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XI. Brennt der Kamin?

Was noch zur Vollendung des Werkes fehlte, war der Innenausbau. Er verzögerte sich im Frühjahr 1911 durch einen Streik der Maler. Auch die Tischler traten in den Ausstand, und die Holzarbeiten im Plenarsaal und in der Bibliothek stockten. Ab August wurden die Tischler ausgesperrt, um eine Einigung über die Löhne im Holzgewerbe zu erzwingen. Erst Ende November war es möglich, die Tischlerarbeiten wieder aufzunehmen - nach einem Arbeitskampf von acht Monaten Dauer. Im Januar und Februar 1912 wurde im Plenarsaal das Parkett verlegt. Dieser Raum rief überhaupt das Entzücken der Öffentlichkeit hervor:

"Dieses Gemach verdient eine besondere Beachtung", schrieb der Hamburgische Korrespondent, "weil sein Innenausbau gerade das würdige Gepräge des Tempels deutlich veranschaulicht, der der Justitia geweiht ist. Durch toskanische Säulen, die eine kleine Vorhalle von dem Saale trennen, gelangt man in das Innere, und der Blick des Eintretenden fällt unwillkürlich auf das Motto Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden., das an der Längswand angebracht ist".

Nach weiteren Beschreibungen der Details wandte sich der innenarchitektonische Berichterstatter dem Prunkstück des Raumes zu: "In die rechte Wand ist ein breiter venetianischer Kamin aus dunklem Marmor hineingebaut. Über demselben ruht ein fast überlebensgroßer, majestätisch blickender Bronzelöwe in Basrelief, die eine Tatze auf das Gesetzbuch legend und mit der anderen Richtbeil und Bündelstäbe umfassend. Unter diesem ernsten Symbol erhebt sich auf dem Kamin das Wappenschild mit den vereinigten Wappen der drei Hansestädte, von plastischen Knabengestalten in Bronze gehalten. Ebensolche Kinderbildnisse mit Kränzen in den Händen schmücken erheiternd die Medaillonflächen der Wand." Diese ergreifende Beschreibung steht in krassem Gegensatz zu dem Mangel an Gefühl, mit dem heute dieser erhabene Saal benutzt wird - denken wir nur an schnöde Sparreden der Justizsenatoren anläßlich der Mitgliederversammlungen des Richtervereins in diesem Raum. Was uns heute noch bewegt, wird auch durch die damaligen Zeitungsberichte nicht beantwortet: Kann man den Kamin benutzen?

Senat und Bürgerschaft konnten das Gebäude am 22. März 1912 endlich besichtigen. Am 28. März, 11 Uhr, fand in der Halle die Einweihungsfeier statt - unter den Blicken der vier allegorischen Figuren in den Ecken der Halle: Gerechtigkeit, Klugheit, Weisheit und Milde. Auch Sievekings Büste aus weißem Marmor - von der Anwaltschaft anläßlich seines fünfundzwanzigjährigen Präsidentenjubiläums gestiftet - stand schon in ihrer Nische. Die gegenüberliegende Wandnische blieb zunächst leer. Die Presse berichtete eingehend über das Ereignis am jetzt "Sievekingplatz" genannten früheren Holstenplatz. Die deutsche und die hamburgische Flagge wehten am Sievekingplatz und auch das Rathaus flaggte. Die Halle des Oberlandesgerichtsgebäudes hatte man selbstverständlich mit Palmen und Lorbeer geschmückt. Bürgermeister Dr. Burchardt, Senatoren und Bürgerschaftsmitglieder waren erschienen, Vertreter der Städte Lübeck und Bremen, des Deutschen Reiches und natürlich Anwälte, Richter und Staatsanwälte. Übrigens waren sogar die Architekten Lundt & Kallmorgen eingeladen. Vermutlich befand sich unter den Gästen auch der seit 1909 amtierende Baudirektor Fritz Schumacher. Der Hamburgische Correspondent führt uns die Szene plastisch vor Augen:

Kurz nach 11 Uhr begab sich der Chef der Justizverwaltung, Senator Dr. Schäfer, zu dem inmitten grüner Blattpflanzen aufgestellten Rednerpult und hielt die Festansprache. Der Senator holte weit aus und berichtete über die lange Geschichte der Planung und des Baues, die wir nun gerade hinter uns gebracht haben. Schäfer wandte sich auch der Frage der Belastung der Richter zu. Seinem überzeugenden Plädoyer für die Arbeit werden sich die angesprochenen männlichen Kollegen auch heute in ihren überquellenden Aktenbergen nicht entziehen können (weibliche Richter, die Schäfer hätte einbeziehen können, gab es anno 1912 in Hamburg noch nicht) : "Lassen Sie uns, meine Herren, wenn wir die Frage beantworten sollen, ob unsere Richter zuviel oder zuwenig zu tun haben, nicht allzu ängstlich nach außen blicken. Daß derartige Vergleiche mit den Verhältnissen in anderen Staaten und Großstädten zu unseren Ungunsten, oder wie ich lieber sagen möchte, zu unseren Gunsten ausfallen müssen, wissen wir alle. Wir wissen, daß in Hamburg nicht nur im Richterberuf, sondern in allen Berufsarten, mit deren Berufspflichten eine Beschränkung auf eine bestimmte Arbeitszeit nicht vereinbar ist, viel gearbeitet wird. Dieses Bewußtsein soll uns nicht mit Bedauern und Neid, sondern mit Stolz und Freude erfüllen. Erfahrungsgemäß arbeiten diejenigen Gerichte am besten, die am meisten zu tun haben."

