Fragwürdige
Geschichtsstunde
1.
Im Juni d.J. war Senator Kusch auf die
Idee verfallen, mit Schülern des Gymnasiums Billstedt das
Engel-Verfahren zu besuchen, dessen Hauptverhandlung vor der GrStrK 21 des
Hamburger Landgerichts sich dem Ende zuneigte
– Gemeinschaftskunde-Unterricht
einmal anders :
Der
Vorsitzende verliest Schriftstücke, der alte Mann auf der Anklagebank hört wie
apathisch zu. Die Schüler - 17, 18 Jahre alt - hautnah konfrontiert mit der
Geschichte. ... Es ist kurz nach zehn Uhr, da haben Schüler und Senator genug
gehört.
Zeichnung von Böer aus HA v. 22./23. Juni 2002
Nun wird
diskutiert, eine Dreiviertelstunde in der Justizbehörde: Was sie denn davon
hielten, dass Engel nach so vielen Jahren noch vor Gericht müsse, will der
Senator von den Schülern wissen. Eindrücke: Der alte Mann tue ihnen Leid,
meinen die einen, warum ihn jetzt noch vor Gericht ziehen? Andere melden sich zu
Wort, sagen, es müsse gegen Engel verhandelt werden, schon auch aus
symbolischen Gründen. Ob denn der Senator es für sinnvoll halte, dass gegen
Engel verhandelt wird, fragt ein Schüler neugierig. Als Jurist könne er gar
nicht anders denken, als dass gegen Engel verhandelt werden müsse, sagt Kusch
– „selbst wenn er 105 Jahre alt wäre“, weil Mord eben nicht verjährt.
... Gerade junge Menschen müssten sich mit der NS-Geschichte auseinandersetzen,
sagt Kusch dem Abendblatt, „das Treffen hat sich gelohnt“1.
Hat
es sich wirklich gelohnt ?
Ich
hatte meine Zweifel dem Abendblatt
alsbald in einem Leserbrief unterbreitet:
„... Ich bezweifle,
dass den Schülern eine zutreffende Vorstellung von Gegenstand, Sinn und
Berechtigung unserer deutschen NS-Prozesse hat vermittelt werden können. Die
Schüler indessen waren offenbar der Meinung, ein typisches ‚NS-Verfahren’
erlebt zu haben, und auch der Senator hat von der hier zu leistenden
Aufarbeitung der NS-Geschichte
gesprochen und just darin den Gewinn
der Stunde ‚gerade für junge Menschen’ erblickt.
NS-Prozesse sind jahrzehntelang auch von der Hamburger Justiz geführt worden. In ihnen standen
Ausrottungsverbrechen in Todeslagern oder an Erschießungsgruben, Deportationen
zur Vernichtung, sog. ‚Aussiedlungen’ und andere ideologische Mordaktionen großen oder kleinen Ausmaßes zur
Verhandlung, also die blutige, schaurige Kehrseite nationalsozialistischen
Herrenmenschentums. Stets ging es um Verbrechen, deren Urheber die für sie
günstige Gelegenheit des Krieges, zumal die Besetzung Polens, weit außerhalb
der Reichsgrenzen für ihre mörderischen Vernichtungsaktionen ausnutzten. Der
Kriegsführung dienten diese Aktionen nicht;
sie schadeten ihr vielmehr, indem z.B. viele tausend Güterzüge nicht Material
zur Front bringen konnten, sondern Juden u.a. an die Stätten ihrer Vernichtung
(„Vergasung“) transportieren mussten. Hier war allein die NS-Ideologie
maßgebend, nicht praktische Kriegszwecke.
