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Veranstaltungsreihe Europarecht

Organisiert
vom Hamburgischen Richterverein,
der Vereinigung hamburgischer Verwaltungsrichterinnen und Verwaltungsrichter und
dem Hamburgischen Anwaltsverein
in Zusammenarbeit
mit dem Info-Point Europa in Hamburg

Auftaktveranstaltung

""Europarecht in der
Rechtspraxis"

von
RA Prof. Dr. Hans-Jürgen Rabe

Zu Beginn seines Vortrags am 6. November 2001 betonte Herr Prof. Dr. Rabe zunächst, dass "die Zeit europarechtlicher Unschuld" nun endgültig vorbei sei. Es gebe nahezu 50 Jahre das Europarecht, und dieses habe in zunehmendem Maße wie eine Krake mit ihren Tentakeln in alle Rechtsgebiete eingegriffen. Dies bedeute selbstverständlich nicht, daß sich jeder Jurist in den Feinheiten sämtlicher europarechtlichen Rechtsgebiete auskennen müsse. Es sei heute aber unabdingbar, um die zahlreichen Einflüsse europarechtlicher Gesetzgebung und Rechtsprechung auf das nationale Recht zu wissen. So seien beispielsweise die §§ 611 a, 613 a BGB gemeinschaftsrechtlich beeinflußte Vorschriften, ebenso sei die Schuldrechtsreform maßgeblich durch Vorgaben des Gemeinschaftsrechts, wie die Richtlinie über Verbrauchsgüter oder die Richtlinie über elektronischen Zahlungsverkehr, vorangetrieben worden.

Das Befremden, mit dem viele Juristen auf das Gemeinschaftsrecht reagierten, sei mit einigen, dem deutschen Recht fremden Strukturen zu erklären. Zur Verdeutlichung dieser These erläuterte er grundlegende Prinzipien des Gemeinschaftsrechts. So hätten Rechtsvorschriften aus Brüssel und Straßburg vor dem Recht der einzelnen Mitgliedsstaaten Vorrang (Vorrang des Gemeinschaftsrechts). Zudem müsse das Gemeinschaftsrecht mit den ihm eigenen Regeln ausgelegt werden, selbst wenn es, wie Richtlinien, in nationales Recht umgewandelt sei. So sei bei der wörtlichen Auslegung der Vorschriften, die in sämtlichen 11 Amtssprachen der Mitgliedsstaaten abgefaßt würden, der Wortlaut in allen Sprachen gleich relevant. - Dies führe oftmals zu einem weiten Interpretationsspielraum bei der Auslegung einzelner Rechtssätze. Ebenso müßten die am Anfang jeder Vorschrift stehenden Erwägungsgründe bei deren Interpretation berücksichtigt werden. Die systematische Interpretation setze zudem einen Überblick des Rechtsanwenders über die Bezüge und Systematik des Gemeinschaftsrechts voraus. Ferner kenne die teleologische Interpretation zwar herkömmliche Interpretationswerkzeuge wie die Lehre von den "implied powers", ergänzt würden diese aber durch dem Gemeinschaftsrecht eigene Figuren wie den "effet utile". Nicht zuletzt sei die Kenntnis der Rechtsprechung des EuGH für das Verständnis des Gemeinschaftsrechts unabdingbare Voraussetzung.

Ausschließlich durch Gemeinschaftsrecht geregelt seien

Bei Letzterem habe das Gemeinschaftsrecht auch auf das nationale Recht einen nachhaltigen Einfluß. Beispielsweise habe der EuGH im sog. Alcan-Fall, bei dem es um staatlich subventionierte Grundstücksverkäufe an Investoren ging, entschieden, daß der im deutschen Verwaltungsverfahrensrecht geltende Grundsatz des Vertrauensschutzes, § 48 VwVfG, bei der Verteilung gemeinschaftswidriger Beihilfen keine Anwendung finde.

