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 Europarecht

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe des Hamburgischen Richtervereins, der Vereinigung hamburgischer Verwaltungsrichterinnen und Verwaltungsrichter und des Hamburgischen Anwaltsverein in Zusammenarbeit mit dem INFO-Point Europa in Hamburg sprach RiOLG Prof. Dr. Ulrich Magnus über das Thema

"Europäische
Herausforderungen für das deutsche
Zivilrecht"

Zu Beginn seines Vortrags am 28. Februar 2002 bemerkte Prof. Magnus, dass dem nunmehr seit fast 50 Jahren bestehenden Europarecht zunehmend ein Gefühl des Unbehagens entgegengebracht werde. So würden beispielsweise die "Brüsseler" Aktivitäten in der Öffentlichkeit mit einem "Fluch" oder gar einer alles verschlingenden "Flutwelle" verglichen. Der Grund für diese negativen Einschätzungen könne in der zunehmenden Einflussnahme der europäischen Rechtsordnung auf mittlerweile sämtliche Rechtsgebiete der Mitgliedstaaten liegen. Die wachsende Erkenntnis über die immer stärkere europäische Durchsetzung der nationalen Rechtsordnungen, führe bei vielen zu einer gewissen Befremdung. Obwohl es seitens der juristischen Fachkreise nahe liege, der "Entfremdung" der eigenen Rechtsordnung mittels eines gesteigerten Interesses entgegen zu wirken, sei das genaue Gegenteil festzustellen. So führe beispielsweise der Blick in die jüngste Ausgabe der Neuen Juristischen Wochenschrift zu dem Befund, dass die Beachtung von Themenbereichen mit europarechtlichen Bezug geradezu ein Schattendasein führe.

Der europäische Einfluss auf die nationalen Rechtsordnungen sei ohne Zweifel in den vergangenen Jahrzehnten enorm gewachsen und die Auswirkungen der europäischen Maßnahmen ließen sich in vielen Lebensbereichen deutlich spüren. Jüngstes Beispiel hierfür sei die am 1. Januar 2002 in Kraft getretene Schuldrechtsreform, deren entscheidender Beweggrund in der Umsetzungspflicht dreier EG-Richtlinien liege. Prof. Magnus warf vor diesem Hintergrund die Frage auf, ob das deutsche Zivilrecht noch weitere derartige europäische Herausforderungen zu erwarten habe und auf welche Kompetenzgrundlage sich diese gegebenenfalls stützen ließen.

Zunächst betonte Prof. Magnus, dass es auf der europäischen Ebene keine allgemeine Kompetenz zum Erlass von Rechtsnormen gäbe. Kennzeichnend für die Rechtssetzung in der Europäischen Union sei vielmehr eine sog. sektorielle Rechtsetzungsbefugnis, die sich aus den Grundsätzen der begrenzten Einzelermächtigung und der Subsidiarität ergäbe. Die Frage nach der Existenz einer derartigen Befugnis im Hinblick auf das Zivilrecht müsse aber ebenfalls verneint werden, da sich eine solche Kompetenz weder aus dem "alten Binnenmarktartikel (Art. 95 EGV)" noch aus dem "neuen Binnenmarktartikel (Art. 65 EGV) herleiten lasse: Die Intention des Art. 95 EGV sei primär auf die Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes gerichtet. Art. 65 EGV beziehe sich hingegen nur auf die Bereiche des Internationalen Privatrechts und des Verfahrensrechts.

Möchte man den Wunsch nach einem einheitlichen europäischen Zivilrecht nicht ad acta legen, so bliebe de lege lata nur der Rückgriff auf die Rechtsfigur des "effet utile" und der Lehre von den "implied powers". Ein Indiz für eine solche Vorgehensweise auf europäischer Ebene sieht Prof. Magnus in der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Parlament zum Europäischen Vertragsrecht vom 11.07.2001 (KOM(2001) 98 endg.). Mit dieser solle die Diskussion über ein europäisches Vertragsrecht durch Einbeziehung des Europäischen Parlaments, des Rates und aller interessierten Kreise einschließlich der Wirtschaft, der Juristen aus Praxis und Wissenschaft und der Verbraucherverbände ausgeweitet werden. Zudem fordere die Kommission hiermit die genannten Akteure auf, Vorschläge für die Weiterentwicklung des europäischen Zivilrechts zu unterbreiten.

