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II. Meister Bertrams Leuchter

Die bisherigen Betrachtungen galten dem Gebäude des Niedergerichts, also grob gesagt, dem Gebäude der ersten Instanz. Gegen seine Entscheidungen konnte im Wege der Appellation der Rat als Obergericht angerufen werden. Das Obergericht hatte auch erstinstanzliche Kompetenz. Es tagte im Rathaus auch dies ist also ein Gerichtsgebäude im Sinne unserer Betrachtung. Es soll zunächst bis ins 18. Jahrhundert beschrieben werden, in dem es, wie auch das Niedergerichtsgebäude, grundlegend erneuert wurde.

 
 
Abb. 7: Seitenansicht des Rathauses im 13. Jahrhundert (Aquarell, um 1769)

Nach dem Zusammenschluß der bischöflichen Altstadt um den Domplatz, der früheren Stätte der Hammaburg, die nach jüngsten Grabungen schon seit dem 7./8. Jahrhundert befestigt war, und der gräflichen Neustadt um den Hopfenmarkt und die Nikolaikirche zu Beginn des 13. Jahrhunderts benötigte man nicht nur die schon erwähnte gemeinsame Gerichtsstätte, sondern auch ein gemeinsames Rathaus. Es entstand am DORNBUSCH, an der Ecke zur Kleinen Johannisstraße. Von diesem Rathaus, das später unter der Bezeichnung "Eimbecksches Haus" - der Name leitet sich von dem dort geschenkten Bier ab - als Ratskeller und in vielfacher anderer Art Verwendung fand, sind zwei Ansichten aus dem 17./18. Jahrhundert erhalten; ein Kupferstich von D. Lemkus aus dem Jahre 1671 und ein um 1769 entstandenes Aquarell, das die Seitenansicht zeigt (Abb. 7).

Mittelpunkt des Rathauses war der große Saal, in dem die Versammlungen des Rates und auch seine Gerichtssitzungen stattfanden. Hier wurde auch die Tafel für festliche Empfänge ausländischer Staatsgäste und für die berüchtigt opulenten Bankette gedeckt. Jeder dieser Verwendungszwecke erforderte nach dem Verständnis jener Zeit eine aufwendige Ausgestaltung, sei es, um Ernst und Würde der Amtshandlungen zu unterstreichen, sei es, um die Bedeutung und den Reichtum der Stadt darzustellen, was insbesondere bei der Bewirtung fremder Amtsträger als notwendig betrachtet wurde. Dabei erwiesen sich manchmal allerdings auch die blauen Augen der Frau Bürgermeisterin als nützlich, wie es die schöne, von Otto Beneke überlieferte Geschichte um Graf Otto von Schauenburg nahelegt: Der Nachbar kam um das Jahr 1429 von seinem Schloß in Pinneberg zur Visite. Vorher wird er im Ratskeller einen guten Schluck genommen haben. Die Frau des worthaltenden Bürgermeisters schwatzte ihm mit viel Geschick "dat lütte Rümeken" zwischen dem Millerntor und dem Altonaer Grenzbach ab. Man brauche es doch so nötig. Die Hamburgerinnen wollten dort so gern ihr Leinen bleichen. Otto widerstand der Bitte nach Benekes Geschichte nicht, und man holte flugs den Ratsnotar, um die Gunst der vermutlich vorgerückten Stunde zu nutzen. So gewann Hamburg im Westen ein beachtliches Stück Land dazu.

Sicherer als durch die Reize der Bürgermeisterin ließ sich Eindruck auf wichtige Staatsgäste und zugleich auf die Bürger aber durch eine wohlausgestattete Ratshalle erzielen. Hierzu gehörten nach dem Geschmack der Zeit vertäfelte oder bemalte Wände und Decken. Auch benötigte man geschnitztes Gestühl und mächtige Leuchter. Neben der Ratshalle war ein Balkon erforderlich, von dem herab die öffentlichen Ankündigungen verlesen, Gesetze und Verordnungen verkündet oder Ansprachen gehalten wurden. Das Hamburger Rathaus war zwar klein, erfüllte aber die notwendigen Funktionen zunächst in ausreichendem Maße.

