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III. Vom Ratskeller zum Waisenhaus

Allen mittelalterlichen und überflüssigen Zierrates entkleidet, ging die Hamburger Justiz gut gerüstet in die neue Zeit. Diese Zeit war unruhig, auch in Hamburg. Bedrückende soziale Verhältnisse und Zorn über die politische Ohnmacht führten neben anderen Ursachen zu Aufständen und Unruhen. 1791 kam es zu einem schweren Handwerkeraufstand, an dem sich Gesellen fast aller Ämter (Zünfte) beteiligten. Heftige Zusammenstöße zwischen den streikenden Handwerksgesellen und den Ordnungskräften hatten mehrere Tote und zahlreiche Verletzte zur Folge.

Fälle wie der der Susanna Margaretha Brandt in Frankfurt, Goethes Vorlage für die Gretchengestalt, beschäftigten auch Hamburger Gerichte. Die Zahl der Kindestötungen war erschreckend. Zeitweise wurde, um ledigen Müttern einen Ausweg zu eröffnen, eine Kindslade eingerichtet: eine Holzlade, in die heimlich geborene Kinder des Nachts gelegt werden konnten. Die Lade wurde so häufig benutzt, daß sie nach einiger Zeit abgeschafft wurde. Die Justiz versprach sich bessere Erfolge durch Abschreckung: 1783 wurde bei der Geburt eines Kindes "im geheimen Gemach, das todt gefunden wurde, aber vermutlich gelebt hatte" durch das Niedergericht auf Staupenschlag, Brandmark und 25 Jahre Spinnhaus (Zuchthaus) erkannt. Susanne Margarethe Brandt starb in Frankfurt auf dem Schafott.

Die Tortur gehörte auch in Hamburg weiterhin zum Verfahrenskatalog, wenngleich sie hier offenbar zurückhaltender gehandhabt wurde als anderorts. Ihre Anwendung ist noch für einzelne Fälle in den Jahren 1772 (Kindsmörderin Schmaljohanns), 1774 (Ulrich), 1787 (Ehegattenmörderin Maria Catharina Wächter) überliefert. Der letzte Fall ereignete sich 1788 (Petersen). Ort des Schreckens war die Frohnerey , Auf dem Berg Nr. 8 gelegen, in der sich die Marterkammer befand. Vor der Frohnerey stand der Pranger (Kaak), der 1744 aus Stein errichtet worden war. Das Museum für Hamburgische Geschichte präsentiert einige Gegenstände aus diesem Umfeld.

Das 19. Jahrhundert brachte ungeheure Veränderungen über die Stadt. In deren Verlauf wurde nicht nur das Stadtbild völlig verwandelt, auch die politischen und rechtlichen Strukturen der Stadt erfuhren eine vollkommene Umwälzung. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts legten zwei Ereignisse die Grundlage dafür: Die Besetzung der Stadt durch französische Truppen und der große Brand von 1842. Beide Ereignisse bereiteten der gewachsenen, eigenständigen inneren Ordnung Hamburgs ein jähes Ende. Am 9. November 1806 besetzten Napoleons Truppen unter General Mortier die Stadt. Der Kaiser verfügte die Vereinigung der Hansestädte mit dem französischen Reich zum 10. Dezember 1810.

Für die Départments Ems-Weser-Elbe richtete Frankreich in Hamburg ein Obergericht ein, den Cour Impériale. Erster Präsident wurde Pierre François Hercule de Serre (1776-1824), der es im weiteren Verlauf seiner Karriere zum französischen Justizminister brachte. Am 20. August 1811 wurde das Gericht eröffnet. Es verstand sich von selbst, daß kein Hamburger Patriot dies feierte. Mit diesem Datum traten förmlich alle früheren Einrichtungen und Rechtsvorschriften außer Kraft; französisches Recht und französische Gerichtsorganisation ersetzten sie. Neben dem Cour Impériale und neun Friedensgerichten wurde ein Tribunal erster Instanz errichtet, das in etwa die niedergerichtlichen Aufgaben zu erfüllen hatte. Bis zur Einrichtung des Handelsgerichtes am 11. Februar 1813 gehörten auch die Handelssachen zur Zuständigkeit des Tribunals. Sein Sitz war das Rathaus, das auch zur Lottoziehung und zum Losen der Conscribierten benutzt wurde. Aber auch in Paris stand nun ein Hamburger Gerichtsgebäude: Der Cassationshof am Ufer der Seine war nun formal das zuständige Revisionsgericht.

