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Zivilprozessreform
- Hamburger Forum 17. April 2000
Beobachtet von Günter Bertram

Das scheinbar so trockene Thema erregt die Gemüter ungemein. Nur damit lässt sich erklären, dass der Plenarsaal des Hanseatischen Oberlandesgerichts schon vor Beginn so überfüllt war wie die Vierländer Kirchen am Heiligen Abend – mit dem Unterschied freilich, dass der festliche Besuch dort zumeist einem subtilen Rechtfertigungszwang entspringt, indem er einer innerlich entlastenden Einstimmung auf die abendliche Bescherung dient, während es hier den Besuchern darum zu gehen schien, in letzter Minute die Bescherung gerade noch zu verhindern. ...

Auf dem Podium saßen ("Sie kommen!") als Repräsentantinnen der Reform die Bundesjustizministerin Frau Herta Däubler-Gmelin und, sie flankierend, Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit; als Veranstalter und Kritiker der anstehenden Novitäten die Rechtsanwälte Gerd Uecker, Volker Meinberg und (als Moderator) Axel C. Filges sowie schließlich – als Weltkinder inmitten – die Kollegen Jürgen Daniels (Hans.OLG) und Volker Öhlrich (LG).

Die Substanz des Reformprogramms kann (muss jedenfalls!) hier als bekannt vorausgesetzt werden; der 210 Seiten umfassende Referentenentwurf des Zivilprozessreformgesetzes lag am 17.04. zum Mitnehmen vor der Tür des Plenarsaals.

Das Wesentliche lässt sich z.B. in der Deutschen Richterzeitung nachlesen, so in DRiZ 1999, 289-293 ("Der Zivilprozess auf dem Prüfstand"), 1999, 426-428 (dort auch, 428 lk.: "DRB begrüßt die geplante Rechtsmittelreform"), Inhaltsmitteilung insbesondere 2000, 81-85 ("Ein Reformentwurf der Bundesjustizministerin", dort aber auch Seite 88: "DRB lehnt ZPO-Reformgesetz ab") und jetzt noch ein Nachsatz im Aprilheft 2000, 163 f. ("Naivität ohne Beispiel": gemünzt auf die – später zurückgenommene! – Vorstandszustimmung des DRB).

Von Anwaltsseite waren die Töne von Anbeginn unfreundlicher und rauher. Am 4./5. Februar z.B. auf dem Berliner Forum des Deutschen Anwaltsvereins "Justizreform – Zivilprozess" hatte die freilich selbst nicht allzu zart besaitete Ministerin sich wohl manche Unfreundlichkeiten anhören können (vgl. auch BRAK-Mitteilung 2000, 1 ff. und dann passim: "Reform gegen die Bürger" ...). In unseren Mitteilungen hat sich Herr RA Petzold wiederholt aus anwaltlicher Sicht zu Wort gemeldet (MHR Heft 4/1999 S. 28 ff., Heft 1/2000 S. 19 ff.).

Die Hamburger Diskussion verlief – nach der Schlussbewertung der Ministerin, die man insoweit gewiss als klassische Zeugin akzeptieren darf, sachlich, fair und vergleichsweise (!) harmonisch. Da der Anwaltsstandpunkt in den MHR, wie bemerkt, durch RA Petzold schon zu Gehör gebracht worden ist und die Reformargumente in der DRiZ eine faire Darstellung erfahren haben, können wir uns jetzt ohne Verstoß gegen Gleichheitsgrundsätze darauf beschränken, die Statements der beiden Richter abzudrucken, deren Elemente man natürlich auch in der inzwischen kaum noch überschaubaren Literatur einsammeln könnte, die aber doch, weil von Hamburger Kollegen aus hiesiger Sicht formuliert und vorgetragen, auch ein sozusagen ganz persönliches, kollegiales, lokales, eben Hamburger Interesse beanspruchen dürften.

