Minna Cauer und anderen, der Deutsche Verein für Frauenstimmrecht gegründet. Dieser Zusammenschluß war ständig von der Polizei bedroht, deren Spitzel in den Sitzungen eifrig mitschrieben – Frauen waren Gründung und Mitgliedschaft in politischen Vereinen verboten. 1904 kam es in Berlin zur Gründungskonferenz des Weltbundes für Frauenstimmrecht. Tausende von Delegierten und Besucherinnen kamen zusammen und demonstrierten gemeinsam für die Gleichberechtigung der Frauen und das Stimmrecht. Aber es dauerte immerhin noch 14 Jahre. Erst mussten die Deutschen durch Krieg in Not und Elend gestürzt werden, Frauen in der Heimat das Leben regeln, Deutschland den Krieg vernichtet verlieren und Philip Scheidemann die Republik ausrufen.

Wir alle - nun wahlberechtigten Männer und Frauen - dürfen uns aussuchen, welchen Tag wir feiern: Den 12.11.2003 als 85. Geburtstag des Beschlusses des Rats der Volksbeauftragten oder den 19.1.2004, die 85. Wiederkehr des Tages, an dem die ersten allgemeinen und freien Wahlen stattfanden. Stelle anheim.

Karin Wiedemann


 

[1] Publikation der Konrad Adenauer-Stiftung, Dohm, Süßmuth, Merkel, 75 Jahre Frauenwahlrecht

[2] Eckardt, Von der privilegierten Herrschaft zur parlamentarischen Demokratie, Publikation der Landeszentrale für politische Bildung, 1980, 2. Auf. 1992, Seite 35

[3] Bolland, Die Hamburgische Bürgerschaft in alter und neuer Zeit. Hamburg, 1959;

[4]  vergleiche Abbildungen in Evans, Tod in Hamburg – Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830-1910, Reinbek 1990.

[5]  Hamb. Gesetzsammlung.1906. I. Abteilung. I.27

[6] Eckardt aaO Seite 46.

[7] aaO Seite 47

[8] Dünnebier, Scheu, Die Rebellion ist eine Frau – Anita Augspurg und Lida G. Heymann, Kreuzlingen/München, 2002,

[9]  Peine, Ohne Furcht ins Weite hinaus – Biographien streitbarer Frauen, Solothurn/Düsseldorf, 1995, Seite 137