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Recht und Vorbild.

Ein bekannter Politiker gibt sein Ehrenwort (seit 1987, einige werden sich erinnern, eine etwas dubiose Art, um Vertrauen zu werben) und stellt es über die Gesetze. Ein etwas weniger bekannter Politiker läßt sich seine Hochzeitsfeier und einen Opernausflug von Wirtschaftsunternehmen bezahlen und findet das eigentlich ganz normal. Ein noch weniger bekannter Politiker, Jurist, Anwalt obendrein, fährt auf seinem Fahrrad (ohne Helm!) entgegen der Fahrtrichtung auf einer Busspur daher. Wo ist hier der Zusammenhang, mag d(i)e(r) geneigte Leser(in) fragen. In der Tat drängt sich zunächst keiner auf. Oder vielleicht doch?

Gesetze sind da, um übertreten zu werden, sagt der Volksmund. Eine weit verbreitete Vorstellung, und sehr realitätsnah. Wer kann schon von sich behaupten, noch nie gegen irgend eine Vorschrift verstoßen zu haben? Unwissentlich geschieht das wahrscheinlich recht oft, gibt es doch zu viele Regeln, um sie alle beherzigen zu können. Das ist auch nicht der Punkt. Es geht um das bewußte, mehr oder weniger vorsätzliche Verletzen von Regeln. Auch das ist ja nicht selten, ich denke da an die Fußgängerampeln am Sievekingplatz oder die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Elbchaussee ... ganz abgesehen von "richtigen" Straftaten. Und wovon sollte die Anwaltschaft leben, wenn sich alle immer an alle Vorschriften hielten?

Es gibt jedoch auch hier Unterschiede. Und die liegen in der inneren Einstellung. Manchem(r) Zeitgenossi(e)n kommt es nicht sehr darauf an, sich gesetzestreu zu verhalten, Vorschriften stören, aber sie sind nun einmal da. Und die fällige Sanktion, im Fall des Erwischtwerdens, ist einkalkuliert und wird hingenommen. Mit dieser Art "Rechtsbrecher" läßt sich noch einigermaßen leben, solange sie die Gefährdung Dritter minimieren. Bei anderen ist das anders. Die halten sich nicht an Regeln, weil sie diese für falsch halten. Etwa, daß man Spender benennen muß. Oder sich nicht bestechen lassen darf. Oder daß auch Radfahrer nicht alles dürfen. Kann man das in einen Topf werfen? Ich meine: ja!

Als Vater von zwei Kindern im Alter von 13 und 10 Jahren weiß ich, wie wichtig Vorbilder sind. Und nicht nur Kinder orientieren sich an anderen. Auch Erwachsene tun das. Gern auch an Politikern, die stehen ja ohnehin in der Öffentlichkeit und in der Zeitung mit den großen Buchstaben. Also, warum gesetzestreu sein, und damit blöd (Steuererklärung!), wenn "die da oben" es auch nicht sind? Schon von daher wäre sicher etwas mehr Problembewußtsein wünschenswert bei allen, die öffentliche Ämter und Funktionen innehaben.

Aber damit ist es noch nicht getan. Gesetze werden nicht einfach nur ignoriert oder "im stillen Kämmerlein" gebrochen. Nein, es wird offen zum Rechtsbruch aufgerufen. "Massenhafter Regelverstoß", "ziviler Ungehorsam", "gewaltfreier Widerstand" sind so einige Schlagworte, andere benutzen andere, jeweils eine Frage der politischen Sozialisation. Einzelne oder Gruppen halten bestimmte Regeln für falsch und wenden sie nicht mehr an, rufen andere auf, es ebenfalls nicht zu tun. Natürlich gilt das aber nur für die jeweils den eigenen Interessen oder Wertvorstellungen zuwiderlaufenden Gesetze. Insofern hat man/frau ja die besseren Einsichten, die höhere Vernunft und die einzige Wahrheit gepachtet. Beispiele?

Radfahrer fahren auf der Fahrbahn neben dem Radweg her, weil – warum auch immer, auf dem Radweg fahren nur Spießer. Und wehe, ein Auto parkt auf dem Radweg. Und natürlich umgekehrt.

Ein gutsituierter Bürger aus den Elbvororten will mit seiner Familie in ein Restaurant gehen und parkt auf dem Gehweg, um nicht hundert Meter zu Fuß gehen zu müssen. Die AiA, die den Strafzettel ausschreibt, wird übel beschimpft, ob sie nichts besseres zu tun hätte, man parke wo man wolle, es sei unzumutbar, daß es nicht genug Parkplätze gebe. Und überhaupt solle sich die Polizei um die richtige Kriminalität kümmern. Das gleiche bekamen übrigens auch die Steuerfahnder zu hören, die diesen Bürger am Tag vorher aufgesucht hatten.

Steuergesetze und Verkehrsregeln sind nur Schikane von Bürokraten und Sozialisten. Sie behindern die Erfolgreichen, Dynamischen, die diese Gesellschaft nach vorn bringen. Graffitti-Sprayer, Sozialschnorrer, drogenabhängige Ladendiebe, die müßten ordentlich verfolgt werden. Und die Hafenstraße – ach schade, da ist es leider sehr ruhig in den letzten Jahren.

