(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 3/02, 12 ) < home RiV >

Requiem für eine Bibliothek

"Bibliotheken sind eine gefährliche Brutstätte des Geistes" schrieb einst ein Zensor, und Klaus Staeck gestaltete unter Zuhilfenahme des Spitzwegschen Gemäldes "Der Bücherwurm" daraus ein herrliches Plakat. Amts- und Landgericht Hamburg hatten eine in Ehren ergraute Bibliothek, eine "Brutstätte" in der manch' juristische Revolution erdacht wurde. Sie war nicht prächtig und für Werbeaufnahmen vermietbar wie die des Hanseatischen Oberlandesgerichts. Ein bisschen düster, recht staubig, nie so geordnet, dass alle zufrieden waren, mit vielen Provisorien, die durch zunehmende Technisierung entstanden, alles in allem aber ein kontemplativer Hort juristischen Geistes, Treffpunkt mit Referendaren und Anwälten, Klatsch am Dorfbrunnen, dem Kopierer im Richterlesezimmer. Sie hatte alles, was der nach juristischer Weisheit strebende Bücherfreund so braucht als Brutstätte.

Sie hatte! Was geschah? Eines Tages war sie eine Baustelle. Ein Zettel verwies den Erleuchtung Suchenden auf entfernte Zimmernummern - die Bibliothek - seit 1932 an ihrem Platz - wurde verlegt. Das hineindrängende Familiengericht machte nach Auskünften der amtsgerichtlichen Verwaltung den Hinauswurf der Bibliothek und der traditionsreichen juristischen Lesegesellschaft aus ihren angestammten Räumen unvermeidlich - Sachzwänge! Was entstand, ist eine gesichtslose Folge grauer Räume mit grauen Metallborden in drangvoller Ende.
Es sei alles viel heller als vorher, man habe einen schönen Blick auf den Park, auf die Eisbahn, den Kinderspielplatz und die fröhlichen Hunde der Obdachlosen bis zum Millerntor, sagt die amtsgerichtliche Verwaltung. Aber: Ist es das, was man braucht als Bücherwurm? Marcel Proust vermittelt in seinem Essay "Tage des Lesens", was das Versinken in Bücher ausmacht. Und er bevorzugte das abdunkelte Esszimmern, in dem er zwischen den Mahlzeiten ungestört war. Die Konzentration auf das Lesen und Lernen leidet in hellem Sonnenschein der Südzimmer, unter der Kulisse fröhlich tauziehender Kinder und der gnadenlos wiederholten Musik der sommerlichen Rollschuhbahn, die im Winter als Eisbahn daherkommt. Immer mit dem entnervenden Ohrwurm "Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen" endend. Gewiß, da draußen tobt das Leben der Hansestadt. Aber was schert den Leser, den wirklichen Leser, das tobende Leben eines Sommertages, wenn er den Voraussetzungen des Rückrufs ausschließlicher Nutzungsrechte nach § 41 UrhG nachspürt? Dazu bedarf es der Südlage nicht. Im Gegenteil.

Und erst das Richterlesezimmer: Seine "charmante" Kombination von alten Tischen und neuen Metallregalen, die schmalen Zwischenräume, die es auch weniger beleibten Kollegen kaum möglich macht, in die Hocke zu gehen, um in den lichtlosen Tiefen der engen Regalzwischenräume etwas zu finden, lassen nur eine Devise zu: "Schnell rein, Stelle finden, kopieren und wieder raus". Vielleicht ist das auch so gewollt. Wir sollen ja nicht mehr in Büchern stöbern - womöglich den Blick auf eine interessante Stelle richten, die nicht gerade zur Falllösung dringend nötig ist. Wir arbeiten ja nun - die Arbeitszeit gründlich untersucht - gegen die Uhr, um unsere Produkte möglichst effektiv zu erstellen. Da ist die punktgenaue, freudlos technische Suche bei Juris oder dem Beckverlag angezeigt. Die Nutzung der Bücherei sei zurückgegangen, so hört man. Nach der Verwandlung der vertrauten Bibliothek in ein Bücherarchiv - das einer der nutzenden Anwälte mit angeekeltem Gesicht "Büchergefängnis" nannte - ist der nächste Schritt zu befürchten: Man wird feststellen, dass die Nutzerzahl noch weiter zurück gegangen ist und anfangen, den Bücheretat noch mehr als bisher zu kürzen. Das Abgleiten in eine Provinzbücherei steht zu befürchten.

Aber diese Kritik, so hat mir die amtsgerichtliche Führung auf eine herzhafte schriftliche Beschwerde freundlich bedeutet, sei maßlos übertrieben. Alles sei Geschmackssache. Außerdem sei es ja noch nicht fertig und werde noch besser. Nein, das tröstet nicht. Die Herzen aller sensiblen Bücherfreunde sind und bleiben gebrochen ....................

Karin Wiedemann