Hier ihre Stellungnahmen:

Kai-Volker Öhlrich,
Auswirkungen des Reformentwurfs auf die erste Instanz
Vorbemerkung:

Ich halte den Entwurf in seiner Zielsetzung – Stärkung der ersten Instanz, Vermeidung überflüssiger Rechtsmittel und Öffnung der Revisionsinstanz unabhängig vom Streitwert – und in der Grundkonzeption für stimmig, obwohl insbesondere die Konzentration der Berufungs- und Beschwerdezuständigkeit beim Oberlandesgericht das Landgericht, dem ich angehöre, personalpolitisch hart treffen wird.

Klarzustellen ist in diesem Zusammenhang vorweg auch, dass der Stadtstaat Hamburg keine gravierenden gerichtsorganisatorischen Probleme bei der Umsetzung der im Entwurf vorgesehenen Rechtsmittelreform hätte, anders als manche Flächenstaaten, in denen insbesondere die Diskussion um Gerichtsstandorte eine erhebliche Rolle spielen wird.

Ein Weiteres vorweg:

Der vorliegende Gesetzesentwurf vermittelt – wenn auch in einer deutlich abgeschwächten Form gegenüber dem im vorigen Jahr vorgelegten Bericht zur Rechtsmittelreform in Zivilsachen – den Eindruck, nach jetziger Gesetzeslage sei die erste Instanz eine Art "Probelauf". Sorgfältig geführt werde der Rechtsstreit erst in der Berufungsinstanz. Aber mehr als 90 % der Verfahren des Amtsgerichts und über 80 % der Verfahren des Landgerichts werden dort - in erster Instanz! - rechtskräftig abgeschlossen. Dieses für die erste Instanz sehr positive Bild ändert sich nicht entscheidend dadurch, dass in einer Reihe von Verfahren der Streitwert die Berufungssumme nicht erreicht.

Unzutreffend ist im übrigen auch der vom Entwurf vermittelte Eindruck, die Verfahren dauerten insgesamt zu lange. 1998 betrug in Hamburg die durchschnittliche Verfahrensdauer beim Amtsgericht 4,8 und beim Landgericht 6,2 Monate; ähnliche Verfahrensdauern werden auch aus den anderen Bundesländern gemeldet. Dies ist ein im internationalen Durchschnitt sehr guter Wert.

Vorgesehene Änderungen für das
erstinstanzliche Verfahren:

Mit Ausnahme des obligatorischen Gütetermins (§§ 278 f. des Entwurfs) erscheinen die vorgesehenen Änderungen für das Verfahren erster Instanz auf den ersten Blick als nicht besonders gravierend. Es handelt sich im Wesentlichen um die Erweiterung der gerichtlichen Hinweis- und Protokollierungspflicht gem. § 139, die erweiterten Vorlage- und Augenscheinsmöglichkeiten gem. §§ 142, 144 und die Einführung des obligatorischen Einzelrichters für Streitwerte bis 60.000,-- DM gem. §§ 348 f. Bevor ich mich zu diesen Einzeländerungen äußere, erscheint es mir erforderlich, noch etwas zu den möglichen generellen Auswirkungen der Reform des Rechtsmittelzuges auf die Prozessführung erster Instanz zu sagen:

Die Einengung von Rechtsmittelmöglichkeiten hat – gleichsam reflexhaft – Auswirkungen auf die Prozessführung in der ersten Instanz. Dies zeigt uns z.B. ein Blick auf das Strafverfahren. Der Amtsrichter in Strafsachen, dessen Urteile in der Regel mit der Berufung angefochten werden, führt sein Verfahren fast ausnahmslos deutlich zügiger und in sehr viel geringerem Maß durch verfahrensbestimmende Anträge der Prozessbeteiligten determiniert als die in erster Instanz tätige Große Strafkammer, bei der nicht selten ein Großteil der Verfahrensaktivitäten in der Bescheidung von Anträgen besteht, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit den zur Verhandlung stehenden Tatvorwürfen stehen. Die Gefahr einer entsprechenden Verlagerung der Prozessaktivitäten auf Verfahrensfragen besteht auch für den Zivilprozess erster Instanz, wenn der Zugang zur Berufung – wie vorgesehen – eingeschränkt wird. Es liegt nahe, dass Prozessparteien, die befürchten müssen, mit materiellen Einwänden gegen die erstinstanzliche Entscheidung im Verfahren über die Annahme der Berufung nicht durchzudringen, versuchen werden, formale Fehler der ersten Instanz herbeizuführen, die dann den Zugang zur Berufung ermöglichen.