Bejahe man eine derartige sektorielle Kompetenz der Europäischen Union, so komme die Maßnahme der Verordnung oder Richtlinie als geeignetes Handlungsinstrumentarium in Betracht. Prof. Magnus betonte, dass mittels dieser europäischen Rechtsakte bereits in der Vergangenheit bedeutende Vorschriften erlassen wurden, die sich erheblich auf das deutsche Vertragsrecht und deren Ausgestaltung ausgewirkt haben. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen, seien hierzu insbesondere folgende Rechtsakte zu zählen:

Verordnungen:

"ÜberbuchungsVO", "LuftunfallVO", "Europa-AG-VO", "InsolvenzVO", "ZustellungsVO", "Brüssel-II-VO", "EuGVÜ-VO" sowie die am 1. April 2004 in Kraft tretende "BeweisVO".

Richtlinien:

"HausTWiRiL", "FernabsatzRiL", "AGB-RiL", "ZahlungsverzugsRiL", "VerbrauchsgüterRiL", "TimesharingRiL", ProdukthaftRiL" sowie die "VerbraucherkreditRiL".

Durch diese Rechtsakte sei es zu erheblichen Modifikationen im deutschen Zivilrecht gekommen, insbesondere in Bezug auf das Zustandekommen, die Wirksamkeit, die inhaltliche Ausgestaltung und die Rechtsfolgen von Verträgen.

Die unmittelbar anwendbare Verordnung, die in allen Mitgliedstaaten inhaltlich einheitlich und vollständig gelte, vergemeinschafte die durch sie berührten Rechtsmaterien europaweit. Sie sei das Mittel der Rechtsvereinheitlichung und löst das überkommene völkerrechtliche Instrumentarium der Staatsverträge ab. Insofern charakterisierte Prof. Magnus die Verordnung als das "Symbol für das Ende der Nationalstaaten".

Die Richtlinie hingegen gebe nur ein verbindliches Ziel vor, überlasse die Wahl der Form und Mittel zu dessen Erreichung aber den Mitgliedstaaten. Dies diene der Rücksichtnahme auf die gewachsenen und stark kulturell geprägten Eigenarten der nationalen Rechtsordnungen und sei daher eine sehr schonende Verfahrensweise. Die Richtlinie sei daher das Mittel zur Harmonisierung der nationalen Rechtsordnungen. Unmittelbar anwendbar und damit verbindlich werde die Richtlinie jedoch erst, nachdem sie innerhalb einer vorgegeben Frist in das nationale Recht umgesetzt worden sei. Vorher richte sie sich lediglich an die Mitgliedstaaten ohne Rechte und Pflichten für die Gemeinschaftsbürger zu begründen.

In der Eigenart der Richtlinie liege denn auch die Problematik dieses Handlungsinstrumentariums. In den Augen von Prof. Magnus sei diese zwar ein "sympathisches" Instrument, da sie die einzelnen Rechtsordnungen schonen wolle. In der Praxis führe die – derzeit vorrangig benutzte – Richtlinie aber zu erheblichen Spannungen und Zerreißproben. So komme es aufgrund der zum Teil äußerst komplizierten Anpassungen des nationalen Rechts an die Richtlinienvorgaben oft zu erheblichen zeitliche Verzögerungen und damit einhergehend auch zu einer verspäteten Geltung der Richtlinie für die Gemeinschaftsbürger.

Die Anpassungsschwierigkeiten in den einzelnen Mitgliedstaaten seien dabei unterschiedlich stark. Dies liege in den unterschiedlichen nationalen Kodifikationssystemen begründet. So sei es auch leicht verständlich, dass Großbritannien mit dem System der "schlanksten" Kodifikation die Richtlinien am treuesten umsetze. Diesen Nachteilen der verspäteten Anwendbarkeit aufgrund der nicht fristgemäßen Umsetzung der Richtlinie habe der EuGH durch eine "Sanktionierung" des säumigen Mitgliedstaates entgegen zu wirken versucht.

So billige der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung dem einzelnen Bürger zu, sich auch ohne die erforderliche staatliche Umsetzung unmittelbar – allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen – auf die für ihn vorteilhaften Bestimmungen der Richtlinie zu berufen. Desweiteren anerkenne er die Verpflichtung der Mitgliedstaat zum Ersatz derjenigen Schäden, die durch die fehlende oder nicht ordnungsgemäße Umsetzung der Richtlinien verursacht werden. Damit sei aber lediglich für eine unmittelbare Anwendung der nicht umgesetzten Richtlinie im Verhältnis Mitgliedstaat-Bürger gesorgt. Das eigentlich gewünschte Ergebnis der Richtlinie werde dadurch aber nicht erreicht. Demzufolge gäbe es in einigen Bereichen ein Europarecht nur insoweit, wie die Mitgliedstaaten ihrer Umsetzungspflicht nachgekommen seien. Das Ergebnis sei somit eine störende sog. "Piecemeal-Systematik".

