Veranstaltungsreihe
Europarecht
Organisiert
von dem Hamburgischen Richterverein, der Vereinigung hamburgischer
Verwaltungsrichterinnen und Verwaltungsrichter und dem Hamburgischen
Anwaltsverein in Zusammenarbeit mit dem Info-Point Europa in Hamburg
Das Verfahren
der
Vorabentscheidung
durch
den EuGH
Am
17. Juni 2002 wurde die Veranstaltungsreihe „Europarecht“ mit einem Vortrag
von Herrn RiBFH Reinhart Rüsken fortgesetzt. Der ständig wachsende Einfluss
des Europarechts auf die Entscheidungen der nationalen Gerichte macht es
notwendig, sich verstärkt diesem Thema zuzuwenden. Wie die Vorsitzende des
Hamburgischen Richtervereins VRi’inOLG Inga Schmidt-Syaßen zur Beginn
bemerkte, seien einige Entscheidungen der Richterkollegen aus europarechtlicher
Sicht zumindest teilweise bedenklich. Es sei eine dringende Notwendigkeit, den
europarechtichen Fragen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Auch der Präsident des
OLG Wilhelm Rapp musste zugestehen, dass man zwar über die zunehmende Bedeutung
des Gemeinschaftsrechts wisse, zuwenig jedoch über das Gemeinschaftsrechts
selbst. Aus diesem Anlass luden der Hamburgische Richterverein, die Vereinigung
Hamburgischer Verwaltungsrichterinnen und Verwaltungsrichter und der
Hamburgische Anwaltsverein in Zusammenarbeit mit dem INFO-POINT EUROPA in
Hamburg in den Räumen des Hanseatischen Oberlandesgerichts ein zur einer
Veranstaltung zum Thema
„Das Verfahren der
Vorabentscheidung durch den EuGH“.
Mit
der erfreulich großen Teilnehmerzahl manifestierte das Richterkollegium die
Bereitschaft und das Interesse, sich diesen so bedeutenden Fragen zu öffnen
Zur Beginn des Vortrages
erläuterte RiBFH Reinhart Rüsken die Eigentümlichkeiten der europäischen
Rechtsordnung. Hervorgehoben wurde insbesondere, dass diese Rechtsordnung den
einzelnen Bürgern der Gemeinschaft als Rechtssubjekt anspricht und ihm
unmittelbare Pflichten aber auch Rechte verleiht. Diese seien besonders schutzwürdig,
da außerhalb des Vorabentscheidungsverfahrens für die Prozessbeteiligten kaum
eine Möglichkeit bestehe, die individuellen gemeinschaftlichen Rechte
durchzusetzen. Es gehöre zu den Eigentümlichkeiten der europäischen
Rechtsordnung, dass sie zwar die anders lautenden nationalen Rechtsnormen „überlagere“,
jedoch nicht zur ihrer Aufhebung führe. Die daraus resultierende Folge führe
zu dem Zustand, dass die nationale und europäische Rechtsordnung nicht
abgestimmt seien. Diese oftmals beträchtliche Divergenz zwischen dem nationalen
und dem Gemeinschaftsrecht verdeutliche die Notwendigkeit einer
Vereinheitlichung der nationalen Rechtsanwendung in allen Mitgliedstaaten. Die
hierfür geschaffene Verfahrensart - das
sog. Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG (ergänzend: Art. 20 der
Satzung des EuGH, Art.103-104a der Verfahrensordnung des EuGH) - diene nicht nur
der Wahrung des Rechtsfriedens, sie habe sich auch vielfach geradezu als Motor
der Integration erwiesen. Die Einheitlichkeit könne aber nur dann gewährleistet
werden, wenn die nationalen Gerichte den EuGH mit den Fragen zur Auslegung des
Gemeinschaftsrechts befassen. Über die richtige Anwendung des Rechts
entscheiden sie dann in eigener Verantwortung;
bei ihnen beginne nicht nur der Instanzenzug, sondern stets ende er auch
dort.
Bei
der Entscheidung, „ob“ vorgelegt werden solle, müsse jedoch immer berücksichtigt
werden, dass das Vorabentscheidungsverfahren kein Rechtsbehelfsverfahren sei,
das von den Parteien erzwungen werden könne.
An
dieser Stelle wurde deutlich, weshalb den nationalen Gerichten eine große
Verantwortung gegenüber den Prozessbeteiligten zuteil wird.