Eine Prozessrechtsreform, die das Ziel hat, die erste Instanz materiell zu stärken, sollte deswegen Vorschriften vermeiden, die – insbesondere vor dem Hintergrund des eingeschränkten Zugangs zur Berufung – die Gefahr einer formalen Aufblähung des erstinstanzlichen Verfahrens begründen und zudem geeignet sind, zusätzliche Fehlerquellen zu schaffen.

§ 139 des Entwurfs:

Die Neuregelung der materiellen Prozessleitungspflichten geht nicht wesentlich über den gegenwärtigen Rechtszustand, wie er insbesondere in den §§ 139 und 278 kodifiziert und im übrigen durch die höchstrichterliche Rechtsprechung entwickelt worden ist, hinaus.

Neu ist allerdings die in § 139 Abs. 2 des Entwurfs vorgesehene Regelung, nach der das Gericht auch auf einen Gesichtspunkt hinweisen muss, den es anders beurteilt als eine Partei. Abgesehen davon, dass sich der Zivilprozess damit der Amtsmaxime anzunähern beginnt, liegt in dieser Regelung auch eine potentielle Fehlerquelle in dem oben genannten Sinn, die z.B. dann eröffnet wird, wenn das Gericht nach Schluss der mündlichen Verhandlung seine vorläufigen Ansichten überdenkt und ändert. Konsequenterweise müsste es nun die mündliche Verhandlung wieder eröffnen, um die Parteien auf seine geänderte Rechtsansicht hinzuweisen. Letztlich ist diese Regelung unpraktikabel, weil sie nicht berücksichtigt, dass der richterliche Erkenntnisprozess auch nach Schluss der mündlichen Verhandlung noch fortschreiten kann.

Ein weiteres Fehlerpotential wird durch die in § 139 Abs. 4 Satz 1 des Entwurfs vorgesehene Regelung eröffnet, die in Zusammenhang mit der in § 279 Abs. 3 enthaltenen Protokollierungsregelung gesehen werden muss. Danach ist jeder Erörterungspunkt in das Protokoll aufzunehmen. Dies wird nicht nur zu einer gewaltigen Aufblähung der Verhandlungsprotokolle führen, sondern schafft Angriffsmöglichkeiten, wenn erörterte Punkte versehentlich nicht im Protokoll erscheinen. Ich halte die Regelung nicht für sachgerecht; die bestehenden Vorschriften reichen aus, weil in der Berufungsinstanz freibeweislich überprüft werden könnte, ob die entscheidungserheblichen Gesichtspunkte in verfahrensrechtlich einwandfreier Form mit den Parteien erörtert worden sind.

Abgesehen von diesen eher verfahrenstechnischen Anmerkungen ist zu der Neuregelung des § 139, die ein Kernstück des neuen, gestärkten erstinstanzlichen Verfahrens sein soll, folgendes anzumerken:

Ich halte es für rechtspolitisch richtig, deutlich größeres Gewicht auf die mündliche Verhandlung, insbesondere das Rechtsgespräch zwischen dem Gericht und den Parteien, zu legen. Dieses Ziel wird jedoch durch keine wie auch immer geartete verfahrensrechtliche Regelung zu erreichen sein, wenn nicht insbesondere die amtsrichterlichen Pensen in Zivilsachen ganz deutlich gesenkt werden. Für den Richter, der 750 bis 800 Fälle im Jahr zu erledigen hat, werden in aller Regel die schönsten Vorschriften über die Ausgestaltung des Rechtsgesprächs mit den Parteien leere Hülsen bleiben, wenn er nicht sehr rasch in Aktenbergen versinken will.

