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Das Gebäude des Hanseatischen Oberlandesgerichts am Sievekingplatz zu betreten, heißt, in eine andere Welt zu tauchen. Schon beim Eintreten umfängt den Besucher eine Stille, die merklich mit dem lauten Verkehrslärm und der Geschäftigkeit des Sievekingplatzes kontrastiert. Eine beeindruckend hohe und weite Treppenhalle, überwölbt von einer blaugestirnten Kuppel, erfüllt im Inneren, was das antikisierende Äußere an Erhabenheit verspricht. Welchen Eindruck dies auf den Besucher macht, hängt davon ab, in welcher Funktion er das Gebäude betritt. Studenten und Referendare werden das Bedrückende und Überwältigende noch ebenso aufnehmen wie es der rechtsuchende Bürger tun wird, der die heiligen Hallen nur gelegentlich betritt. Als Richter, Staatsanwalt oder Rechtsanwalt ist man eher geneigt, das Außergewöhnliche des Anblicks zu würdigen und hierüber eine - vielleicht etwas belustigte - ästhetische Freude zu empfinden. Nichts wird spüren, wer täglich ein und ausgeht und nicht wie Axel Svensson, der frühere Geschäftsleiter des Gerichtes, 40 Jahre lang seinen Photographenblick über die Details schweifen läßt. Welche Fülle an optischen Leckerbissen das Gebäude bietet, zeigen seine Photographien, die seit Oktober 1987 im Ziviljustizgebäude ausgestellt sind.
Das Gewaltige findet gleich hinter Halle und Treppenhaus ein Ende. Der weitere Weg wird von üblichen Dimensionen und menschlichen Maßen bestimmt. Die Flure und Räume sind - abgesehen vom Plenarsaal, der Bibliothek und den Sitzungssälen - von außergewöhnlicher Schlichtheit, die angesichts des Entrees verblüfft.
Der einleitende Theaterdonner war von den Bauherren beabsichtigt. Die gestellte Aufgabe lautete dahin, den beiden bereits fertiggestellten Justizgebäuden am Holstenplatz als drittes ein Gebäude gegenüberzustellen, das angesichts der Bedeutung des hierin anzusiedelnden Gerichtes dem Straf- und Ziviljustizgebäude nicht nur in Nichts nachstehen durfte, sondern diese noch übertrumpfen sollte. Und so lag es auf der Hand, das Äußere durch die gewaltige Kuppel und die stämmigen Bollwerke der Ecken aufzublähen und dadurch zu überspielen, daß es im Vergleich zu den beiden älteren Gebäuden nur die Hälfte der Fläche bedeckt und ein Stockwerk weniger aufweist. Dieses Ziel ist erreicht worden. Man ist beeindruckt.
Über den haarsträubenden Stilbruch, den beiden Neorenaissance-Bauten ein zu seiner Zeit auch schon überlebtes neo-klassizistisches Bauwerk an die Seite zu stellen, mag man denken wie man will. Diese architektonische Untat illustriert auf das Schönste die wilhelminische Prachtsucht mit ihrer architektonischen Verwirrung zu Beginn eines Jahrhunderts, das seinen Stil noch nicht gefunden hatte. So spiegeln sie den Zeitgeist, unsere Justizbauten, und dies nicht nur im architektonischen Bereich: Unverkennbar zeigt sich in den Justizgebäuden, die am Anfang des Jahrhunderts errichtet wurden, das Bemühen, dem Macht- und Ordnungsanspruch des Staates gerade auch in der Gestaltung von Gerichtsgebäuden Ausdruck zu geben.