Es gäbe keinen Rechtsmittel gegen die Nichtvorlage an den EuGH, so Rüsken
weiter. Die einzig denkbare Möglichkeit, die „Untätigkeit“ zu rügen, sei
die Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG. Diese sei jedoch wenig
erfolgsversprechend, da sie u.a. voraussetze, dass die Vorlage willkürlich
unterlassen wurde.
Dieses
Bewusstsein müsse dazu beitragen, dass europarechtliche Aspekte eines
Rechtstreites ernst genommen werden.
Ziel
des Vortrages war daher u.a. eine Sensibilisierung für Fragen des
Gemeinschaftsrechts. Das im deutschen Recht beispiellose Konsultationsverfahren
mit dem EuGH könne nämlich nur dann eingeleitet werden, wenn das nationale
Gericht die Einschlägigkeit entsprechender gemeinschaftsrechtlicher Normen überhaupt
erkenne und bei Zweifeln bezüglich ihrer Auslegung dem EuGH vorlege. Sobald der
erste und gleichzeitig essentielle Schritt getan wurde, stehe jedem nationalen
Gericht der Weg zum EuGH offen. Jedes Gericht könne im Rahmen eines bei ihm anhängigen
Rechtsstreit den Gerichtshof anrufen, und zwar in jedem Stadium des Verfahrens,
wenn es Zweifel an der richtigen Auslegung einer einschlägigen Vorschrift des
Gemeinschaftsrechts habe oder aber einschlägige Normen des Gemeinschaftsrechts
für nichtig halte und deshalb die Norm nicht anwenden wolle. Allerdings könne
kein Rechtsstreit im Ganzen an den EuGH verwiesen werden, denn die Auslegung
nationalen Rechts gehöre nicht zu den Aufgaben des EuGH. Der Gerichtshof habe
nur die Kompetenz, abstrakt aber dennoch fallbezogene Fragen zur
gemeinschaftskonformen Auslegung und/oder Gültigkeit einer einschlägigen Norm
zu beantworten. Es verbleibe in der Zuständigkeit und Verantwortung des
vorlegenden Gerichts, eine Entscheidung des Falles unter Zuhilfenahme der
Auslegung des EuGH in eigener richterlicher Verantwortung zu treffen, d.h. diese
Auslegung zu nutzen und auf den konkreten Fall anzuwenden.
Die
Fragen der Gerichte müssen sich unmittelbar auf das Gemeinschaftsrecht
beziehen. Diese Voraussetzung sei auch dann erfüllt, wenn nach der Auslegung
des Gemeinschaftsrechts gefragt werde, obwohl dieses den Streitfall nicht kraft
eigener Rechtsetzungskompetenz regeln wolle, sondern lediglich kraft einer
Verweisung des nationalen Rechts. Nach Ansicht von Rüsken sei diese
Rechtsprechung zumindest in ihren Folgen fragwürdig. Dies liege an der
Verwobenheit des verweisenden nationalen Rechts und des in Bezug genommenen
Gemeinschaftsrechts. Nach seiner Ansicht führe sie dazu, dass das
Gemeinschaftsrecht im Rahmen der Verweisungsnorm anders anzuwenden sei als dort,
wo es unmittelbar gelte. Die Rechtsprechung des EuGH führe an dieser Stelle zu
Ungereimtheiten im Hinblick auf die Möglichkeiten einer weiteren Verfahrensart,
nämlich des Vertragsverletzungsverfahrens gegen ein Mitgliedstaat bei
Missachtung der Umsetzungspflicht. Ungeachtet dessen habe der EuGH seine
Rechtsprechung fortgesetzt (Urteil C-28/95,
http://europa.eu.int/jurisp/cgi-bin/form.pl?lang=de).
Aus
der Tatsache, dass der EuGH allein Fragen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts
beantworten könne, folge, dass das vorlegende Gericht keine Antwort darauf
bekomme, inwieweit das nationale Recht durch das Gemeinschaftsrecht überlagert
werde. Diese Problematik sei dem Gerichtshof durchaus bewusst, so Rüsken
weiter. Daher akzeptiere es auch dahingehend formulierte Fragen, ob das
Gemeinschaftsrecht so zu verstehen sei, dass es den vom nationalen Gericht
diametral entgegengesetzt formulierten Rechtssatz meine.
