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Einheitssachbearbeitung
Oder:
Von der richterlichen
Abhängigkeit

Donnerstag, 08.15 Uhr. Ich bin noch ein wenig aus der Puste. Dem Bild eines Hamburger Richters entsprechend habe ich heute morgen "erst einmal Tennis gespielt" - von 04.00 bis 05.30 Uhr.

Im Mittelgang des Ziviljustizgebäudes kreischt mir eine Flex entgegen. Ein junger "Blaumann" schneidet einen der Plastikkanäle für die PC-Verkabelung.

Meine Tür ist schon offen. Der Schreibtisch ist an die Wand gerückt. Vor dem Fenster kniet ein zweiter "Blaumann" und montiert eine Steckdose. "Das dauert hier noch ca. 5 bis 10 Minuten", sagt er.

Ich hänge meinen Mantel weg und mache mich an die Arbeit.

Auf dem Ausgangsbock liegen zwei riesige Aktenstapel. Vertretung! Wachtmeister gibt es ja kaum noch. Aber ich habe heute Glück. Ich werde es wohl dieses Mal mit zwei Gängen schaffen. Ich lade mir also den ersten Stapel vor den Bauch und mache mich auf den Weg. Es sind ja nur ca. 60 bis 80 Meter bis zur Geschäftsstelle. Dort herrscht Chaos! Auf den Tischen, in den Fächern und auf dem Fußboden stapeln sich Berge von Akten.

Als ich im März 1998 die Abteilung übernahm, bestand die Gruppe aus sieben Mitarbeitern. Jetzt sitzen dort noch zwei: eine ist eingespart, einer wurde innerhalb des Dezernats versetzt, einer ist "dauerkrank", eine befindet sich in Urlaub, eine ist kurzfristig erkrankt. Ich spreche die Belastungssituation an. Eine der verbliebenen Mitarbeiterinnen strahlt: "Wenn jetzt noch eine von uns beiden geht, haben wir die Sparquote erreicht!"

Der größte Rückstand besteht im Bereich der nicht geschriebenen Kostenfestsetzungsbeschlüsse. In Anlehnung an das Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen vom 30.03.2000, mit dem vor allem der illiquiden Bauwirtschaft gegen säumige Auftraggeber geholfen werden sollte, frage ich mich, ob wir demnächst zum Schutze der Anwaltschaft ein Gesetz zur zügigen Bearbeitung von Kostenfestsetzungsbeschlüssen benötigen. Die bitterbösen Sachstandsanfragen der Anwälte, unter denen die Geschäftsstellenmitarbeiter/innen immer wieder zu leiden haben, scheinen dafür zu sprechen.

Plötzlich schießt mir die anstehende Sitzung durch den Kopf - angesichts der bedeutsamen Verwaltungsprobleme eher eine lästige Nebensächlichkeit ? Die Verhandlungsakten hatte ich schon vor einigen Tagen aus den zahlreichen Aktenstapeln zusammengesucht; jetzt fehlen mir noch zwei Verkündungsakten. Eine finde ich nach einigem Suchen in einem der Rücklauffächer. Die andere liegt auf dem Tresen am Eingang: "Wegen Personalmangels konnte dieses Urteil leider nicht mehr geschrieben werden", verkündet ein kleiner Zettel.

Ich eile zurück in mein Zimmer. Die Steckdosenmontage ist beendet. Ich rücke den Schreibtisch von der Wand, ordne die Stühle, packe den zweiten Aktenstapel und gehe noch einmal Richtung Geschäftsstelle. Das Telefon lasse ich klingeln. Unterwegs treffe ich einen Kollegen vom Handelsdezernat. Wir überlegen kurz, wer die meisten Akten auf dem Arm hat, und trennen uns schnell: keine Zeit!

Auf dem Weg zurück fällt mir der Zettel ein, den ich kürzlich auf meinem Schreibtisch fand: "Wegen Personalmangels kann eine Protokollführerin für die Sitzung am Donnerstag, den ... leider nicht zur Verfügung gestellt werden." "§ 159 ZPO ist hiermit außer Kraft gesetzt", sollte man ergänzen.

Ich beginne mich zu ärgern. Für diese Sitzung hätte ich unbedingt eine Protokollführerin gebraucht - und es gibt eine Regelung, wonach man diesen Bedarf rechtzeitig beim Dezernatsgeschäftsleiter anmelden soll. Das habe ich schon wieder vergessen - wohl weil ich mir zur maßgeblichen Zeit gerade Gedanken über einen rechtlich und tatsächlich sehr schwierigen Fall gemacht habe. Warum lasse ich mich immer wieder von derartigen Dingen ablenken?

Ich lösche also zwei Diktatkassetten, lese und unterzeichne das vorletzte Urteil und schreibe den Tenor des letzten, nicht geschriebenen Urteils mit der Hand auf einen Zettel. Das Telefon lasse ich erneut klingeln.

