Prof. Ulrich Karpen (CDU) meldet sich kürzlich in der Hamburger Presse zu Wort: "Die Verfahrenseinstellung ist ein Skandal. ... Der Fall schadet dem Ansehen der Hamburger Justiz im In- und Ausland" (HA vom 21.04.2001; ähnlich schon lt. HA v. 18.04.). Nachdem die Sache vor Ostern von "Kontraste" in die Öffentlichkeit getragen worden war, steht bei der StA das Telefon nicht still. In Italien hat Justizminister Fassoni den Fall Engel zur "Chefsache" gemacht und sich direkt an die deutsche Justizministerin nach Berlin gewandt mit der Bitte, "die von den Angehörigen der Opfer vorgebrachten Wünsche zu erfüllen" (FAZ vom 21.04.: Rom fordert Prozess; auch HA 11.04.).
Der jetzt 92jährige Friedrich Engel war von 1944 bis Kriegsende als SS-Führer (zuletzt: Obersturmbannführer) Chef der SS und Polizei in Genua und soll dort gegen Kriegsende an besonders grausamen Geiselerschießungen maßgeblich beteiligt gewesen sein. Das bestreitet der seit 1945 in Hamburg lebende und hier kürzlich interviewte Engel nicht schlechthin, will aber nur an einem Fall beteiligt gewesen sein und auf Befehl gehandelt haben (HA Ostern 2001: "Todesengel von Genua": Er wohnt in Lokstedt; FAZ v. 21.04.01: Rom fordert Prozess gegen Engel). 1969 war Engel anlässlich eines umfangreichen (anderen) Hamburger NS-Verfahrens von einem Zeugen erwähnt worden, der sich allerdings nur auf ein Gerücht älteren Datums beziehen konnte, das mangels weiterer Beweismittel weder substantiiert noch erhärtet werden konnte. Das Verfahren wurde deshalb wieder eingestellt (HA vom 21.04.2001). Dreißig Jahre später (1999) hatte dann ein Turiner Gericht Friedrich Engel (in den italienischen Medien als "Henker von Genua" apostrophiert) in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt.
Nachdem jetzt im April d.J. zunächst die Auslieferung des dort Verurteilten nach Italien verlangt worden war (was schon an Art. 16 GG scheitern musste), lautet die Forderung an die deutsche (sprich: Hamburger) Justiz nunmehr, ihm den Prozess unverzüglich hier zu machen.
Die StA Hamburg ermittelt und wird -glaubt man den Medien - zu Eile und Eifer angetrieben. Kein günstiger Moment also, sich grundsätzlichen Erwägungen hinzugeben: Jetzt sind "Macher", nicht Philosophen gefragt!
Wem indessen das Privileg zuteil geworden ist, auf seinem Balkon zu sitzen und über den Lauf der Welt in Muße zu reflektieren, der kann ja dennoch versuchen, ein paar - zugegeben: durchaus praxisferne, deshalb freilich noch keineswegs sinnlose! - Gedanken beizusteuern:
Die StA ist im vorliegenden Fall zum Einschreiten (§ 152 (2) StPO) gesetzlich nicht verpflichtet; es zu tun oder zu unterlassen, liegt in ihrem Ermessen (Auslandstat: § 153 c (1) Zi. 1 StPO). Mithin ist rein rechtlich das Feld eröffnet, über den tieferen Sinn und die innere Legitimation des hier verlangten justiziellen Tuns nachzudenken.
Hier überzeugt mich nur seine Prämisse, nicht auch die Schlussfolgerung: Jedenfalls mit großer Wahrscheinlichkeit hat es sich in der Tat um Kriegsverbrechen, also Geiselerschießungen als Repressalien gehandelt, die durch das Kriegsvölkerrecht (obwohl es erhebliche Härten zu gestatten scheint) nicht mehr gedeckt waren. Die Grenzen dieses Kriegsrechts sind im Fall Priebke vor italienischen Gerichten seinerzeit leidenschaftlich diskutiert worden (vgl. dazu NJW 1997, 174: Wirbel um Priebke; ähnlich auch MHR 1996 Heft 3 S. 12 ff.).
Nun werden, wie jeder weiß, die eigenen Kriegsverbrechen von den Staaten durchweg mit wenig Eifer verfolgt. Alle Völker dieser Erde breiten über solche Untaten - wenn sie dergleichen überhaupt verfolgen und nicht etwa noch bejubeln - irgendwann, meist bald den Mantel der Amnestie, des Schweigens und Vergessens. Obwohl es für die - stets "völlig unschuldige" (Karpen) - Opferseite fruchtbar und wiederum verletzend ist: den Völkern bleibt wenig anderes übrig, als bald nach ihren Kriegen einen Schlussstrich zu ziehen, um gemeinsam weiterleben zu können. So tragen die Staaten ihre wechselseitigen Kriegsverbrechen einander nicht ewig nach - klugerweise nicht, zumal hier wie sonst nirgends das "tu quoque!" droht.