Darin liegt keine Reinwaschung des Krieges: auch
der Krieg zieht seine spezifischen Untaten, Übergriffe und Verbrechen zumal
gegen ‚Nichtkombattanten’ in einem schmutzigen Kielwasser hinter sich her,
d.h. Kriegsverbrechen, die zu allen
Zeiten und Orten allen Völkern
zur Last gefallen sind, und deren sich im zweiten Weltkrieg die Kriegsalliierten
ebenso schuldig gemacht haben wie die Deutschen. Über ihre Kriegsverbrechen
aber breiten die Völker und Staaten früher oder später den Mantel des Schweigens
und Vergessens; irgendwie muss man miteinander weiterleben. ...
Die Überzeugung, dass nationalsozialistische
Gewaltverbrechen (NSG) von deutschen Gerichten geahndet werden müssten – unbedingt und ohne Rücksicht auf Verjährung
-, beruht auf der Erfassung ihres
besonderen Charak-ters: als ideologische Ausrottungstaten,
Menschheitsverbrechen, Genocid oder wie immer man es umschrieben hat. Über
Abgrenzungen lässt sich lange streiten; aber
eines war früher nie zweifelhaft gewesen: dass
solche Delikte – eben: NSG
– von Kriegsverbrechen klar und deutlich unterschieden
werden müssten. Diese begriffliche Erfassung, die nach dem Kriege zunächst
mit großer geistiger und moralischer Anstrengung – philosophisch
und rechtlich – herauszuarbeiten war, wurde später die Legitimationsbasis
aller deutschen NSG-Prozesse.
Wenn seit geraumer Zeit wieder (wie gleich nach
1945) NS– und Kriegsverbrechen völlig unbedacht in den gleichen Topf geworfen werden, dann ist das nicht aus rein
begrifflichen Gründen bedauerlich, sondern ist aus rechtspolitischen und
moralischen Gründen verheerend und schlimm. Es gibt nämlich keinen triftigen
Grund für uns, deutsche Kriegsverbrechen
anders zu behandeln, als es andere Kulturnationen mit den ihren tun, oder sie
gar wie die NSG ohne jede zeitliche Grenze zu verfolgen – mit Senator
Kusch gesprochen: auch wenn der Täter inzwischen 105 Jahre alt geworden
ist. Mord verjährt nicht (mehr); das trifft zwar zu. Aber Kriegsverbrechen (wenn
sich der Fall Engel als Mord erweist, fällt er in diese Kategorie), die typischerweise wie auch hier Auslandstaten
sind, müssen nicht verfolgt werden: das zu tun oder zu unterlassen, liegt
nach unserem Strafprozessrecht im Ermessen
der Staatsanwaltschaften.
Wer also zwischen NSG und Kriegsverbrechen nicht
mehr unterscheiden kann oder will, dem fehlt das Verständnis für die Tradition
unserer NS-Verfahren und den inneren Grund ihrer Legitimität. Ganz gegen seine
Absicht untergräbt und zerstört er vielmehr ihre Basis.
Vielleicht sollte nun eine zusätzliche Geschichtsstunde dazu genutzt werden, die Verwirrung zu
beheben, die in jungen Köpfen durch die vom Abendblatt geschilderte Lektion
angerichtet worden ist.“
2.
Ich hatte es schon bei Absendung dieser Zeilen für unwahrscheinlich
gehalten, dass die Zeitung für einen so langen Beitrag irgendwo Platz finden würde.
Deshalb war es nicht die negative Entscheidung selbst, die mir der Leserdienst
des HA mit freundlichen Grüssen
zurücksandte, sondern deren Begründung,
die ich für ebenso bemerkens- wie zitierenswert halte:
„
... Vielleicht sollten Sie mit dem Kollegen N. direkt Kontakt aufnehmen, da es
sich hier um eine Fachdiskussion unter Juristen zu handeln scheint, die wir als
Nichtjuristen kaum nachvollziehen können, die aber – sollte das HA tatsächlich
etwas zur Verwirrung in den jungen Köpfen beigetragen haben – durch den
Abdruck Ihres Briefes bei Schülern, die kaum den Namen „Hitler“ zuordnen können,
sicherlich noch vergrößert werden würde ...“.
