Eine Filmdokumentation
Den Filmbericht "Das Dschungelgericht - Mit dem Justizschiff auf dem Amazonas" von Klaus Dexel gab es am 3.11.01 um 20:15 Uhr im WDR-Fernsehen. Er handelt von einem doppelstöckigen seitlich offenen Schiff, das einem kleinen Alsterdampfer ähnelt. Es heißt "Almirante do Brasil" und befährt im brasilianischen Regenwald den Canal do Norte, einen Nebenarm des Amazonas im Deltagebiet. Hier hat die Justiz noch einen guten Namen im Gegensatz zur korrupten Justiz in anderen Landesteilen.
Die Unternehmung wurde von einem jungen Richter und einer jungen Staatsanwältin gegründet. Das Schiff fährt alle 2 Monate zu den Pfahlinseln. 5.000 Bewohner gehören zum Bezirk und wohnen in weit verstreuten Siedlungen. Die Adressangaben lauten hier z.B. "vierte Flußbiegung auf der rechten Uferseite".
Das Justizschiff ist mit 25 Personen besetzt, darunter eine Richterin, eine Staatsanwältin, eine Gerichtsschreiberin, eine Gerichtsvollzieherin, ein Urkundsbeamter, ein Sozialarbeiter, ein Arzt und zwei Krankenschwestern. Den eingangs (wohl fälschlicherweise) erwähnten Verteidiger sieht man nie im Bericht und er findet sich auch nicht in der schriftlichen Personenliste wieder.
Berichtet wird von der 38. Reise. Nach zehnstündiger Fahrt erreicht das Schiff die erste Station. Das Schiff wird von der Bevölkerung bereits erwartet. Während auf dem Schiff zu Gericht gesessen wird (die Richterin diktiert der Gerichtsschreiberin in den Laptop), wird an Land die Ausstellung von Ausweisen vorbereitet und behandelt der Arzt die Bevölkerung. Die Liste der Geladenen wird verlesen. Die Nichterschienenen werden mit schnellen Motorbeibooten geholt.
Im ersten Fall soll das Gericht das Alter eines Mannes feststellen, damit eine entsprechende Geburtsurkunde ausgestellt werden kann. Diese ist Voraussetzung für den Antrag auf die Mindestrente. Die Zeugen können oder wollen weder das Alter des Betroffenen noch ihr eigenes Alter angeben.
Im zweiten Fall wird ein Rinderhirte angeklagt, seinen Cousin mit einem Schrotgewehr lebensgefährlich verletzt zu haben. Die Gerichtsvollzieherin überbringt die Vorladung wegen versuchten Totschlags und bringt den Mann mit dem Beiboot zum Justizschiff. Dort verliest die StA'in die Anklageschrift, in der der Fall an das auf dem Festland befindliche Schwurgericht "verwiesen" wird. Die Richterin befragt den Angeklagten, der sich zwar an nichts erinnern kann, aber dennoch die Tat bereut. Die Richterin beschließt, dass die Hauptverhandlung in 4 Monaten am Festland stattfindet. Bis dahin muss der Angeklagte einen Verteidiger gefunden haben, sonst teilt das Gericht ihm einen zu. Der Angeklagte bleibt frei; Flucht ist für ihn keine Alternative angesichts der Sümpfe.
Das Opfer des versuchten Totschlags entschließt sich spontan, die Anwesenheit des Justizschiffs zu nutzen, um seine langjährige Lebensgefährtin zu heiraten. Er braucht die Heiratsurkunde, um der Vereinigung der Fischer beitreten zu können. Das Justizschiff besorgt das Hochzeitskleid bei den Dorfbewohnern leihweise.
Eines der Beiboote holt ein Kind, das von Vater und Mutter verlassen wurde. Die Befragung der aufnehmenden Fremdmutter ergibt nur vage Angaben zum Hergang. Der Arzt untersucht das Kind. Dann wird es zunächst in die Obhut der örtlichen Militärpolizei gegeben.
Am nächsten Tag herrscht wegen schlechten Wetters Seegang wie auf offenem Meer (der Fluss ist so breit, dass das andere Ufer kaum zu sehen ist). Die Hälfte der Justizmannschaft ist seekrank. Nach sechsstündiger Fahrt ist die nächste Siedlung erreicht: 10 Hütten nebst Polizeistation. Trotz heftiger Regengüsse kommen die Menschen von weit her zum Justizschiff.
Einer der Vorgeladenen ist der Dorfpolizist, der einen wildernden Fischer gestellt hatte (gefischt werden darf nur für den Eigenbedarf und nicht zum Weiterverkauf) und der dessen Waffen beschlagnahmt hatte. Der Wilderer zeigte daraufhin den Polizisten an, weil der ihn verfolgt und bedroht habe. Die Richterin befragt die Beteiligten, kann den Hergang nicht klären und behält mangels Waffenscheins die Waffen für die Armee ein. Der Wilderer ist froh, nicht wegen der Wilderei belangt zu werden. War das der Zweck seiner Anzeige?
Parallel zur Gerichtsverhandlung öffnet der Arzt seine "Praxis". Verbreitet sind Malaria, Darm-, Wurm- und Pilzerkrankungen (alle Abwässer fließen direkt in den Amazonas, aus dem auch das Trinkwasser entnommen wird). Es fehlt an Behandlungsmöglichkeiten. Die StA'in hilft inzwischen in der Krankenstation mit. 100 Patienten werden pro Tag behandelt.
In der größten Siedlung des Archipels hat die "Flußjustiz" eine Außenstelle am Festland eingerichtet. Eine junge Frau zeigte dort ihren Vater nach 8 Jahren wegen Vergewaltigung an. Die gesamte Familie wurde vorgeladen (alle sind gleichzeitig anwesend). Die Schwester des Opfers hat den Fall angezeigt und wurde ebenfalls von ihrem Vater vergewaltigt. Die Mutter wußte es und schweigt noch immer. Die Eltern fühlen sich durch die Anzeige von ihrer Tochter respektlos behandelt. Der Vater kann sich wegen eines angeblichen Gehirntumors "nicht erinnern". Die Staatsanwältin kündigt weitere Ermittlungen an.
In dieser Nacht wird an den Fällen des Tages weitergearbeitet und weitergefahren.
Ortstermin wegen eines "Umweltdelikts": ein Mann zeigte an, dass ein anderer auf seinem Grundstück 60 Palmitobäume gefällt hat. Die in solchen Bäumen enthaltenen Palmherzen werden in der nahegelegenen "Fabrik" zu Konserven verarbeitet. Die StA'in begibt sich vom Deliktsort zur Fabrik. Die Fabrik ist - wie immer bei Ankunft des Justizschiffes - geschlossen. Kraft ihres Amtes verschafft sich die StA'in bei einem Arbeiter Zutritt. Aufgrund der Angabe eines falschen Herkunftsorts auf den Dosen kommt die StA'in einem Steuervergehen der Fabrik auf die Spur.
Auf dem Justizschiff werden inzwischen Aufklärungskurse abgehalten. Eine gefährdete Schwangerschaft wird mit dem Beiboot zum Krankenhaus gebracht. Zufällig aufgefundene malariakranke Kinder können mangels Medikamente des Bordarztes nicht behandelt werden; eine Epidemie erschöpfte den Medikamentenvorrat. Nachts wird das Justizschiff von Moskitoschwärmen belagert.
Wie klein sind doch unsere hiesigen Justizprobleme.
RiLG Wolfgang Hirth