Noch 1788 herrschte eine dem Menschen und nicht so sehr dem Prinzip verpflichtete Anschauung vor, wie sich aus den Sätzen eines Anonymus in der in Leipzig erschienenen "Untersuchung über den Charakter der Gebäude, über die Verbindung der Baukunst mit den schönen Künsten und über die Wirkungen, welche durch dieselben hervorgerufen werden sollen" ablesen läßt. Es heißt dort:
"Die Gerichtsgebäude erinnern uns an die Weisheit und Gerechtigkeit der gesetzgebenden Macht. Aus der Bestimmung des Gebäudes selbst, die eigentlich ein abstrakter Begriff ist, läßt sich ... der Hauptgedanke, den das Gebäude erfüllen soll, nicht unmittelbar herleiten. Man muß vielmehr auf die Wirkung zurückgehen, welche die Vorstellung der Gerechtigkeit in uns zurückläßt, und so wie diese, muß auch das Rathaus, wo sie ihren Sitz aufgeschlagen hat, uns mit ruhiger Bewunderung und stiller Ehrfurcht erfüllen. Anstatt des Erstaunens aber, womit oft die Wirkung des Erhabenen ihren Anfang nimmt, kann man den Charakter des Gerichtsgebäudes ein wenig erheitern, und der Gerechtigkeit die drohende Miene entziehen, ohne ihr jedoch den stillen Ernst zu nehmen.
"Der Gerechtigkeit die drohende Miene" zu entziehen, war ganz offensichtlich nicht das Bestreben der Erbauer unseres Oberlandesgerichtsgebäudes. Um so mehr muß diese Arbeit täglich in seinem Inneren geleistet werden.
Doch verfolgen wir die Errichtung dieses Tempels der Gerechtigkeit der Reihe nach:
Nach dem endgültigen Abrücken der Franzosen war das Obergericht am 8. März 1815 wieder eingesetzt worden. Es bestand aus elf Senatoren, fünf rechtsgelehrten und fünf kaufmännischen Richtern sowie einem rechtsgelehrten Bürgermeister als Präsidenten. Bei "Criminalsachen" wirkte der gesamte Rat mit; in Zivilsachen genügte zur Beschlußfähigkeit auch schon die Anwesenheit von sieben Senatoren. Später wurde die Zuständigkeit des Obergerichts auf die zweite Instanz beschränkt und die mit dem Niedergericht konkurrierenden Zuständigkeiten fielen fort. Sitz dieses Gerichtes war entsprechend seiner Besetzung das Rathaus, nach dem großen Brand vom Mai 1842 mithin das Waisenhaus an der Admiralitätsstraße.
Dritte Instanz für Hamburger Rechtsstreitigkeiten waren bis zur Auflösung des Deutschen Reiches 1806 wahlweise das Reichskammergericht in Wetzlar oder der Reichshofrat in Wien gewesen (mit Ausnahme der Handelssachen, für die Hamburg das "Privilegium de non appellando" besaß). In Hamburg schätzte man diese Wege nicht. Sie entsprachen nicht dem Bedürfnis einer Kaufmannsstadt nach rascher Gewißheit über die Rechtslage. Schon zum Ende des 18. Jahrhunderts hatte Johann Michael Gries vorgeschlagen, ehrbare Kaufleute möchten diese Gerichte nicht anrufen. Schon 1806, nach formeller Auflösung des Deutschen Reiches setzten die Überlegungen ein, was an die Stelle jener Reichsgerichte gesetzt werden könne. Es entstand der Gedanke eines gemeinsamen hanseatischen Tribunals. Natürlich gründete man eine Kommission. Die Idee selbst ging vom Bremer Senat aus, der zunächst Lübeck gewann. Nach langem Zögern Hamburgs einigten sich die vier Freien Städte Bremen, Hamburg, Lübeck und Frankfurt und unterzeichneten am 30. Juli 1819 den Vertrag über die Errichtung des Oberappellationsgerichtes in Lübeck. Erster Präsident wurde Georg Arnold Heise, den wir bereits im Zusammenhang mit seiner Porträtstatue über dem Portal des Ziviljustizgebäudes kennen. Am 13. November 1820 feierten die Vertreter der vier Städte die Eröffnung. Dies geschah noch im Haus Schlüsselbuden Nr. 221 in Lübeck; später verlegte das Gericht seinen Sitz in die Königsstraße.
Das Obergericht und das Oberappellationsgericht wurden 1879 durch die Inkraftsetzung der Reichsjustizgesetze aufgelöst. An ihre Stelle trat das Hanseatische Oberlandesgericht für die früheren Hansestädte Lübeck, Hamburg und Bremen, das seine Geschäfte am 1. Oktober 1879 aufnahm. Mit großem Pomp wurde einen Tag zuvor die feierliche Einsetzung des Gerichtes begangen. Ort des Geschehens war die neu erbaute Kunsthalle. Den Ablauf des Festes einschließlich der Speisenfolge hat unser verstorbener Kollege Lutz Jasper in seiner Festschrift zum 100jährigen Bestehen des Hanseatischen Oberlandesgerichtes bereits anschaulich dargestellt.