Bei denen soll es in der Tat bleiben (jedenfalls wäre deren Diskussion nicht das vorliegende Thema). Es ist aber schon die Voraussetzung, die hier nicht stimmt: dass die fraglichen Taten ohne weiteres als nationalsozialistische Gewaltverbrechen (NSG) zu qualifizieren wären - vielleicht ja deshalb, weil der Täter SS-Führer war und in deren Hierarchie einen maßgeblichen Posten bekleidete.
Was unter NSG wirklich zu verstehen ist, haben die drei großen Bundestagsdebatten um die Verjährungsfrage (März 1965, Juni 1969 und Juli 1979) jedenfalls vage herausgearbeitet, und philosophische, historische und juristische Beiträge haben es präzisiert und vertieft (vgl. z.B. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem, München 1964 S. 301 ff; Herbert Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, 1967 S. 329 ff; Adalbert Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht, Heidelberg 1982 S. 13 ff. und passim, Peter Steinbach: NSG in der deutschen Öffentlichkeit nach 1945 in Weber/Steinbach: Vergangenheitsbewältigung durch Strafverfahren? München 1984 S. 13 ff. und passim). Wirklich gemeint ist der NS-Genocid, der ideologisch oder rassistisch motivierte Völkermord, Ausrottungsverbrechen, also jene Menschheitsgeißel, die nach wie vor in ethnischen Säuberungen oder unter ähnlicher Gestalt die Völker heimsucht, Hier müssten deshalb - so letztlich ein Konsens, der bis in die Gegenwart reicht: vgl. das Haager Tribunal ! - andere Maßstäbe gelten als für Mord und Totschlag im Alltag einer Gesellschaft, oder als für Kriegsverbrechen, die sich wie ein schmutziges Kielwasser hinter kriegerischen Verrohungen und Brutalitäten herziehen - stets und auf jeder Seite der Kombattanten.
Diese Einsicht in die substanzielle Art und Natur der Menschheitsverbrechen (die übliche Fehlübersetzung als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" nennt die scharfzüngige Hannah Arendt das "understatement des Jahrhunderts") hatte sich nach dem Kriege erst mühsam Bahn brechen müssen: Die Alliierten hatten den Nürnberger Prozessen das durchaus verfehlte Siegel der Kriegsverbrecherprozesse aufgedrückt, was in der Adenauer-Ära zur Zeit der Wiederbewaffnung deutscherseits dann aufgegriffen wurde - sozusagen in umgekehrter Stoßrichtung -, um jegliche NSG-Verfolgung als illegitim abzuwerten. Wer NS-Prozesse geführt hat, kennt den immer wiederholten, aber falschen Einwand der Angeklagten, sie hätten (bei Juden - "Aussiedlungen" udgl.) als Soldaten nur ihre Pflicht im Kriege erfüllt. ...
Mit einem Wort: Die gedankenlose - oder gezielte - Gleichsetzung von Menschheits- und Kriegsverbrechen, deren Überwindung eine geistige und kulturelle Leistung der 60er Jahre des XX. Jahrhunderts gewesen war, prägt heute erneut Publizistik, Medien und Alltagssprache, so als hätte es Reflexions- und Erkenntnisprozesse darüber niemals gegeben.
Wenn aber die Vermutung zutrifft, dass dem Beschuldigten tatsächlich "nur" Kriegsverbrechen im präzisen Sinne zur Last fallen, gäbe es für weitere Ermittlungen und eine Anklage keine überzeugenden Gründe. Alle Motive, sämtliche Sachgründe, die für deutsche NS-Verfahren und gegen die entsprechende Mordverjährung immer wieder ins Feld geführt worden sind, kehrten sich dann zu einem unzweideutigen Veto um. Dass der Gleichheitssatz schon bei der Verfolgung von Genocidverbrechen nie Geltung erringen konnte, ist schlimm genug, begründet aber letztlich wohl keinen durchgreifenden Einwand gegen unsere tradierte NSG-Praxis. Wenn diese aber auf Kriegsverbrechen erstreckt wird, die kein NS-Spezifikum sind und die sonst kein Staat dieser Erde (wenn überhaupt) nach 50 Jahren noch verfolgt, dann bricht die ohnehin arg strapazierte Legitimationsgrundlage für sog. Naziverfahren zusammen. Wer will das, wer die psychologischen Langzeitfolgen riskieren?
Deshalb drängt sich - unter der o.g. tatsächlichen Voraussetzung - eine Verfahrenseinstellung gemäß § 153 c (1) 1 StPO gebieterisch und zwingend auf. ...
Alles Theorie - ich weiß! Vermutlich wird der Fall Engel nach eifriger Bearbeitung irgendwann seine "biologische Lösung" finden, der Vorhang sich schließen, die Akten ins Archiv oder nach Turin zurückwandern und alle Fragen - unbeantwortet - in scheinbare Vergessenheit geraten. Aber das kollektiv Unbewusste könnte weiterwirken. Der ideelle Schaden, der aus ihm erwächst, wird zunächst gewiss verborgen bleiben. Letztlich könnte er aber schwerer wiegen als der vordergründige Alltagsnutzen, der jetzt darin gefunden werden wird, dass die Justiz abtaucht und unqualifizierte, aber publikumswirksame Angriffe (wie die zitierten) durch fleißige Geschäftigkeit zu widerlegen trachtet.
Günter Bertram