Wer könnte diesen Worten schon widersprechen? Aber es ist nicht nötig, sogleich die Ärmelschoner anzulegen, denn auch der Senator zeigte Einsehen mit den naturgegebenen Belastungsgrenzen auch der Hanseatischen Rechtsdiener: "Daß natürlich der Arbeitskraft und Arbeitsfähigkeit des Einzelnen auch bei uns Grenzen gesetzt sind, die nicht überschritten werden dürfen, wenn seine Arbeitsfreudigkeit nicht leiden soll, ist selbstverständlich. Lassen Sie uns darauf vertrauen, daß, wenn unter diesem Gesichtspunkt wiederum eine Vermehrung der Richter erforderlich wird, Senat und Bürgerschaft nicht zögern werden, diejenigen Mittel zur Verfügung zu stellen, deren Verwendung im Interesse der Rechtspflege notwendig ist." Senator Schäfer beherrschte, wie man sieht, die Kunst, mit vielen Worten nichts zu sagen und sich vor allem nicht festzulegen. In einem einzigen Satz so viele unbestimmte Begriff so kunstvoll zu verschränken und zwischen den argumentativen Klippen der natürlichen Arbeitskraft, der Arbeitsfähigkeit und der Arbeitsfreudigkeit hindurchzusteuern, ist schon beachtlich.

Vieles mehr erwähnte Dr. Schäfer: den juristischen Nachwuchs, die Stellung des Richters in der öffentlichen Meinung und die Notwendigkeit, den Dingen des Lebens nicht weltfremd gegenüberzustehen. Aber Schäfers Worte fanden schon damals nicht nur Zustimmung. Die "Neue Hamburger Zeitung" nahm seine Gedanken zur Einstellungspolitik unter die Lupe. Schäfer hatte seinen Standpunkt dahin umrissen , nur die Tüchtigkeit solle entscheiden. Das Blatt schrieb:

"Bravo! Aber doch auch die Tüchtigkeit des aufrechten Charakters? Wird diese Hauptsache durch Personalakten und Examina festgestellt? Senator Schäfers neue Maximen begegnen vielfachem Mißtrauen. Er irrt sich, wenn er dieses Mißtrauen lediglich auf das Mitleid mit durchgefallenen Kandidaten zurückführt oder auf die Enttäuschung derer, die vergebens auf Protektion gerechnet hatten. Man fürchtet, kurz gesagt, die in Hamburg verhaßte Bevorzugung streberhafter Muster-knaben, man fürchtet die Karrieremacher, die Zeugnisfexe, die Erfolgskreaturen, die mehr von Paragraphen verstehen als von der edlen und unabhängigen ars boni et aequi." Soweit die Presse 1912.

 
 
 
Abb. 34

Die Eröffnungsfeier diente zugleich der Einführung des neuen Oberlandesgerichtspräsidenten Dr. Brandis, dessen Vater drei Jahrzehnte lang als Mitglied des Oberappellationsgerichtes in Lübeck gearbeitet hatte. In seiner Ansprache zog Brandis dementsprechend Vergleiche zwischen dem "traulich kollegialen Dasein der 7 Mitglieder des O.A.G. im alten Patrizierhaus des damals stillen Lübeck" mit der "bewegten Unruhe der Großstadt Hamburg in ihrem gewaltigen Handels- und Seeverkehr" und mit einem Oberlandesgericht, an dem 36 planmäßige Richter und einige Hilfsrichter in 6 Senaten wirkten. Er erinnerte auch an die zweite Etage des Hauses an der Dammtorstraße und an das "stille Privathaus an der Welckerstraße". Brandis beklagte die Gesetzesflut, die "fast wie dichte Schneeflocken jahraus jahrein niederregne". Er rief dazu auf, nur von einer sorgfältig unbefangenen Sichtung der Tatsachen auszugehen und sich die Wege zum Recht nicht durch den Kampf der Wirtschaftsinteressen oder der sozialen und politischen Gegensätze verdunkeln zu lassen. Es war unverkennbar das 20. Jahrhundert, in dem er angelangt war.