 
 
Abb. 8: Rathaus des 13. Jahrhunderts; später Ratsweinkeller
(Kupferstich von D. Lemkus, 1671)

Die Zufriedenheit währte nicht lange. Der Knappheit des Raumes wegen und vielleicht auch aus weiter wachsendem Repräsentationsbedürfnis, das die gegen Ende des 13. Jahrhunderts kräftig expandierende Stadt erfaßt haben mag, beschloß der Rat die Errichtung eines neuen Rathauses. Als Bauplatz diente ein Gelände am NESS, und zwar der Platz, an dem heute das Haus der Patriotischen Gesellschaft steht. Hier entstand ein Saalbau mit einer Laube, die viel Platz bot, weil sie in gesamter Länge dem quer zur Straße errichteten Hallenbau vorgelagert war. Im Jahre 1290 begannen die Bauarbeiten. Eine Abbildung aus jener Zeit ist nicht erhalten; Informationsquellen für die Einzelheiten der Ausgestaltung sind im wesentlichen die städtischen Kämmereirechnungen, die seit dem Jahre 1248 erhalten sind. Für das Kernstück des neuen Rathauses, die große Ratshalle, weisen sie auf eine reiche Ausstattung mit gemusterten Tonfliesen, tonnengewölbter und bunt bemalter Holzdecke, kunstvoll gearbeiteten Wandpaneelen und bunten Glasfenstern hin. Ein Leuchter, entworfen und hergestellt durch Meister Bertram von Minden hing von der Decke. Der Meister stellte im Jahre 1383 seinen Altar in St. Petri auf, den wohl umfangreichsten und künstlerisch bedeutendsten Flügelaltar der Gotik in Norddeutschland. Nach einem bewegten Schicksal fand der Altar seinen Platz in der Kunsthalle. Meister Bertram fertigte aber nicht nur große Kunst. Er lebte vorwiegend von Gebrauchskunst wie dem genannten Leuchter. Zu seinen Aufträgen gehörte es auch, auf die Taschen der Briefboten das Stadtwappen zu malen.

Die Gerichtsstätte des Rathauses lag vor der Ostwand, dort befanden sich das Senatsgehege und das Ratsgestühl. Neben anderen Bildern schmückte und mahnte eine Darstellung des jüngsten Gerichts die Urteilenden. Auf grün gedecktem Tisch lagen ein silberner Reliquienschrein und das Stadtrechtsbuch mit dem Stadtrecht von 1292 (1301), dem roten Stadtbuch. Das Geviert galt als befriedet, Waffen waren abzulegen. Mit Ausnahme des Reliquienschreines und mit geringfügigen Rechtsänderungen weist das Senatsgehege diese Symbole noch heute auf. Welche Schrecknisse das Jüngste Gericht noch zu verbreiten vermag, ist nicht bekannt.

Nach einem Anbau zum Fleet hin um 1460 - es sollte nicht der letzte sein - behielt das Rathaus seine Gestalt bis ins Jahr 1602. Für die Fassade sind uns aus der Zeit nach dem Anbau des Niedergerichtsgebäudes Abbildungen erhalten (Abb 2). Dort sieht man auch einen Teil des Rathauses, insbesondere das alte spitzbogige Portal, das die "Stadtheiligen" Maria und Petrus flankieren. Dieses Rathaus, 26 Meter lang und 17 bzw. 18,5 Meter breit, in bläulichem gebrannten Stein war für Jahrhunderte Schauplatz der politischen und rechtlichen Geschichte und Geschicke der Stadt. Hier wurde die Neuordnung des Stadtrechtes 1301/02 besprochen, die Neufassung und Erweiterung durch Langenbeck im Jahre 1497 geschaffen, das Stadtrecht von 1603 herausgegeben, Burspraken (Verordnungen und Verfügungen des Rates für die Bürger) aus der Laube verlesen, Urteile wurden gesprochen, gesammelt und veröffentlicht. Man intrigierte, feierte, stritt sich, plante, gab diplomatische Empfänge, bekämpfte Revolten, überstand den schwarzen Tod, der immer wieder über Europa hereinbrach und dem Hamburg als Hafenstadt besonders ausgesetzt war. Und immer ging es doch aufwärts.

Als die Reformationszeit anbrach, die in Hamburg weit weniger dramatisch verlief als in anderen Städten, ersetzte man den Reliquienschrein im Senatsgehege durch ein reich geschmücktes Evangeliar. Dies war äußerlich nahezu die einzige Spur, die die Reformation am Rathausbau hinterließ.

Ende des 16. Jahrhunderts wurde es wieder zu eng. Die Stadt kaufte das Nachbargrundstück am NESS auf, riß eines der stattlichsten Bürgerhäuser ab und vollendete 1602 einen den alten Rathausbau überragenden "Anbau", dessen Architektur wenig Rücksicht auf die vorhandene Bausubstanz nahm - eine in Hamburg immer wieder zu beobachtende Achtlosigkeit. Nicht mehr nützlich, zu klein, überlebt - also weg damit. Daß diese Stadt heute so wenige historische Bauten aufweist, ist nicht allein eine Folge des Brandes von 1842 oder der verheerenden Verwüstungen des Zweiten Weltkrieges: Auch vorher schon gab es angesichts des Alters und der Bedeutung der Stadt nur eine geringe Zahl von Baudenkmälern. Die Achtlosigkeit hatte schon früher für steten Abriß gesorgt. Die Zerstörungen waren so gründlich, daß es 180 Jahre dauerte, um eine Madonnenfigur von 1430 aus den Trümmern des 1804/05 abgerissenen kunsthistorisch wertvollen Domes zu finden und zu bergen, wie dies vor einigen Jahren geschah.