Nun
hatte ich offensichtlich weder das HA kritisieren (der Korrespondent hatte nur
seine Chronistenpflicht erfüllt) noch speziell mit den zwanzig jungen Leuten
(deren Bildung und Urteilsvermögen vom Leserdienst wohl doch unterschätzt
wird) einen Diskurs führen wollen, sondern den Zweck verfolgt, der Leserschaft,
welcher das HA zuvor von der Exkursion zum Sievekingplatz und zur Drehbahn
berichtet hatte, zu erläutern, dass und warum die publizistisch aufgeputzte
PR-Aktion des Senators pädagogisch
fatal und rechtspolitisch verfehlt
gewesen sei2, so dass der Kreis der für die „zusätzliche
Geschichtsstunde“ passiv Legitimierten
weit über die kleine Schülergruppe hätte hinausgehen müssen. ...
3.
Dieser Aufklärungsversuch allerdings erscheint fast hoffnungslos:
Nachdem
die Süddeutsche Zeitung zu Beginn des
Hamburger Engel-Verfahrens ein langes Interview mit dem jetzigen Leiter der
Ludwigsburger Zentralstelle zur NSG - Aufklärung OStA Schrimm gedruckt hatte3, in dem unterschiedslos
von eigentlichen NS-Verbrechen und
Kriegsverbrechen die Rede ist, hatte ich ihn um Erläuterung gebeten :
„...
Ihr früherer Vorgänger Adalbert Rückerl hatte wiederholt darauf hingewiesen,
dass die Zentrale Stelle nicht zur
Aufklärung auch von Kriegsverbrechen berufen und zuständig sei und – zu
seiner Zeit jedenfalls – nicht etwa zuständig geworden sei (Die Strafverfolgung usw. 1979,
S. 50; NS-Verbrechen vor Gericht 1984,
S. 143 mit Fn. 90). Die überzeugende ratio dieser Beschränkung hatte er schon
in seiner Schrift: NS-Prozesse, 1971,
S. 15 f vermerkt. Ist diese Abgrenzung inzwischen aufgehoben worden? So muss es
wohl sein, sprechen Sie im Interview doch wiederholt und ausdrücklich auch
von (offenbar wiederum in Italien begangenen) Kriegsverbrechen – neben anderen
Komplexen, die ebenso offensichtlich
Genocidverbrechen darstellen. Wenn
geändert: wann, weshalb, mit welcher Begründung? ...“
In
seiner Antwort4 schreibt OStA Schrimm:
„
... Die Zentrale Stelle ist nach wie vor nicht zur Aufklärung von
Kriegsverbrechen berufen, die von Ihnen in Ihrem Schreiben herausgearbeitete
Unterscheidung gilt nach wie vor. ... Ich darf mir noch den Hinweis erlauben,
dass ich selbst im Interview vom 07.05.2002 das Wort Kriegsverbrechen oder
Kriegsverbrecher nicht benutzt habe. Ich habe lediglich versäumt, den
Interviewer auf den Unterschied hinzuweisen“5.
Die
Zentrale Stelle vermeidet es offenbar schon seit geraumer Zeit, gegenüber der
allenthalben eingerissenen Verwirrung der Begriffe und Vorstellungen das Ihre
zur Aufklärung beizutragen – wozu sie kraft ihrer besonderen Kompetenz
zwar sachlich berufen wäre, was jedoch
inzwischen (wie ihr natürlich wohl bewusst!) als politisch-volks-pädagogisch
unerwünscht gilt6 – törichterweise !
4.