Praktische
Tipps zur Fragetaktik führten zum Aufatmen bei den Richterkollegen. Wie Rüsken
aufklärte, sei auch durchaus möglich, Fragen der tatrichterlicher Würdigung
geschickt zu „tarnen“ und diese dem EuGH vorzulegen. Dies sei möglich, wenn
man frage, ob eine Vorschrift X des Gemeinschaftsrechts dahin auszulegen sei,
dass ein Sachverhalt mit folgenden Merkmalen ... unter dieselbe zu subsumieren
sei. Darüber hinaus weise das höchste Gericht in unzulässiger Weise
formulierte Fragen nicht ab, sondern formuliere sie den Zulässigkeitskriterien
entsprechend um, um sich die Möglichkeit zu bewahren, auf sie zu antworten.
Zweifelsohne
könne sich der EuGH nur dann mit einer Frage befassen, wenn das nationale
Gericht die Rechtsfrage vorgelegt habe. Dies wiederum liege im Ermessen des
nationalen Gerichts – nur das Gericht, dessen Entscheidung mit Rechtsmitteln
nicht mehr angegriffen werden könne, müsse
fragen, das Instanzgericht nicht. Bei der Vorlageentscheidung – also dem
„Ob“ - dürfe jedoch keinesfalls der Grundsatz der Wahrung des gesetzlichen
Richters aus den Augen verloren werden. Seit der C.I.L.F.I.T.-Entscheidung (Slg.
1982, S. 3415) habe der EuGH den Grundsatz aufgestellt, dass selbst die
letztinstanzlichen Gerichte dann nicht zur Vorlage einer vor ihnen aufgeworfenen
Frage nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts verpflichtet seien, wenn die
Frage nicht entscheidungserheblich sei, d.h. wenn die Antwort auf diese Frage
keinerlei Einfluß auf die Entscheidung des Rechtsstreits habe. Der Grund für
eine Vorlagepflicht entfalle auch dann, wenn die Antwort auf die Frage nach
Auslegung des Gemeinschaftsrechts in einem früheren Verfahren vor dem EuGH ihre
Wirkung weiterhin entfalte und die Vorlage somit sinnlos erscheine. Die gleiche
Wirkung könne sich ergeben, wenn bereits eine gesicherte Rechtsprechung des
EuGH vorliege, durch die die betreffende Rechtsfrage gelöst sei. Schließlich könne
die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig sein, dass
keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der
gestellten Frage bleibe. Das nationale Gericht dürfe jedoch nur dann davon
ausgehen, dass ein solcher Fall vorliege, wenn es überzeugt sei, dass auch für
die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewißheit
bestehe. Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt seien, dürfe das nationale
Gericht davon absehen, diese Frage dem EuGH vorzulegen, und sie stattdessen in
eigener Verantwortung lösen.
Nach
Rüskens Aussage könne man allerdings nur in seltenen Fällen die Gewißheit
haben, das Gemeinschaftsrecht werde in den Mitgliedstaaten einheitlich ausgelegt
und angewendet. Praktisch bestünden noch immer gravierende Unterschiede bei der
Auslegung des Gemeinschaftsrechts – häufig liege die Ursache in den
nationalen Besonderheiten eines Mitgliedstaates, der Tradition der
Rechtsauslegung und –anwendung und nicht selten in den nationalen Interessen
selbst. Leider lasse sich eine trennscharfe Formel für die Begrenzung der
Vorlagepflicht nicht aufstellen, so Rüsken weiter. Daher sei der Rat gegeben,
die Bedrohung der Einheit des Gemeinschaftsrechts durch einen mitunter
unerwarteten Einfallsreichtum anderer Rechtsausleger ernst zu nehmen und vor
Vorabentscheidungsersuchen nicht deshalb zurückzuschrecken, weil man die
richtige Antwort zu kennen meine und dann auch lieber selbst geben möchte als
sie dem EuGH zu überlassen. Es habe sich aber inzwischen die Auffassung
herauskristallisiert, die Vorlagefrage solle von grundsätzlicher Bedeutung
sein. Zwar werde diese Ansicht kritisiert, nach der Meinung von Rüsken sei
jedoch nicht zu befürchten, dass durch dieses Kriterium, dem EuGH die Möglichkeit
genommen werde, weiterhin einen entscheidenden Beitrag zur Fortentwicklung des
Gemeinschaftsrechts zu leisten.
Im
zweiten Teil seines Vortrages erläuterte Rüsken, dass das Verfahren per
Beschluss einzuleiten sei; nur bei den obersten Gerichtshöfen solle er in der
Urteilsbesetzung ergehen. Das in allen Amtssprachen übersetzte Ersuchen werde
allen Beteiligten, dem Gerichtshof, der Kommission und allen Mitgliedstaaten
zugestellt. Daher sei es notwendig, das Ersuchen samt der Akten und Beiakten in
mehrfacher Ausfertigung zu übersenden.
