(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/02, 14) < home RiV >

Das ewig junge Satzungs-“I“


 

1.

Mit Sorge sieht der teilnehmende Beobachter, wie die Leute in den neuen Ländern begierig sind, nach dem Erlebnis eines totalen Zusammenbruchs von Kommunismus und Planwirtschaft schlechthin alles zu übernehmen, was aus dem Westen zu ihnen kommt: gute Autos, mäßiges Joghurt, schädliche Verpackungsberge und letztlich auch noch sinnlose Gebilde der geschriebenen Sprache:

 

Seit dem 21.09. d.J. gibt es eine „Hauptsatzung der Stadt Schwerin“, aus der folgendes zitiert sei:

 

„§ 5

Stadtpräsident/in

 

(1) Der/die Stadtpräsident/in übt die ihm/ihr als Vorsitzenden(de) der Stadtverordnetenversammlung nach der Kommunalverfassung obliegenden Pflichten aus.

 

Die GO regelt insbesondere die dem/der Stadtpräsidenten/in zur Handhabung der Ordnung ... zustehenden Befugnisse.

 

(2) Der/die Stadtpräsident/in vertritt die Belange der Stadtverordnetenversammlung gegenüber dem/der Oberbürgermeister/in ...

 

(3) Der/ die Stadtpräsident/in wird im Falle seiner/ihrer Verhinderung von einem/einer Stellvertreter/in vertreten ...“

 

Der Sozialismus war maskulin; in diesem Sinne galt Margot Honecker als Mann. Auch eine Richterin hatte zu schreiben: „Ich bewerbe mich als Richter an das Kreisgericht Hagenow“ – anders ging es nicht. Nun schlägt das Pendel um: man kann ja auch anders, ganz anders! Die bereitwillig aufgesogenen Versatzstücke liegen im Westen bereit.

 

Besondere Aufmerksamkeit verdient auch

 

„§ 6:

Ältestenrat

 

Der Ältestenrat besteht aus dem/die Stadtpräsident/in, seinem/ihrem Stellvertreter sowie ... usw“.

 

Offenbar hatte der Schreibdienst der Stadtverordnetenversammlung den Rhythmus, in dem Worte neuerdings zusammengeleimt werden mussten, so sehr verinnerlicht, dass die dort zuständigen Männer oder Frauen, nachdem ein männliches „dem“ schon niedergeschrieben stand, einen solchen Widerwillen gegen das zunächst ja in der Tat schon wieder männlich klingende „der“ empfanden, dass sie den richtigen Dativ doch lieber gleich dem weiblich klingenden - wenngleich hier verfehlten - „die“ opferten.

 

So etwas scheint es wirklich zu geben: Neulich las ich ein Schriftstück, dessen VerfasserInnen offensichtlich - um Gottes willen! - nichts falsch machen wollten, in welchem von „Mitgliedern und Mitgliederinnen“ die Rede (nein: die Schreibe!) war. Auch dies ein 1:0-Sieg emanzipatorischer Überbeflissenheit über deutsche Grammatik. Wie hieß es doch früher im Jungvolk: „Deutsch sein, heißt: eine Sache um ihrer selbst willen tun“.

 

Ernstlich gesprochen: Sollten nicht wir alle uns auf den Satz einigen können, dass (von Stellenausschreibungen meinetwegen abgesehen) ein Gebilde aus Druckerschwärze, das nicht gesprochen werden kann, auch nicht zu Papier gebracht werden darf?

 

In der Schweriner Hauptsatzung werden unsere Unarten wie durch einen vergrößernden Zerrspiegel zurückgeworfen. Deshalb ist es nicht mehr als ein Akt innerdeutscher Solidarität, die „Brüder und Schwestern“ auch hier vor Nachahmung zu warnen.“

 

2.