Der richtige Ansatz zur Stärkung der ersten Instanz liegt deswegen nach meiner Einschätzung in einer deutlichen Herabsetzung der pro Amtsrichter in Zivilsachen zu bearbeitenden Fallzahlen.

§ 348 f. des Entwurfs:

Ich will jetzt nicht darüber rechten, ob die Entscheidung durch die Kammer oder durch den Einzelrichter qualitativ besser ist und ob der Einzelrichter oder die Kammer bei den Parteien größere Akzeptanz findet; dies kann man sicherlich ganz unterschiedlich beurteilen. Zu warnen sind die Rechts- und insbesondere Fiskalpolitiker aber vor der Annahme, durch die vorgesehene Regelzuständigkeit des Einzelrichters könnten gewaltige Personalressourcen erschlossen werden. Dies wird – jedenfalls wenn man unser Gericht betrachtet – nicht der Fall sein. Wir haben hocheffiziente Spruchkörper, die nach dem Einzelrichterprinzip arbeiten, und hocheffiziente Spruchkörper, die nach dem Kollegialprinzip arbeiten; eine Gesetzmäßigkeit ist nicht erkennbar. Auch hier scheint es mehr von der Zusammensetzung des Spruchkörpers abzuhängen, in welcher Form der Selbstorganisation er optimal arbeitet.

Die vorgesehene Regelung ist unflexibel und mit der Anknüpfung der Einzelrichterzuständigkeit an den Streitwert von 60.000,-- DM nicht sachgerecht. Insoweit besteht ein Wertungswiderspruch mit den Ausführungen im Entwurf zum Revisionsverfahren (S. 81 ff. der Entwurfsbegründung), wo u.a. mit Recht darauf hingewiesen wird, die Höhe des Streitwerts sei kein sicheres Indiz für die Schwierigkeit einer Sache.

Da dies so ist, sollte eine Regelung über die Einzelrichterzuständigkeit – wenn sie denn rechtspolitisch unbedingt gewollt wird – dahin gehen, dass grundsätzlich der Einzelrichter zuständig ist und die Sache bei besonderer Schwierigkeit auf die Kammer übertragen werden kann.

§§ 278 f. des Entwurfs:

Die Regelung einer obligatorischen Güteverhandlung ist prozessual misslungen. Der Hinweis, die Arbeitsgerichte hätten mit der Güteverhandlung gute Erfahrungen gemacht, passt auf das Zivilverfahren nicht, weil der arbeitsgerichtliche Gütetermin die "Einzelrichtersitzung" des Arbeitsrichters (also ohne die Laienrichter!) ist. Eine solche Konstellation gibt es im Zivilverfahren bekanntlich nicht.

Abgesehen davon ist die in § 278 des Entwurfs vorgesehene prozessuale Ausgestaltung unpraktikabel; insbesondere ist nicht einzusehen, weswegen das Ruhen des Verfahrens anzuordnen ist, falls beide Parteien in der Güteverhandlung nicht erscheinen (§ 278 Abs. 4 des Entwurfs). Einen regelrechten prozessualen Sprengsatz legt der Entwurf jedoch mit der in § 279 vorgesehenen Regelung, nach der beim Scheitern des Gütetermins die mündliche Verhandlung unmittelbar anschließen soll. Dies würde für den Fall eines Haupttermins bedeuten, dass vorsorglich alle Zeugen und Sachverständigen für den Fall geladen werden müssten, dass der Gütetermin scheitert. Sie könnten zwar bei erfolgreichem Gütetermin frohgemut wieder nach Hause gehen, aber der Aufwand sowohl für das erkennende Gericht als auch für die Geschäftsstelle wäre erheblich.