Daneben wies Prof. Magnus auf die größte Herausforderung hin, die mit dem Einsatz der Richtlinie als Instrument im Hinblick auf die Entwicklung eines europäischen Zivilrechts mit sich brächte: Die richtlinienkonforme Auslegung. Die Richtlinie bedürfe eines staatlichen Anwendungsbefehls, um innerstaatlich zu gelten. Diese Umsetzung in nationales Recht stelle den Rechtsanwender vor zum Teil unüberwindbare Auslegungsprobleme. Das Auslegungsmonopol liege zwar beim EuGH, so dass es im Falle von Auslegungsfragen das Recht und in bestimmten Fällen auch die Pflicht zur Vorlage – z.B. im Vorabentscheidungsverfahren – an den Gerichtshof gebe. Vor diesem Schritt sei aber erst noch ein anderer zu tun. Wie solle der Rechtsanwender beispielsweise im Falle der Schuldrechtsreform erkennen, welche Bestimmung des Bürgerlichen Gesetzbuches auf die umzusetzende Richtlinie zurück zu führen sei? Und wenn ihm diese denn gelinge, welche der drei Richtlinien komme in Frage? Woher und wie könne er den authentischen Richtlinietext bekommen?

Darüber hinaus gelten für das Gemeinschaftsrecht originäre Auslegungsgrundsätze, um nicht ein Gemeinschaftsrecht nach Maßgabe der nationalen Rechtsordnungen zu erhalten. Der deutsche Rechtsanwender könne somit nicht ohne weiteres auf die vier Auslegungskriterien von Friedrich Carl v. Savigny zurückgreifen, da der EuGH eigene Kriterien entwickelt habe. So bediene sich der Gerichtshof zum Zwecke der Auslegung beispielsweise der Rechtsfigur der allgemeinen Rechtsgrundsätze. Außerdem müsse der einzelne Rechtsanwender die Rechtsprechung des EuGH ständig verfolgen und kennen, um sich dessen Auslegung gewahr zu sein. Dies alles führe zu einer heute nicht mehr seriös durchführbaren richtlinienkonformen Auslegung von nationalem Recht. Daher empfahl Prof. Magnus die "Abkehr vom Instrument der Richtlinie" und die Hinwendung zum Instrument der Verordnung als Mittel der Wahl. Um zukünftig den rechtlichen Flickenteppich zu vermeiden, solle diese jedoch "flächendeckend" gebraucht werden.

Nach diesen Erläuterungen zu den notwendigen Rahmenbedingungen für die Kodifikation eines europäischen Zivilrechts, wandte sich Prof. Magnus zum Schluss den inhaltlichen Aspekten einer derartigen Kodifikation zu. So wies er darauf hin, dass es derzeit zahlreiche sog. Private-Law-Groups gäbe, die unter Einbeziehung von Rechtsgelehrten aus den einzelnen Mitgliedstaaten an Entwürfen für die Weiterentwicklung des europäischen Zivilrechts bzw. einem europäischen Zivilgesetzbuch arbeiten. Unter ihnen die European Group on Tort Law, die Commission on European Contract Law (sog. Lando-Kommission), das Projekt eines "Code européen des Contrats" der Accademia dei Giusprivatisti europei (sog. Pavia-Entwurf), die sog. Trento-Gruppe sowie das von der DFG geförderte "Projekt eines europäischen Zivilgesetzbuches" unter Leitung von Prof. v. Bar. Trotz dieser Vielzahl an Forschungsprojekten regte Prof. Magnus die Gründung einer European Law Commission an, die unter Bündelung aller Kräfte das Projekt eines europäischen Zivilrechts wesentlich effizienter und effektiver vorantreiben könne.

Zum Abschluss kam Prof. Magnus zu dem Fazit, dass der deutsche Gesetzgeber und Rechtsanwender durch den derzeitigen Status quo mit gewaltigen Problemen konfrontiert werde. Deren Lösung, auch im Hinblick auf die Kodifikation des europäischen Zivilrechts, sei in der "flächendeckenden" Anwendung der Verordnung als Mittel der Wahl zu sehen. Das Fundament für ein solches "Europäisches Zivilgesetzbuch" werde derzeit von den zahlreichen Private-Law-Groups vorbereitet.

Die Fortsetzungsveranstaltungen werden sich mit weiteren zivilrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Problemen des Europarechts befassen. Dazu werden jeweils gesonderte Einladungen ergehen.

RA Hans Arno Petzold und RRef. Jan-Oliver Heß, Hamburg