Am 5. Juli stand ich brav in der Menschenschlange, die in den Wallanlagen auf
Zutritt zur Urteilsverkündung im Engel-Verfahren wartete. Die meisten
schwiegen; aber ein paar diskutierten miteinander: gegeneinander – ziemlich
unverblümt, frank, frei und hitzig. Zwei meinten, man solle solche Verfahren
hier gar nicht mehr veranstalten – „denken Sie doch mal an ...“, und dann
folgte das Sündenregister der anderen
Seite - Bombenterror, Vergewaltigungen im Osten, Geiselerschießungen,
Partisanenkrieg. ... Zwei andere replizierten nicht weniger energisch: „ ...
ganz falsch! Es waren doch die Deutschen, die Hitler gewählt haben, hinter ihm
hergelaufen sind und mit ihm die Völker überfielen; die
haben sich dagegen mit Recht gewehrt, auch mit Bomben und Partisanen, und
deshalb kann sich Engel jetzt nicht vor seiner Strafe davonstehlen ... “: und
so hin und her und her und hin. Keiner
verlor auch nur einen Halbsatz über die feine Unterscheidung, die der
Staatsanwalt dienstags zuvor getroffen hatte: dass die Aktion des Angeklagten
zwar an sich kriegsvölkerrechtlich
noch gedeckt gewesen, durch die Art ihrer Durchführung dann aber doch zum
Kriegsverbrechen (Mord: grausam) geworden sei7.
Vor
Jahresfrist hatte ich vorhergesagt, der Fall Engel werde sich wohl wegen
Verhandlungsunfähigkeit des Beschuldigten ohne Anklage und Urteil
„biologisch“ erledigen8: error facti! Meine Befürchtung
indessen, dass die gedankenlose, aber hierzulande
mittlerweile geradezu politisch
korrekte Gleichsetzung deutscher Kriegsverbrechen mit dem NS-Völkermord aus
Anlass des Engel – Verfahrens wieder
mächtig propagiert werden würde, hat sich leider als nur allzu richtig
erwiesen. Die zufällig aufgeschnappten Streitreden in den Hamburger Wallanlagen
zeigen es; und was könnte die Verwirrung der Geister augenfälliger
demonstrieren als die schiefen Töne, die unser Justizsenator seinen jungen Gästen
in der Drehbahn – zweifellos bona fide! - vorgeblasen hat ?
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Anmerkungen:
1) aus dem Bericht des HA vom
22./ 23. Juni 2002
2) zur weiteren sachlichen
Begründung vgl. MHR 2001 Heft 2: Der Fall
Engel – ein Skandal?; NJW
1007,174: Wirbel um Priebke.
3)
SZ vom 7. Mai 2002: „Unsere Arbeit ist noch lange nicht beendet “ –
OStA Kurt Schrimm über die Zukunft der NS-Prozesse ...
4)
vom 25. 7. 2002: 11o AR 845/2002
5) lediglich?
dazu aus dem Interview vom 7. Mai:
... SZ: Das ARD-Mag. Kontraste
hat über weitere vier, bisher unentdeckte mutmaßliche Kriegsverbrecher
berichtet, die an Morden in Italien beteiligt gewesen sein
sollen. Schrimm: Das ist ein typisches Beispiel. Tatsache ist,
dass uns jetzt Akten aus Italien zur Verfügung stehen, von deren Existenz wir
bisher gar nichts gewusst haben. In unserem Hause ist nun ein Mitarbeiter
ausschließlich damit befasst, diese Akten einzusehen. Möglicherweise sind hier
weitere Ermittlungen erforderlich. ...
6) dazu die etwas
sibyllinische Wendung im genannten Antwortschreiben OStA’s Schrimm:
7) Weder darüber noch über
das Urteil, das den Überlegungen der StA im Wesentlichen folgt, ist hier zu
reden oder zu raisonieren. Der 5. Strafsenat des BGH wird eines Tages über die
Revisionen und über ungewöhnliche Rechtsfragen
und deren Tatsachenbasis zu entscheiden haben. Die Medien haben dem Urteil wohl überwiegend beigepflichtet; anders
u.a. Gisela Friedrichsen im Spiegel
28/2002 S. 40: „Das hätte nicht sein müssen“.
8) MHR 2001, Heft 2, S. 30