Ich hätte diese alte, schon vor zwölf Jahren geschriebene Glosse[1] nicht wieder ausgegraben, wenn nicht ein frischer Anlass sie mir ins Gedächtnis zurückgerufen hätte:

 

Der 64. Deutsche Juristentag hatte in seiner Mitgliederversammlung zur diesjährigen Herbsttagung in Berlin einen Antrag auf Satzungsänderung angekündigt - eine Förmlichkeit, die in der Regel kaum wahrgenommen wird, weil rein bürokratische Papiere durchweg ungelesen bleiben. Hier aber hatte ein aufmerksames DJT-Mitglied in einer Zuschrift an die NJW[2] angemerkt, dass sich auch der DJT nunmehr im geschlechtsneutralen Gewande präsentieren und deshalb auf eine Satzungsänderung etwas fragwürdiger Art hinaus wolle – demnächst mit Präsident/Präsidentin, Stellvertreter/Stellvertreterin, Schriftführer/Schriftführerin pp.. Daraufhin warf ich erstmals einen Blick in den Satzungsantrag, fand die Kritik vollauf bestätigt und sekundierte dem Briefschreiber mit ein paar eigenen Zeilen an die NJW-Redaktion:

 

„....Die ganze Sprachakrobatik, die zur Satzungsänderung ansteht, kann wohl nur aus einer merkwürdigen Beflissenheit auf die Agenda gesetzt worden sein: aus Sorge, ohne diese Anpassung an eine modische, seit Jahren zu den bizarresten Gestaltungen aufschießende geschlechtsneutrale Sprechweise nicht mehr als korrekt und zeitgemäß zu gelten, und sich dadurch in einer etwas unbestimmbar-gefährlichen Weise öffentlich angreifbar zu machen.

 

Ich selbst habe ca. 40 Dienstjahre in unterschiedlichen Positionen und Ämtern mit Kolleginnen zusammengearbeitet, auch berufsverbandlich. Ich kann mich nicht entsinnen, in praxi auch nur ein einziges Mal auf das obige, gern als brennend präsentierte Problem gestoßen zu sein. Im wirklichen Leben existiert es so gut wie überhaupt nicht. Es hat kein menschliches, personales, beziehungshaftes oder sonst sozial-reales Gewicht. Sollte es etwa innerhalb des DJT, seiner Deputation oder wo immer dort anders sein und Probleme wirklich existieren, auf welche die Satzungsänderung reagieren soll?“ mit dem Fazit: „Der DJT sollte den Vandalen der Sprachverhunzung in den Arm fallen und die Courage aufbringen, diese merkwürdige Satzungs-Kreation schnell wieder zu beerdigen!“.

 

3.

Ich saß in der – wie üblich schwach besuchten, schließlich aber doch noch von ca. 120 Leuten frequentierten – Mitgliederversammlung neben Herrn Kurland[3] und war mit ihm völlig einig in der Beurteilung des Gegenstands der Debatte, die sich lebhaft anließ. Der Vorstand warb für, einige Redner sprachen energisch gegen, andere für die neue Kreation.

Die Gründe dafür: Man müsse den verdeckten Suggestionen der Sprache heute ganz anders begegnen als früher und mit der Sensibilisierungsbereitschaft der Zeit gehen, nicht gegen sie anrennen. Und letztlich: wenn morgen in der Zeitung stünde, der Satzungsvorschlag sei am Votum der Mitgliederversammlung gescheitert, würde eben dies für das Image des DJT (und seine dringend nötige Werbung gerade unter den vielen jungen Juristinnen) nichts Geringeres sein als eine schlichte Katastrophe. Selbst Konrad Redeker ließ sich dahin ein, eigentlich gar nicht zu begreifen, wie jemand heute noch gegen diese längst fällige Modernisierung anreden könne.

Die Gründe dagegen[4] sind hier nicht zu wiederholen; sie (oder ein paar damals besonders aktuell gemachte) wurden, wie gesagt, nicht gerade temperamentlos vorgebracht. Wie wird die Abstimmung (nach einem letzten, geradezu beschwörenden Appell des DJT-Präsidenten, den Antrag nicht scheitern zu lassen) ausgehen? Nachbar Kurland und ich meinten, angesichts der vorgetragenen Argumente sei die zur Satzungsänderung nötige 2/3-Mehrheit wohl kaum zu erwarten. Aber es kam anders: sie wurde sogar um einige Stimmen überboten, und am Nachmittag auf der Eröffnungssitzung des 64. DJT konnte die damals noch amtierende Justizministerin den Präsidenten zu diesem Erfolg beglückwünschen.