Dritter Redner war der Vorsitzende der Anwaltskammer, Rechtsanwalt Dr. R. Stade. Er lobte die schönen Räume für die Sitzungen des Ehrengerichts und des Vorstandes, die man der Kammer im neuen Gebäude großzügig zur Verfügung gestellt hatte. Welch ein Kontrast zu den späteren Kemenaten der Anwaltskammer im Ziviljustizgebäude. Nach ihrer Vertreibung aus der Mitte des Geschehens am Sievekingplatz hat sie allerdings im neu errichteten Bleichhof ein edles Domizil gefunden.

Den schönen Reden folgte ein Rundgang durch alle Räume des neuen Hauses, die, wie die Zeitungen schrieben, "ihrer praktischen Anordnung und schönen Ausstattung wegen rückhaltlose Anerkennung fanden. Zur Stärkung nahm ein vermutlich engerer Kreis ein Frühstück im Hotel Atlantik. Abends um 7.30 Uhr fand im Kaisersaal des Rathauses ein Festmahl mit Tafelmusik statt. Das Ratssilber mit den feinsten Tafelaufsätzen wurde aufgeboten wie in alten hansischen Zeiten, und üppiger Blumenschmuck zierte die Tafel, wie die Gesellschaftsspalten berichteten (Flieder, Callablumen, Schneeball, Tulpen und andere Frühlingsblumen). Auch eine Rede wurde gehalten, vom Hausherrn Bürgermeister Dr. Burchard. Es soll hier nur deren Ende mitgeteilt werden:

"Das Hanseatische Oberlandesgericht, das seinem vornehmen Namen und seiner großen Tradition allezeit Ehre machen möge; im neuen Haus soll es blühen, wachsen und gedeihen! Das Hanseatische Oberlandesgericht es lebe hoch!" Der Hamburgische Correspondent vom 29. März 1912 teilte abschließend mit: Nach Aufhebung der Tafel weilten die Herren noch längere Zeit in zwanglosem Gespräch bei Kaffee und Zigarren in den Festräumen des Senats. Man sieht, das Oberlandesgerichtsgebäude wurde ausgiebig gefeiert.

Und Justitia? Unbeweglichen Gesichts und offenen Auges sahen sie nun zu dritt auf den leeren Sievekingplatz: die liebliche Göttin auf dem Strafjustizgebäude mit faltenreichem, bauschenden Kleid, prüfend auf ihre Waage blickend - ihre Schwester auf dem Ziviljustizgebäude in streng fallendem Gewand mit schlangenbedecktem Schulterkragen, das Schwert waagerecht haltend zum Zeichen des gefällten Urteils - und die jüngste, das Werk Arthur Bocks auf dem Oberlandesgerichtsgebäude. Gemeißelt aus Muschelkalk erreicht sie sitzend eine Höhe vom 3,50 m. Sie stützt ihre Arme auf Schwert und Liktorenbündel und ist sicher nicht die anmutigste der drei - sie ist ein wenig streng geraten. Ob ihr entrückter Blick nur den Sievekingplatz erfaßt oder auch bis hin zum Rathaus schweift, wo heute mit den Herren manchmal auch einige Damen tafeln - wer weiß. Rätselhaft wie diese Frage ist auch die Bedeutung der die Justitia begleitenden Sphinxe. Selten werden am Sievekingplatz Wanderer zerrissen, die die gestellten Rätsel nicht lösen können . . .

 
 
Abb. 35

Auf dem leeren Raum zwischen den Gebäuden entstand bald ein harmonischer Platz. Im Mai 1913 stellte man die Brunnenanlage mit den Figuren Arthur Bocks fertig. Zwei Figurengruppen bildeten den Hintergrund für ein großzügiges Wasserbecken, das durch eine Fontäne belebt wurde. Auf der rechten Seite des Beckens standen drei Frauenplastiken als Symbol der Hansestädte, deren oberstes Gericht sie nun schmückten. Auf der linken Seite befanden sich drei männliche Gestalten, die Verkörperung von Handel, Technik und Industrie (Die Figuren stehen heute versteckt im Gebüsch am Zaun des Parkgeländes) . Den vorderen Teil des Wasserbeckens zierten zwei Kindergruppen, die eine Streit, die andere Frieden darstellend.

Und so war endlich der Sievekingplatz entstanden.

 

Die Abbildungen stammen - soweit nichts anderes gesagt wird - aus den Beständen des Staatsarchives und wurden mit dessen freundlicher Genehmigung abgedruckt.

Folgende Abbildungen stammen aus anderen Quellen:

Abb. 2-4 aus: Jacobj, Geschichtes des Hamburger Niedergerichts, Hamburg 1866

Abb. 5 und 10 aus: Hamburg, Historisch-Topographische und baugeschichtliche Mittheilungen (Architectonische Vereine), Hamburg 1868

Abb. 29 aus: Festschrift Hanseatisches Oberlandesgericht, Hamburg 1939

Abb. 33 und 34: Landesbildstelle

Abb. 35 Grußkarte, herausgegeben von der Firma Foto Tiedjen, Feldstraße