Was die Verkehrsregeln angeht, besteht übrigens Konsens zwischen allen Gruppen. Am anderen Rand heißen sie nur anders, da sind sie Ausdruck von kapitalistischer, umweltfeindlicher Auto-Mentalität, Ellbogengesellschaft in §§ gegossen. Oder so ähnlich. Und von dort aus sind natürlich alle Steuerzahler auch Steuersünder. Die müssen ganz scharf kontrolliert werden, weil sie alle betrügen und hinterziehen. Wer Sozialhilfe bezieht, darf natürlich nicht kontrolliert werden, denn diese Personen sind von Natur aus gut, edel und benachteiligt. Da darf der schnüffelnde Obrigkeitsstaat nicht nachsehen (nur zahlen).

Unser Staat funktioniert allerdings nicht so, daß sich jede(r) die Regeln aussucht, die eingehalten werden, und die anderen ignoriert. Jetzt kommt der Einwand, nicht jeder Verstoß wiege gleich schwer. Richtig. Aber wo ist die Grenze? Darf der mediterrane Gemüsehändler, der immer so nett und freundlich ist, seine Einkommensteuer – 5000,- DM – hinterziehen, der böse Immobilienmakler seine 50 000,- DM aber nicht? Darf der eilige Anwalt "ganz schnell mal" den Parkplatz für Rollstuhlfahrer eine halbe Stunde lang besetzen, die eilige Studentin auf dem Weg zum Kinderhort aber nicht bei "Rot" mit dem Fahrrad über die Kreuzung fahren?

Wenn jeder selbst entscheidet, welche Regeln sinnvoll sind und welche nicht, herrscht schlicht Anarchie. Gesetze, Regeln sind ein notwendiger Ordnungsfaktor in unserer Gesellschaft. Sie schützen die Schwachen vor den Starken. Und die Starken vor den Rücksichtslosen. Also jeden vor jedem. Im Ergebnis. Und deshalb gehört es einfach zu einer guten Erziehung, Regeln einzuhalten. Das fängt in der Familie an. Woran sollen Kinder sich orientieren, wenn nicht an den Eltern? Und wenn die ihnen vorleben, Regeln bewußt zu ignorieren, ist es nicht mehr weit bis zum Jugendrichter. Aber auch jede(r) Amtsträger(in), jede Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, hat diese Verpflichtung, Vorbild zu sein. Dabei geht es nicht um preußische Tugenden, Sturheit à la Hausmeister Krause, oder gar Kadavergehorsam.

Aber das Einhalten von Regeln ist auch Ausdruck der Einstellung eines Menschen zu seiner Umgebung. Fairness, Rücksichtnahme, Sportsgeist sollten eigentlich nicht unmodern sein. Oder habe ich etwas verschlafen? Zählen kurzfristige Erfolge, gleich welcher Art und auf wessen Kosten, heute schon so viel mehr? Ich versuche immer noch, meinen Kindern Rechtstreue vorzuleben. Ich blinke beim Spurwechsel. Ich fahre auf dem Fahrrad mit Helm, auch wenn meine Kinder nicht dabei sind. Bin ich deshalb altmodisch, ein Spießer? Ist es verkehrt, wenn ich nach einer Regelverletzung die dann die folgende Sanktion – vielleicht unter Protest, wozu ist man Anwalt? – akzeptiere?

In Art. 56 S. 1 GG, Art. 38 I HambVerf, § 58 I BBG, § 38 I DRiG finden sich verschiedene Amts- und Diensteide. In allen geht es auch darum, die Gesetze zu wahren/einzuhalten. Diese Verpflichtungen sind ernst zu nehmen. Aber warum bedarf es ihrer? Warum hält sich nicht jede der dort bezeichneten Persönlichkeiten von sich aus an die Regel von Herrn Kant, das eigene Verhalten so einzurichten, daß es jederzeit als allgemein gültiges Muster angesehen werden könnte? Der Mensch ist nun einmal nicht perfekt. Auch Gesetze sind es nicht. Punkt. Der richtige Weg aber ist, sie zu ändern, wenn sie für falsch gehalten werden. Auf demokratischem Weg, der sehr mühselig und frustrierend ist und nicht immer erfolgreich. Der falsche Weg jedenfalls ist es, für sich die Wahrheit zu vereinnahmen und die einzig richtige Erkenntnis, und sie dem jeweils anderen abzusprechen. Und sich nicht so zu verhalten, wie man selbst gern von anderen behandelt werden möchte. Niemand weiß, ob sie/er immer in der Gewinnerposition ist.

Rechtsbewußtsein beginnt in der Familie. Und setzt sich im alltäglichen Verhalten fort. Darüber sollten wir uns alle klar sein, jeden Tag. Und uns immer wieder daran erinnern. Wenn ein Strafzettel droht. Oder jemand uns auf das Rauchverbot in den Bahnhöfen anspricht. Oder wir vor der Frage stehen, uns so oder anders zu verhalten. Und vor allem, wenn die Öffentlichkeit uns im Blick hat, aus welchem Grund auch immer. Dann können Polizei und Staatsanwaltschaft, Zoll- und Steuerfahndung, Gerichte und Vollzugsbeamte sich endlich ganz auf die richtigen Kriminellen konzentrieren. Ganz entspannt und mit gutem Gewissen.

RA Hans Arno Petzold