(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/02, 2) < home RiV >

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

wieder liegt ein Heft der MHR vor Ihnen. Wolfgang Hirth hat die Beiträge zusammengestellt und die Redaktion besorgt. Unseren aktiven Lesern sei gedankt für Ihre Beiträge, die wie immer ein buntes Kaleidoskop der Themen bilden.

Wie Sie an den zahlreichen Zuschriften zur Situation und Entwicklung der Justiz sehen, scheinen wir weit davon entfernt, der Dritten Gewalt im Staate ein deutliches Gesicht und einen nachhaltigen Platz im Konzert der gesellschaftlichen Kräfte verschafft zu haben. Alles fließt. Alles steht auf dem „Prüfstand“.

Alles nicht. Justiz 2000-2010 hin und her, Budgetierung, Produktbildung, Tandem-Team-Gespräche, Zentralisierung und Dezentralisierung, Arbeitszeituntersuchungen, Einheitssachbearbeitung und was sonst noch die Gemüter mehr oder weniger bewegt, sollte nicht in Vergessenheit geraten lassen, was den ruhenden Pol und den Kern der Justiz ausmacht: den Richter (männlich oder weiblich) und seinen Fall. Alles Modernisierungsgetriebe, das in 10 Jahren wahrscheinlich wieder in sein Gegenteil verkehrt werden wird, ändert nichts an dieser manchmal quälenden, gelegentlich öden, zuweilen die Erkenntnisse bereichernden, selten heiteren Zweierbeziehung: Der Richter und sein Fall. Es wäre zu wünschen, dass dieses Bild des Felses in der Brandung auch den in der Verwaltung Planenden bei Ihren Überlegungen vor Augen stünde. Es wäre auch zu wünschen, dass Richter selbst dieses Gefühl für die eigene Bedeutung stärker lebten und Zumutungen in Form vorgeblicher Sachzwänge stärkeren Widerstand entgegensetzten.

Der weit verbreitete bescheidende Verzicht auf eine Protokollführerin ist ein Beispiel für diesen fehlenden Widerstand. Mit Protokollführerin erhalte ich, weil sie während der Sitzung in ein Gerät der „intelligenten“ Technik schreibt, am Schluß der Sitzung unterschriftsreife und versendungsfähige Protokolle, was unverzichtbar ist, um am Schluß der Sitzung ein Urteil verkünden zu können. Dies entspricht bei einer Kammer mit einer überwiegenden Zahl von Verfügungsverfahren der berechtigten Erwartung der Parteien. Ohne Protokollführerin hätte ich bei Abfassung des Tenors kein Protokoll. Dies erhielte ich erst Tage nach der Sitzung - neuerdings als Mail, die ich wohl selbst ausdrucken müßte. Abgesehen von anderen Widrigkeiten, die die Abwesenheit einer zweiten Person im Sitzungssaal bedeutet, ist es auch keine Sparmaßnahme, den Berufsstand der Protokollführerin auszurotten. Die diktierten Protokoll müssen ebenfalls geschrieben werden. Sicher wäre es eine einschneidende Ersparnis, die ZPO würde auf die Protokollierung ganz verzichten ……. Solange sie jedoch aus guten Gründen daran festhält, sollten Richterinnen und Richter auch darauf bestehen, hiermit eine anwesende Assistenzkraft zu betrauen. Das Gesetz unterstützt sie dabei: „Für die Protokollführung ist ein Urkundsbeamter der Geschäftsstelle zuzuziehen, wenn nicht der Vorsitzende davon absieht“, heißt es in § 159 Abs. 1 Satz 2 ZPO immer noch. Warum sollte der Vorsitzende davon absehen?

Dem Bürgerschaftsabgeordneten Müller-Sönksen ist in diesem Kontext für seine klare Aussage zu danken, mit der er seine Kollegen an etwas im Grunde Selbstverständliches erinnerte: „Die Funktionsfähigkeit der Gerichte ist kein Wunschprogramm einer Regierung, an der man beliebig sparen kann. Die dritte Gewalt gehört zu den unverzichtbaren – hören Sie einmal zu, das sagt ein Liberaler ganz selten, was jetzt kommt – Kernaufgaben des Staates, die zu gewährleisten sind.“ So ist es. Ich darf Sie in diesem Sinne auf die Veranstaltung am 24. Januar hinweisen, die Sie in diesem Heft angekündigt finden, „Justizhaushalt“ betitelt.

Die Redaktion wünscht Ihnen und Ihren Familien ruhige, fernsehfreie Weihnachtstage mit der Besinnung auf das, was für Ihr Leben wirklich von Bedeutung ist, und ein Glückliches Neues Jahr, in dem Ihre vernünftigen Wünsche in Erfüllung gehen mögen.

Ihre
Karin Wiedemann