Den Gesamteindruck des Rathaus-Neubaus nennt Reincke "nicht eben bedeutend, jedoch ansprechend". Nachdem 1618 das Reichskammergericht die von Dänemark immer bestrittene Reichsunmittelbarkeit Hamburgs anerkannt hatte, füllte man die bis dahin leeren Nischen der Fassade mit den Standbildern deutscher Kaiser von Karl dem Großen bis zum damals regierenden Ferdinand II. (1619-1637); Auswahlkriterium waren besondere Verdienste um die Stadt Hamburg.

Eine erneute Erweiterung des Rathauses beschloß der Rat für das Jahr 1649. Der Anbau von 1602 erhielt einen weiteren Anbau, der wiederum unbekümmert daneben gesetzt wurde. Das Ergebnis zeigt ein Bild von Lemkus (Abb. 9).

Den vermehrten Raum benötigte man dringend. Die Verwaltung der Stadt hatte sich beträchtlich ausgedehnt - welche täte dies nicht. Es war Platz zu schaffen auch für die Kollegien der erbeingesessenen Bürgerschaft und für die Vertretung der Kirchspiele; eine sich stetig vergrößernde Registratur, Räume für das Hypothekenwesen und den Zoll mußten bereitgestellt werden. Es war eine schreibselige Zeit angebrochen, wie Reincke meint. Die Ratsstube war jetzt heizbar.
 
 
 

Abb. 9: Die Anbauten des Rathauses

Im Ergebnis gerieten Äußeres und Inneres ungeachtet des Flickwerkes doch so prächtig und groß, daß das neue Rathaus in den Reisebeschreibungen des 17. und 18. Jahrhunderts zunehmend positive Erwähnung fand - und man reiste weit in jener Zeit! Von Besuchern und Künstlern wurde besonders das Malerische des gesamten Ensembles an TROSTBRÜCKE und NESS hervorgehoben und festgehalten: Das Rathaus selbst, das Niedergericht, die danebenliegende Wache, die Börse, das Commerzium mit der Bibliothek, die Stadtwaage, der Krahn und das Zollhaus. Noch Lessing bewunderte die Pracht. 1772 jedoch brach sich auch in der Hamburger Architektur die Aufklärung Bahn: Die Front des alten Rathauses wurde durch eine spätbarocke Fassade der "modernen Zeit" ersetzt. Im Inneren beseitigte man entschlossen das "dumpfe Mittelalter". Reincke nennt das, was nun an Bildersturm einsetzte, einen "ideell begründeten Vandalismus". Die amtliche Anweisung lautete dahin, es solle "alle Pracht und überflüssige Kosten vermieden werden und nur auf Ordnung und Simplizität unter Wegnehmung der altväterlichen Verzierungen gesehen werden". Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dies habe sich später einmal oder mehrmals in ähnlicher Weise wiederholt. 1772 jedenfalls wurde Meister Bertrams Kronleuchter auf Geheiß des Rates von den "überflüssigen Zierraten erleichtert". Es wird nicht leicht gewesen sein, einen spätgotischen Leuchter wie den Meister Bertrams zur Simplizität zu führen. Die unterteilten Glasfenster ersetzte man im Zeichen lichter Aufklärung durch große Scheiben aus hellem Glas. Im Hochgefühl der Überwindung des finsteren Mittelalters wurden reichverzierte Holzdecken und Wandpaneele, Vergoldungen und Stuck entfernt. Man säuberte das Rathaus auch von überflüssiger Kunst und verschleuderte 140 Gemälde zu Spottpreisen, darunter Bilder von Rembrandt und Rubens. Man räumte auf.

 
 
Abb. 10: Rathaus (um 1772)

Die Rathaushalle, ehemals ihrer Pracht wegen bewundert, bot danach bis zum Brande von 1842, im Verlaufe dessen das Rathaus gesprengt wurde, um das Feuer aufzuhalten, ein Bild der Ordnung und der Schlichtheit (Abb. 11). Auch das kostbare Ratssilber, über Jahrhunderte gesammelt und zur Demonstration städtischer Macht zur Schau gestellt, fiel dem neuen Geist zum Opfer. Es wurde eingeschmolzen. Dies alles empfanden die Verantwortlichen als bedeutenden Fortschritt. Reincke - im Jahre 1951 - stimmt dieser Meinung allerdings nicht zu, wenn er zusammenfassend feststellt, man sei "vom Burgunder auf Mineralwasser heruntergekommen".
 
 
 

Abb. 11: Die Halle im Rathause zu Hamburg im Jahre 1800