Der Cour Impériale und später auch das Handelsgericht fanden ihr Domizil im Eimbeckschen Haus in der Kleinen Johannisstraße zwischen Schauenburger Straße und Dornbusch. Wir sind dem Gebäude bereits in seiner mittelalterlichen Gestalt als Rathaus des 13. Jahrhunderts begegnet. Das alte Gebäude - lebhaft als Ratskeller, zu Amtshandlungen, Tafeleien mit auswärtigen Gästen und anderen Geselligkeiten genutzt - war 1769 abgebrochen und 1770 durch einen Neubau in schönen Proportionen ersetzt worden (Abb. 12).

Am 16. Oktober 1770 hatte man feierlich das Stadtwappen befestigt und das Gebäude am 21. Dezember durch Aufstellung des großen Bacchus seiner Bestimmung gemäß geschmückt. Er war ein Werk des schwedische Bildhauers Manstadt. Wir können es noch heute im Eingang des Ratsweinkellers, in dem der alljährliche Bierabend des Landgerichts Hamburg stattfindet, würdigen. Auch das neue Eimbecksche Haus diente als Ratskeller und hielt Gesellschaftsräume bereit. Hier richtete Präsident de Serre 1811 sein Gericht ein.

 
Abb. 12: Das Eimbeck'sche Haus in Hamburg

Ein weiteres bemerkenswertes "Bauwerk" der Franzosenzeit war die Guillotine. Sie wurde publikumswirksam auf dem Pferdemarkt errichtet. Dieser Platz lag etwa an der Stelle des heutigen Gerhart-Hauptmann-Platzes.

Auch wenn Aspekte des französischen Rechts in Hamburg Anklang gefunden haben sollten, kam gleichwohl nach dem Abrücken der Franzosen aus politischen und psychologischen Gründen dessen Beibehaltung nicht in Betracht. Dazu hatten die Franzosen zuviel Leid über die Bevölkerung gebracht. Hamburg restaurierte. Es fanden zwar lebhafte Diskussionen statt, auch über die Zukunft der Justiz, sie mündeten allerdings zunächst lediglich in eine zaghafte Gerichtsreform, die im Dezember 1815 beschlossen wurde. Bis dahin hatte de facto eine Gerichtsvakanz bestanden. Erst am 21. Februar 1816 beging man die Einsetzung des Niedergerichts. Nach Ablegung des Eides vor dem versammelten Senat begab man sich in das Gebäude des Niedergerichts - wieder das Eimbecksche Haus.

Über die Zustände in diesem Amtsgebäude führte das Niedergericht in den folgenden Jahren ständig Klage. Die zahlreichen Einrichtungen, die das Haus zu beherbergen hatte, beschrieb der Topograph Neddermeyer im Jahre 1832:

<Jetzt sind hier die Locale des Niedergerichts, nämlich der Audienzsaal, die Audienz- und Commissions-Zimmer, die Registratur und die Cancellei; in dem ersten Saale werden die Grundstücke versteigert und die Deputation der Sparkasse hält darin seit 1827 ihre Sitzungen. Ferner sind in diesem Gebäude: Das Haupt-Accise-Comptoir, das Zoll-Comptoir, das Versammlungszimmer der Zolldeputation; dann die Locale des Handelsgerichts: der Audienzsaal, das Commissionszimmer, die Cancellei, das Actuariat des Fallitwesens; ferner das Actuariat des Zehnten Amtes, der Lotteriesaal, das Bewaffnungsbureau und das Montirungs-Magazin.> Das Niedergericht litt unter der Enge seiner Räume und äußerte Sorge über die Feuergefährlichkeit des Gebäudes. In einer Eingabe aus dem Jahre 1831 heißt es: <Die niedergerichtliche Kanzlei ist nicht nur durch die Geschäfte des Gerichts, dem sie eigentlich angehört, sehr occupirt, sondern es drängen sich daselbst noch verschiedene andere Arbeiten zusammen, indem sie namentlich mit Expeditionen für die Präturen und in Ansehung der Häuser- und Schiffsverkäufe belastet ist. Dadurch wird nun ein großer Zusammenschluß von Menschen in ihrem Lokale unvermeidlich, das dem unerachtet nur in einem einzigen, nicht mehr geräumigen Zimmer besteht. Richter und Actuare, Advocaten und Procuratoren, Schreiber, Makler, Parteien, Zeugen, Vorgeladene zu den Commissionen und Beeidigungen füllen den beschränkten Raum auf eine beängstigende Weise und unterbrechen fortwährend, indem sie entweder fragen, bestellen, erinnern oder sich für das langweilige Warten durch einige Unterhaltung entschädigen wollen, die Ruhe, welche zur gehörigen Betreibung der Kanzlei-Arbeiten erforderlich wäre.> Wie wahr. Das Gericht erreichte mit dieser Eingabe, die auch auf die Gesundheitsgefahren angesichts der Cholera verwies, eine kleine bauliche Erweiterung, die jedoch keine wesentliche Linderung brachte. Erst 1840 wurde eine Vergrößerung bewilligt und 1841 in Form eines Anbaues fertiggestellt.