Herr Prof. Dr. Rabe betonte, dass das nationales Recht, soweit es gemeinschaftsrechtliche Wurzeln habe, in Orientierung am Gemeinschaftsrecht und dessen Auslegungsregeln angewendet werden müsse. Soweit nationale Gerichte bei der Auslegung von europarechtlich beeinflußten Rechtssätzen (bspw. in nationales Recht umgesetzte Richtlinien) Zweifelsfragen hätten, bestehe für sie eine Vorlagepflicht beim EuGH. Dieses "nationale Gemeinschaftsrecht", also in nationales Recht umgesetzte Richtlinien, diene vielfach der Angleichung der Rechtsvorschriften und Lebensverhältnisse zur Verwirklichung der Grundfreiheiten in den einzelnen Mitgliedstaaten. Zur Verdeutlichung nannte Herr Prof. Dr. Rabe hier die Richtlinien für den Verbrauchsgüterkauf, für Pauschalreisen und für Haustürgeschäfte. Dieses "nationale Gemeinschaftsrecht" sei für den Anwender oftmals nicht mehr als Gemeinschaftsrecht erkennbar. Da aber Gemeinschaftsrecht - wie oben ausgeführt - anderen Auslegungsgrundsätzen unterliege, sei es in der Rechtspraxis notwendig, zu wissen, welche Rechtsvorschriften gemeinschaftsrechtlichen Ursprungs seien.

Der europäische Gesetzgeber gebe stets einen Zeitrahmen vor, in dem Richtlinien in nationales Recht umgesetzt werden müßten. Soweit dies im vorgesehenen Zeitraum nicht oder nur unzureichend geschehe, habe sich der Gerichtshof mit seiner "Europarechtsfortbildungskompetenz" für die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien ausgesprochen. Laut der Rechtsprechung des Gerichtshofs führe dies dazu, daß der Verbraucher dem Staat gegenüber Staatshaftungsansprüche geltend machen könne, sofern ihm infolge der nicht oder nur unzulänglichen erfolgten Umsetzung einer Richtlinie Nachteile erwachsen seien.

Soweit nationale Gericht bei der Auslegung "nationalen Gemeinschaftsrechts" mit Anwendungs- und Auslegungsproblemen konfrontiert würden, seien sie verpflichtet, dem Gerichtshof die entsprechenden Rechtsfragen vorzulegen. Da sowohl die Gerichte als auch die mit dem jeweiligen Fall beschäftigten Rechtsanwälte im Umgang mit dem Gerichtshof zumeist noch eine gewisse Unbeholfenheit hätten, wenn sie in der Praxis erstmals mit europarechtlichen Fragestellungen konfrontiert würden, habe der Gerichtshof sowohl für die Gerichte, als auch für Anwälte Richtlinien herausgegeben, die einen Leitfaden für die Modalitäten und Besonderheiten des Vorlageverfahrens aufzeichnen.

Abschließend unterstrich Herr Prof. Dr. Rabe nochmals, dass der Stellenwert des Europarechts in den nationalen Rechtsordnungen stetig zunehmen werde, da die justizielle Zusammenarbeit in die 2. Säule des Vertrags von Maastricht aufgenommen worden sei. Die Frage einer Zuhörerin, ob nun zu befürchten sei, dass die europarechtliche Rechtsprechung in absehbarer Zeit in die Mitgliedstaaten verlegt werde verneinte Herr Prof. Dr. Rabe. Da sich der Gerichtshof als ein Wächter des Gemeinschaftsrechts sehe, und sich dazu berufen fühle, die einheitliche Anwendung dieser Regeln in den einzelnen Mitgliedstaaten sicherzustellen, werde er weiterhin das zentrale Rechtsprechungsorgan bei europarechtlichen Fragestellungen bleiben. Dagegen werde das Gericht 1. Instanz wohl zukünftig ausgebaut werden.

Die Fortsetzungsveranstaltungen werden sich mit zivilrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Problemen des Europarechts befassen. Dazu werden jeweils gesonderte Einladungen ergehen.

RA Hans Arno Petzold und RRef.in Gesche Suhr, Hamburg