Dann: weiße Krawatte um, Kugelschreiber und Taschenrechner ins Jackett, Verhandlungs- und Verkündungsakten, Kalender und Robe auf den Arm, Zimmerschlüssel - halt, die Diktatkassetten!

Vor dem Saal stehen fünf Anwälte und eine "Naturpartei". Die Terminsrolle hängt. Die Einstweilige-Verfügungs-Sache ist nicht nachgetragen.

Ich bitte einen Anwalt, mir die Tür aufzuschließen, damit mir die Akten nicht vom Arm rutschen. Im Saal herrschen 35 bis 40° C im Schatten: Akten, Kalender, Robe usw. auf den Verhandlungstisch, Fenster auf, Licht an, Terminsrolle ergänzen, Rufanlage einschalten. Die Anwälte gehen verlegen vor den Bänken auf und ab, weil sie sich nicht hinsetzen mögen, bevor "der Herr Vorsitzende" Platz genommen hat. Ich streife meine Robe über und setze mich. Der Stuhl ist vom Vorgänger verstellt und fährt auf Knopfdruck 10 cm abwärts. Ich schiebe eine der Diktatkassetten ins Diktiergerät. Kein Strom! Die Putzfrau pflegt zum Staubsaugen immer den Stecker aus der weit unter dem Tisch liegenden Steckdose zu ziehen. Ich krieche also ca. einen Meter unter den Tisch und stecke den Stecker in die Dose. Während ich mich wieder setze, grinsen die Anwälte, die inzwischen hinten auf den Bänken Platz genommen haben. Es lebe die Würde des Gerichts!

Noch knapp fünf Minuten bis zum Sitzungsbeginn! Ich könnte jetzt schon eine Pause gebrauchen. Stattdessen suche ich im Schreibtisch der Protokollführerin nach sechs Verkündungsprotokollformularen. Es sind vier da, die ich zügig ausfülle. Da schnelle und billige Ablauforganisation dem Gesetz vorzugehen scheint, verkünde ich zwei Entscheidungen zunächst ohne Protokolle. Die kann ich später immer noch ausfüllen - wenn ich in den Aktenbergen auf der Geschäftsstelle die Verkündungsakten wiedergefunden haben sollte.

Die folgende Sitzung verläuft dann relativ problemlos. Einige Schriftsätze sind wegen Überlastung der Geschäftsstelle nicht versandt worden, dafür liegen andere vermutlich noch in einer der Postmappen zusammen mit den Zustellurkunden, die zum Nachweis der ordnungsgemäßen Ladung des Beklagten in der Akte von "gewisser Bedeutung" sind. Für einen Zeugen ist ein Dolmetscher nicht geladen. Die Sache wird ohne Vernehmung des Zeugen verglichen. Eine Partei steht fragend im Saal. Klagrücknahme und vor ca. einer Woche verfügte Abladung haben sie noch nicht erreicht.

Ich entschuldige mich bei den Parteien, dass ich mich um diese Dinge nicht rechtzeitig gekümmert habe, und deute an, dass ich mich in Zukunft für eine Übertragung der gesamten Aktenverwaltung auf den zuständigen Richter - aus Ersparnis- und Vereinfachungsgründen - einsetzen wolle.

Früher geriet ich gelegentlich im Hinblick auf § 310 Abs. 1 ZPO in Gewissensnot, wonach der Termin zur Verkündung des Urteils nur dann über drei Wochen hinaus anberaumt werden darf, wenn wichtige Gründe, insbesondere der Umfang oder die Schwierigkeit einer Sache, dies erfordern. Inzwischen hat mich die Verwaltung davon überzeugt, dass die Überlastung der Schreibstube vor allem ein wichtiger Grund im vorgenannten Sinne ist. So bestimme ich den Verkündungstermin bedenkenlos in fünf Wochen, wenn die Akten erst nach drei Wochen aus der Schreibstube zurückkommen, weil diese, wie häufig, überlastet ist.

Nach ca. vier Stunden Sitzungsgeplauder kann ich mich endlich wieder wichtigen Dingen zuwenden: Fenster zu, Rufanlage und Licht aus, Diktatkassetten, Kugelschreiber und Taschenrechner wieder ins Jackett, Akten, Robe und Kalender auf den Arm, Saaltür verschließen, Verkündungsakten auf die Geschäftsstelle usw. usw.

Nach der Mittagspause gibt es noch eine Besprechung in der Verwaltung, die ca. eineinhalb Stunden dauert. Ich wette, das Wort des Jahres 2001 heißt: Budgetierung!

Im Laufe meiner nunmehr 27 Richterjahre habe ich mir angewöhnt, wichtige Dinge gleich zu erledigen und Belangloses liegen zu lassen. Getreu diesem Grundsatz erledige ich vor Dienstschluss noch Unwesentliches wie Blumen gießen, drei Kaffeetassen abwaschen, etwas Dekretur und schließlich das Diktat von zwei Urteilen, wobei ich das letzte wegen des Baulärms im Hof abbrechen muss.

Und morgen werde ich mich als erstes um die Statistik für den Monat Mai kümmern!

Schulze-Kirketerp