Diese Erleichterung währte nicht lange. Um 1 Uhr in der Nacht zum 5. Mai 1842 brach in der Deichstraße ein Feuer aus. Zunächst hielten es Betroffene und Obrigkeit für einen gewöhnlichen Speicherbrand, wie er angesichts der Lagerung von Teer und anderen leicht brennbaren Materialien häufiger vorkam. Ein Zusammentreffen unglücklicher Umstände ließ das Feuer jedoch rasch um sich greifen. Es breitete sich in Richtung Alster aus. Nach langem Zögern, als schon der Turm der Nikolaikirche brannte, genehmigte der Senat Sprengungen. Ihnen fielen auch das das Rathaus und das alte Niedergerichtsgebäude zum Opfer. Der Einsatz blieb ohne Erfolg. Ein starker Südwind trieb das Feuer immer weiter durch die Stadt. Große Teile des Stadtarchivs und der Urkunden des Niedergerichts verbrannten. Einige Richter transportierten den geretteten Teil des niedergerichtlichen Archivs zunächst in die Kleine Theaterstraße in das Haus des ältesten Richters. Als die Flammen näherrückten, brachte man den wichtigsten Teil nach St. Georg und schließlich nach Altona. Das Feuer wütete 79 Stunden. Erst am 8. Mai fand der Brand am nordöstlichen Wallring ein Ende. Er hatte den wertvollsten Teil der alten Stadt vernichtet.

Syndikus Sieveking konstatierte: "Das alte Hamburg liegt in Asche." Loose stellt in der Geschichte Hamburgs und seiner Bewohner fest, im europäischen Raum sei ein vergleichbares Maß an Zerstörung nur durch das große Feuer von London im Jahre 1666 verursacht worden. Friedrich Hebbel schließlich schrieb 1846 in sein Tagebuch: "....und bei dem nüchternen Tageslicht besah man sich mit Schauder und Entsetzen den Leichnam einer Stadt".

Es war nicht nur die Vernichtung der Bauwerke, der Archive, der Kunstwerke - das Gemeinwesen Hamburg brach zusammen wie ein Kartenhaus. Die Katastrophe offenbarte, daß die Stadt eine völlig veraltete, unfähige und schwerfällige Verwaltungsstruktur hatte und den Verantwortlichen die fachliche Kompetenz fehlte. Zu lange hatte man das Alte über die Zeit gerettet.

Auch den Sitz des Niedergerichtes, das alte Eimbecksche Haus hatten die Flammen vernichtet. Das neue Waisenhaus in der Admiralitätsstraße wurde vom 2. September 1842 an Sitz des Niedergerichts. Bis dahin war das Niedergericht vorübergehend im Haus des früheren Richters Bartels auf dem Neuen Wandrahm untergebracht worden. Bartels hatte der Stadt unentgeltlich drei Zimmer seines Hauses zur Verfügung gestellt. Ebba Tesdorpf hat diese Straße mit großzügigen Bürgerhäusern in Zeichnungen festgehalten, bevor sie der Speicherstadt geopfert wurde.

Nicht nur das Niedergericht fand Aufnahme im neuen Waisenhaus, auch das Rathaus und ein großer Teil der Behörden und öffentlichen Einrichtungen erhielten dort Räume. Hierzu gehörten das Obergericht (immer noch der Rat) und das Handelsgericht. Das Gebäude hatte schon seine Geschichte. Im Jahre 1770 war im freien südwestlichen Teil der Bauplätze an der Admiralitätsstraße der Bau eines Waisenhauses bewilligt worden. Die Arbeiten begannen 1781 und wurden 1785 vollendet. Am 14. Juli 1785 feierte man die Einweihung. Der Topograph Gaedechens beschreibt das Bauwerk:

<Es hatte eine Länge von 235 und eine Tiefe von 52 Fuß und zwei 60 Fuß lange und 52 Fuß breite Flügel. Im Mittelgebäude befand sich eine geräumige helle Kirche mit Emporen. Ein Thurm ragte 75 Fuß über das Dach empor. Zu beiden Seiten des Gebäudes blieben geräumige Gärten.> Hier die Vorderfront des Hauses (Abb. 13):  
 
Abb. 13: Die Vorderfront des Waisenhauses
in der Admiralitätstraße (1842)

In diesem Gebäude blieb das Niedergericht bis zur Errichtung der Bauten am Sievekingplatz, für den Bereich des Zivilverfahrens ein Provisorium von 61 Jahren.