Nach
dem Rubrum werde die Vorlagefrage als Tenor formuliert, das etwa mit die
Formulierung: „Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft wird folgende
Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:..“ einzuleiten sei.
Die
Gründe des Ersuchens sollen nach einer möglichst kurzen Kennzeichnung des
Streitgegenstandes zunächst das nationale Recht umfassend und prägnant
darstellen. Der Inhalt der einschlägigen Rechtsnorm sei im wörtlichen Zitat
wiederzugeben. Nach der präzisen Darstellung des Sachverhaltes (ohne Beweiswürdigung),
in dem nur die Details herausgearbeitet werden sollen, die für die Beantwortung
der Vorlagefrage wichtig seien, könne das Vorbringen der Beteiligten
dargestellt werden, sofern dies für das Verständnis des Streits unerläßlich
sei oder unersetzliche Gedanken zum Gemeinschaftsrecht vorgetragen werden.
Der
EuGH habe eine Formel aufgestellt, wonach das vorlegende Gericht den tatsächlichen
und rechtlichen Rahmen der von ihm gestellten Fragen umreißen und die tatsächlichen
Annahmen erläutern müsse, auf denen diese Fragen beruhen. Soweit der
Vorlagebeschluss diesen Anforderungen nicht entspreche, weise ihn das Gericht
als unzulässig zurück. Allerdings habe der EuGH die Möglichkeit einer
drohenden Abweisung insoweit vorzubeugen, als dass Art. 104 § 5 der
Verfahrensordnung es ihm ermöglicht, das vorlegende Gericht um eine
Klarstellung zu seinem Vorabentscheidungsersuchen zu bitten.
Nach
Abschluss des meist langwierigen Verfahrens, das nicht selten bis zu zwei Jahren
dauern könne, erhalte das Gericht das Urteil des EuGH, an dessen Entscheidung
es gebunden sei. Es sei auch ein nobile officium, dass das nationale Gericht dem
EuGH die Endentscheidung seines Rechtsstreits zukommen lasse.
Als
Fazit bestehe nach Ansicht von Rüsken keinerlei Anlass, sich vor der
Entscheidung, dem EuGH eine Rechtsfrage zur Vorabentscheidung zu stellen, zu fürchten.
Das Verfahren sei ein Garant für die Wahrung der Rechtseinheit in allen
Mitgliedstaaten.
Ergänzend
wies der Leiter des INFO-POINT-EUROPA RA Hans Arno Petzold aus anwaltlicher
Sicht darauf hin, dass bereits in den eingereichten Klagen der Parteien häufig
Vorlagefragen vorformuliert würden. Die gemeinschaftsrechtlichen Ausführungen
der Rechtsanwälte enthielten meist ernstzunehmende Gedanken und sie leisteten
oft hervorragende Überzeugungsarbeit. Es lohne sich, die vorgetragenen
Argumenten zu erörtern. Sollte das Gericht jedoch nicht vorlegen wollen, müsse
es auch die Folgen für die Partei bedenken. Denn dieser Rechtsschutz sei meist
die einzige Möglichkeit, die gemeinschaftlichen Rechte der EU-Bürger
durchzusetzen. Selbst eine Verfassungsbeschwerde führe im Ergebnis nicht zur
Vorlage an den EuGH, sondern zur Aufhebung der Entscheidung des nationalen
Gerichts.
Soweit
das nationale Gericht sich entschlossen habe, den EuGH anzurufen und das
Verfahren vor dem EuGH eröffnet wurde, sei zu beachten, so RA Petzold, dass der
Gerichtshof um Stellungnahmen bittet. Diese haben schriftlich innerhalb von zwei
Monaten zu erfolgen, wobei die Frist nicht verlängerbar sei.
Der
Gerichtshof lege überdies großen Wert darauf, dass die vorgelegten Anfragen
klar gegliedert seien, knapp, präzise und auf den Punkt genau. Ausschweifende
Ausführungen seien nicht nur für den EuGH unübersichtlich, sondern
beinhalteten eine größere Gefahr, durch eine unglückliche Übersetzung
missverstanden zu werden.
Näheres
und weitere Informationen zu Europa finden Sie auch auf der Homepage des
Info-Point Europa Hamburg, www.infopoint-europa.de.