Scherz beiseite: Die Verknüpfung eines Gütetermins mit unmittelbar anschließendem frühen ersten Termin oder Haupttermin ist prozessual widersinnig. Dem vom Entwurf angestrebten Ziel, die Zahl gütlicher Einigungen zu erhöhen, könnte nach meiner Einschätzung eher dadurch genügt werden, dass wir einen obligatorischen frühen ersten Termin einführen, in dem Klage und – abgesehen von VU- und Anerkenntnis- Situationen – Klage und Klagerwiderung vorliegen und in dem das Gericht mit den Parteivertretern und möglichst auch mit den Parteien persönlich den Streitstoff mit dem Ziel der Erledigung erörtert, oder in dem – falls die Erledigung scheitert – der weitere Prozess jedenfalls effektiv vorstrukturiert werden könnte.

Jürgen Daniels,
Zehn Thesen zur Reform des Zivilprozesses aus der Sicht eines Berufungsrichters

Der Ist-Zustand: Gegenüber der im Reformverfahren gelegentlich geäußerten grundsätzlichen Kritik am Zivilverfahren muss festgehalten werden: Der Zivilprozess bewältigt zur Zeit große Verfahrensmassen mit (durchschnittlich) kurzer Verfahrensdauer und mit hoher Akzeptanz, wie der sehr niedrige Prozentsatz an Berufungen vor allem gegen Urteile des Amtsgerichts zeigt.

Eine Reform ist gleichwohl dringend nötig. So muss z.B. der Tatsachenvortrag in zweiter Instanz begrenzt werden; die geltenden Verspätungsregeln sind unbrauchbar. Der Entwurf greift einzelne Punkte auf, lässt aber andere Reformchancen ungenutzt (Beispiel: Die viel zu niedrigen Beschwerdewerte bleiben erhalten). Im übrigen besteht auch auf anderen Gebieten des Zivilverfahrens Reformbedarf: Ich denke an die Beseitigung gerichtsorganisato-rischer Anachronismen wie z.B. die Trennung der Ebenen Richter/Geschäftsstelle.

Soweit die Ziele des Reformgesetzes allgemein formuliert werden, können sie bejaht werden:

Die Probleme liegen in den einzelnen Regelungsvorhaben.
  1. Zur ersten Instanz hat sich Herr Öhlrich schon geäußert. Die wichtigsten Punkte:
Die Neuregelung ersetzt viele flexible Regelungen durch starre Formalisierungen. Das wird auch auf das Berufungsverfahren durchschlagen: Dem Prozessbevollmächtigten bleibt als Berufungsgrund oft nur Streit um die Förmlichkeiten der Tatsachenfeststellung.
  1. Zum Berufungsverfahren: Die Absenkung der Wertgrenze auf 1.200,-- DM (§ 512 Abs. 1 ZPO-RG) ist eine rechtspolitische Entscheidung. Wenn man die Mehrbelastung will, muss jedenfalls das zusätzliche Personal zur Verfügung gestellt werden.
  2. Das neue Berufungs-Zulassungsverfahren für Bagatellfälle unter DM 1.200,-- (§ 512 Abs. 2 ZPO-RG) ist vor allem rechtstechnisch misslungen: Es verzögert den Rechtsstreit, weil es nach dem Urteil stattfindet. Dieser Verfahrensschritt muss in das Erkenntnisverfahren integriert werden (wie die heutige Revisionszulassung durch das OLG).
  3. Im Zentrum der Neuregelung steht das Annahmeverfahren (§ 522 ZPO-RG). Es ermöglicht dem Senat eine unkontrollierbare Belastungssteuerung. Es bewirkt einen beträchtlichen Akzeptanzverlust der Berufungsentscheidungen, schon weil es im Entscheidungsablauf (keine mündliche Verhandlung) und in der nur "kurzen" Beschlussbegründung für die Prozessparteien nicht hinreichend transparent (wohl aber teuer) ist. Im übrigen bedeutet das Annahmeverfahren bei korrekter Handhabung eine erhebliche Mehrbelastung, weil künftig alle Sachen durch den Senat beraten werden müssen, wohingegen nach geltendem Recht die Möglichkeit besteht, zunächst den Einzelrichter mit der Sache zu betrauen.
  4. Aus den dargestellten Änderungsvorhaben ergibt sich folgende Mehrbelastung für die Berufungsinstanz:
  5. Annähernde Verdoppelung der Eingangszahlen beim OLG wegen der Zuständigkeit für Berufungen gegen Urteile von AG und LG und für alle Beschwerden.
Vor diesem Hintergrund wird die Annahme des Gesetzgebers, durch die Reform könnten in der Berufungsinstanz Kräfte freigesetzt werden, nicht recht verständlich. Sie beruht auf der Erwartung, dass nur etwa 53 % der Berufungen vom Senat angenommen werden.
  1. Bei Streitwerten bis DM 60.000,-- entscheidet künftig auch in der Berufung immer der Einzelrichter (§ 526 ZPO-RG). Auch hier sehe ich die Gefahr eines Akzeptanzverlustes für die zweite Instanz. Nicht immer sehen zwei Augen soviel wie sechs. Zudem wollen die Parteien oft (und vor allem auf Spezialgebieten) die Senatsmeinung hören. Im Ergebnis dürfte die Beschränkung auf den Einzelrichter in beiden Instanzen eine erhebliche Rechtsschutzverkürzung darstellen.
  2. Die Bindung an die Tatsachenfeststellung der ersten Instanz (§§ 529 ff. ZPO-RG) zielt in die richtige Richtung. Die Arbeit der zweiten Instanz am Sachverhalt muss verringert werden. Die Neuregelung wird aber dazu führen, dass sich der Tatsachenvortrag in erster Instanz aufbläht, dass sich formale Fehler in die Tatsachenfeststellung einschleichen und dass falsche (aber formal richtig festgestellte) Sachverhalte in der Berufung nicht mehr korrigiert werden können. Das Schwergewicht des Streits verlagert sich auf Fragen der Formalien der Tatsachenfeststellung. Zudem wird die Zahl der Anwaltsregresse zunehmen. Die Regelung ist zu starr.
  3. Fazit:
Frau Däubler-Gmelin hatte bei Vorstellung ihrer Reform auf einen Modellversuch hingewiesen, der den Skeptikern vermutlich demnächst den Wind aus den Segeln nehmen werde. Ob ihr Optimismus begründet war, wird man nach der jetzt bei MHR-Redaktionsschluss noch druckfrischen Tagespresse bezweifeln können: Die angeregte Simulation hat offenbar in der ersten Maiwoche an der Justizakademie von NRW unter Beteiligung von Richtern und Anwälten stattgefunden, nach Auskunft des Landesjustizministers Dieckmann (der keiner anderen Partei als die Ministerin selbst angehört!) zahlreiche Einwände der Kritiker (wie sie auch hier von den beiden Hamburger Kollegen aufgezählt worden sind) erhärtet und auch ergeben, dass die Reform allein in NRW gut 19 Mio DM Mehrkosten verursachen würde (vgl. FAZ vom 15.05.2000: "SPD-Justizminister kritisiert Vorschläge Däubler-Gmelins" und "Simulationsverfahren"). Man wird allerdings einschränkend hinzusetzen müssen, dass die Aussagekraft ei Verfahren nicht mitgeteilt werden, in den Sternen steht. Immerhin sind es nicht die Kritiker gewesen, die das Experiment angestellt haben. ... Aber wie auch immer: einer bloßen Simulation, deren Technik und

Der Gesetzgeber (um aus sprachlogischen Gründen auch hier bei der maskulinen Form zu bleiben) wäre schlecht beraten, sich auf einen raschen Kraftakt zu kaprizieren. Denn was er vorhat, ist nicht weniger als eine Weichenstellung auf der komplizierten Gleisanlage des Zivilverfahrens, die dann nicht mehr von einer Legislaturperiode zur nächsten umgeworfen werden kann. Man wird also gut daran tun, die Debatte des Themas nicht einschlafen zu lassen und noch ein paarmal zum Disput zu blasen - vielleicht auch im Plenarsaal des HansOLG.

Günter Bertram