Bürgermeister Weber skizzierte im Rahmen dieser Feier die Aufgaben der am Prozeß beteiligten Juristen. Den Staatsanwälten erklärte er: "Ich wünsche, daß Sie stets leidenschaftslos, ohne Verfolgungssucht, sachlich vorgehen, in ihren Vorträgen die Phrase meiden, nach Wahrheit trachten und dem Angeklagten selbst Verteidiger werden, wenn im Laufe der Verhandlung zu besorgen sein sollte, daß ihm durch eine Verurteilung Leid könnte zugefügt werden." Hinsichtlich der Anwälte äußerte er die Überzeugung, "daß Sie mit Geschick die ... Gefahr einer Verschleppung der Prozesse zu vermeiden wissen und stets eingedenk bleiben werden, daß Sie mit den Richtern im Interesse der durch Sie vertretenen Parteien nach prompter Justizpflege zu streben und ein raschmöglichstes Endresultat des Rechtsstreits zu etablieren haben." Den Richtern des Hanseatischen Oberlandesgerichts gab er den Wunsch mit auf den Weg, "es möge Ihnen gelingen, von Beginn an das Oberlandesgericht zu einem Gerichtshof ersten Ranges zu heben, damit seine Entscheidungen, ausgezeichnet durch Gründlichkeit, wissenschaftliche Erkenntnis sowie durch feine und praktische Auffassung konkreter Rechtsverhältnisse, weit über die Städte hinaus auf die deutsche Rechtsprechung fördernd einwirken und dauernden Wert behalten."
Die konkreten Rechtsverhältnisse draußen vor der Tür waren in jenen Jahren nicht immer leicht aufzufassen für die Söhne der Hamburger Oberschicht, aus der sich zum großen Teil die Richterschaft zusammensetzte. Die Lebensumstände, unter denen viele Hamburger lebten, die nicht den bürgerlichen Bevölkerungsschichten angehörten, lagen weit außerhalb des Vorstellungsvermögens vieler Juristen. Die romantischen Zeichnungen, die Ebba Testorpf in den achtziger und neunziger Jahren anfertigte und deren Motive Straßenzüge wie das Gängeviertel waren, lassen wenig spüren vom Elend der dort Lebenden. Experten, die der Senat zu Studienzwecken nach England geschickt hatte, kehrten mit der Erkenntnis zurück, daß die berüchtigten Londoner Slums menschenwürdigeres Wohnen ermöglichten als die Hamburger Wohnhöfe. Robert Koch, der Entdecker des Cholera-Erregers faßte seine Eindrücke so zusammen: "Ich habe noch nie solche ungesunden Wohnungen, Pesthöhlen und Brutstätten für jeden Ansteckungskeim angetroffen wie in den sogenannten Gängevierteln, die man mir gezeigt hat ... Ich vergesse, daß ich in Europa bin." Aus den Wasserleitungen - sofern sie überhaupt vorhanden waren - kam ungereinigtes Elbwasser, manchmal auch Tiere, z.B. Aale. Der 1891 gefaßte Beschluß, ein Filtrierwerk zu bauen, kam zu spät: 1892 brach eine Choleraepidemie aus. Sie forderte 8605 Tote. Die Zahl der Erkrankten belief sich auf 17.000. Bei vielen von ihnen handelte es sich um Menschen, deren Gesundheit ohnehin durch Krankheiten, wie die weit verbreitete Tuberkulose, durch Unterernährung und Überarbeitung geschwächt war. Auch Alkoholismus und Prostitution wurden zu immer erdrückenderen Problemen. Robert Kochs Worte kann man ohne weiteres auch auf die sozialen Umstände münzen. Wie weit aber auch immer die Einsicht der Besitzenden in ihre soziale Verantwortung ging - so schreibt Jochmann - sie waren in der Mehrheit davon überzeugt, daß Armut und Not selbstverschuldete Übel seien. Daher gehörte das Armenwesen in Hamburg lange Zeit in der Zuständigkeitsbereich der Polizei.