 

4.

Zurück zur Schweriner Hauptsatzung:

 

Wenn ich damals meinte, was nicht gesprochen werden könne, solle auch nicht gedruckt werden dürfen, und dies für ein unschlagbares Argument gegen das große „I“ und seine langatmigen und hässlichen Varianten hielt, dann hat die Zeit mein Argument entkräftet: Heute wird nämlich in der Tat so gesprochen - zwar nicht überall, aber vielfach. Manchenorts (wie etwa in der Nordelbischen Kirche) kann man kaum noch anders reden, ohne schiefe Blicke auf sich zu ziehen. Im Genre einer mir einigermaßen geläufigen Dialogkultur zum Beispiel redet man kaum noch schlicht von „Christen und Juden“, sondern in umständlicher Betulichkeit von „Jüdinnen und Juden“ sowie „Christen und Christinnen“. Den Vogel aber schoss einmal der ADAC (oder ein Verkehrsfunk) ab, der offenbar nach Leuten suchte, die bei einer systematischen Erfassung von Staus mitzuwirken bereit wären. So erging der Aufruf, sich zu melden, an „Staumelderinnen und Staumelder“. Aber selbst das große „I“ wird gesprochen – gewisse Milieus können sich schon gar nicht mehr anders artikulieren. Wenn man zuweilen bei allgemeinen Aussagen oder Festsetzungen, die schlechterdings nur auf alle Personen einer bestimmten Kategorie bezogen sein können, dennoch nur von Studentinnen, Schülerinnen, Lehrerinnen, Antragstellerinnen usw. reden hört, mag das den Laien zwar irritieren. Indessen sieht das sensibel geschulte Ohr dabei sozusagen synchron das komplexe Schriftbild insgesamt: StudentInnen, PastorInnen pp. und das Gehirn subvokalisiert dazu und verdoppelt automatisch: Studentinnen und Studenten usw. usw. Eine stupende Kulturleistung, die allenfalls hinter der Erfassung chinesischer Schriftsymbole zurückstehen muss.

 

5.

Wollte man extrapolieren, dann würde die Wette gelten, dass etwa am Ende des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts die juristischen Loseblattsammlungen um mindestens ein (weiteres) Viertel allein deshalb angeschwollen sein werden, weil erstens die unendlichen Verdoppelungen (Kläger/Klägerin; Schuldner/Schuldnerin; Richter/ Richterin, Bundeskanzler/Bundeskanzlerin pp.) viele Zeilen beanspruchen und zweitens die dann unabweisbaren Erklärungen und Textdeutungen über Alternativitäten oder Identitäten udgl. usw. noch viel mehr Textseiten verlangen würden. Wie gesagt: wenn es so weitergeht. Die Erfahrung lehrt andererseits, dass Moden sich gelegentlich totlaufen. Lässt sich hier darauf bauen? So sicher wie einstmals bin ich mir nicht mehr. 1997 hatte ich vermutet, der „linguistische Karneval“ werde sich wohl bis zur Jahrtausendwende (1997 ein magisches Datum!) ausgetobt haben.[5]

 

Das hat er sich offensichtlich nicht, so dass jede Art von Wetten noch angenommen werden können.

 

Günter Bertram


[1] aus den MHR 4/1990, die auch im übrigen den Geist des Aufbruchs nach Osten atmet – nicht den Geist gieriger Verkäufer, sondern den der Aufbauhilfe- und mit einem Appell Roland Makowkas beginnt: „Wer geht in die frühere DDR/„Harburger Kammer“ in Zwickau ?“

 

[2] Heft 26/2002 , S. XVI

[3] dem früheren Vizepräsidenten  des HansOLG

 

[4] Ich habe ein paar einschlägige Überlegungen in MHR 1996 Heft 4 : - Gesetzgebers neue Kleider - und der NJW 1997, 1684:  - Gesetzessprache mit Verfallsdatum - beizusteuern versucht

[5] NJW 1997, 1685