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I. Juste iudicate

Risse, abblätternde Farbe, Wasserflecken, schmutzige Fensterscheiben, unansehnliche und ungeeignete Möbel, triste, vernachlässigte und ungepflegte Flure oder Sitzungssäle: Ärmlichkeit bestimmt im Inneren vieler unserer Gebäude der Rechtspflege immer noch das Bild, ein Zustand, der erstaunlicherweise überwiegend nicht als Mangel empfunden und daher hingenommen wird. Zeichnet doch Bescheidenheit und Zurückhaltung den Richter aus, gebietet doch schon die räumliche Berührung des Rechtssuchenden mit der Justiz sofortiges Hervorrufen von Unbehagen. Trefflich wird beides durch den derzeitigen Zustand der Gebäude am Sievekingplatz unterstrichen.

Lieblosigkeit bei der Ausstattung von Gerichtsstätten hat in Hamburg - einige Höhenflüge ausgenommen - eine gewisse Tradition. Immer wieder klagten die Mitglieder des Niedergerichts über Enge und Verfall. In frühester Zeit allerdings wurde dem Ort, an dem Recht gefunden werden sollte, besondere Bedeutung beigemessen. So war es wohl auch in Hamburg. Dieser Bedeutung trug man durch sorgsame Auswahl des Platzes und würdige Ausgestaltung der Gebäude Rechnung, sollten doch Würde und Verantwortung der Rechtsfinder durch angemessene Umgebung unterstrichen werden.

In germanischer Zeit wurde Gericht gehalten an einer "von Menschenhand unberührten, durch selbstgewachsene Bäume gehegten und eingefriedeten Stätte". Die Gewohnheit, Gericht unter freiem Himmel zu halten, erhielt sich auch nach der Christianisierung, wenngleich schon viele Eichen und Linden dem Beil der Missionare zum Opfer gefallen waren. Zu Anfang des 9. Jahrhunderts wies Ludwig der Fromme die Grafen an, Häuser für die Gerichtsversammlungen zu bauen, damit unabhängig von der Witterung Gericht gehalten werden könne. Dies war ein Gedanke, der sich jedoch lange Zeit nicht durchsetzte. Noch im 15. Jahrhundert hielt man vielerorts Gericht unter freiem Himmel, so auch in Hamburg. Auf diese Tradition weist die noch im 18. Jahrhundert gebräuchliche Dinghegungsformel hin. Dabei stellte der Gerichtsvogt vor Beginn des Gerichtstages die Frage, "ob es wol so ferne am Tag sey, ein frei offenes Gericht zu hegen und zu halten". Er gebot sodann, "daß niemand zwischen diese Bäume gehe, er habe denn Urlaub", also Erlaubnis.

In Hamburg hatte sich neben der erzbischöflichen Altstadt um die ehemalige Hammaburg als Kerngebiet jenseits der Alsterschleife seit dem Jahre 1188 die gräfliche Neustadt entwickelt. Adolf III. von Schauenburg hatte, in dem Wunsche, zur Belebung des holsteinischen Wirtschaftsraumes einen Fernhandelshafen anzulegen, dem "Siedlungsunternehmer" Wirad von Boitzenburg erlaubt, dort auf gräflichem Territorium eine Siedlung zu gründen. Adolf schenkte den Kolonisten nicht nur das erforderliche Land, er stattete sie auch mit großzügigen Privilegien aus, die ihnen unter anderem die Geltung des fortschrittlichen lübischen Rechts verschaffte. So durften sie ihre Grundstücke (Sie waren zunächst um die Alsterschleife bogenförmig angeordnet, was noch heute im Straßenbild erkennbar ist.) besitzen, ohne dafür Grundzins an den Grafen zahlen zu müssen. Ihnen wurde gestattet, nicht nur Wochenmärkte, sondern auch zu Mariae Himmelfahrt und am Veitstag Markt zu halten. Sie wurden für drei Jahre von den meisten Abgaben befreit. Das Pflänzchen sollte wachsen.

Adolf von Schauenburg ordnete seine Verhältnisse deswegen so gründlich, weil er im Begriffe stand, an einem Kreuzzug teilzunehmen, ein Entschluß, der nicht immer in glücklicher Heimkehr endete. Es handelte sich um den 1189 begonnenen Kreuzzug Friedrich Barbarossas, in dessen Verlauf der Kaiser 1190 ertrank. Auf Betreiben Adolfs gewährte Friedrich I. den Siedlern das Recht, vom Meer bis in die Stadt mit Schiffen, Waren und Leuten frei von allem Zoll zu verkehren. Hierüber existiert der auf den 7. Mai 1189 datierte Freibrief, an dessen Datum sich der jährliche "Hafengeburtstag" knüpft. Über die Echtheit dieser Urkunde bestehen gravierende Zweifel. Reincke sah als ihren Urheber den Ratsnotar Jordan von Boitzenburg (ca. 1210-1274) an, der vermutlich ein Enkel Wirads war. Allerdings ist es wohl richtig, daß Friedrich Barbarossa ein solches Privileg wirklich gewähren wollte - er kam lediglich nicht mehr dazu, es ausfertigen zu lassen, und so verhalfen die Hamburger dem kaiserlichen Willen doch noch zur Geltung.....

In der Folgezeit gab es nun an der Alster nicht nur zwei Rathäuser, sondern auch zwei Dingbänke, an denen nach unterschiedlichen Rechtsordnungen verhandelt wurde: in der Neustadt galt das Soest-Lübische Recht, in der Altstadt das Sächsische Recht. Wo diese beiden Dingbänke standen, ist unbekannt.

Beide Siedlungen schlossen sich zu Beginn des 13. Jahrhunderts unter der Herrschaft der Schauenburger zusammen. Nach dem Rückzug der Erzbischöfe in die Stadt Bremen waren 1228 die Hoheitsrechte an die Schauenburger abgetreten worden. Die gewachsene tatsächliche Annäherung der Gemeinwesen wurde nun auch rechtlich vollzogen. Überliefert wird dieser Akt erstmals im Stadtrecht von 1292 (1301):

"Dat se sik hebbet vorevenet unde ere recht gesat, also hir bescreven steit, dat Hamborch eyn is unde eyn bliven scal immermehr. Eyn radhus scal men ok hebben unde anders nein, une eine dingbank darbi, unde de markete scolen bliven also se er were." Eine Dingbank also wollte man für die Stadt haben. Wo lag sie? Erstmals erwähnt wird die Gerichtsstätte im Rentebuch des Kirchspiels St. Petri im Jahre 1353. Dort ist die Rede von einem "domum iudicii" gegenüber dem Rathaus am Neß. Dieses lag dort, wo heute das Gebäude der Patriotischen Gesellschaft steht. Dazu der Kartenausschnitt (Abb. 1).
 
 
Abb. 1: Hamburg um 1320

Das am alten Hafen errichtete Gerichtsgebäude dürfte eine halboffene Halle gewesen sein, wie sie in den Miniaturen des Stadtrechts von 1497 dargestellt ist. Mitten im Marktgeschehen gelegen, bot sie der Öffentlichkeit Gelegenheit zur Teilnahme am Gang der Verhandlung. Sehr anschaulich dargestellt ist dieses in einem Schaukasten des Museums für Hamburgische Geschichte. Hier ahnt man, wie unmittelbar Rechtsprechung im alltäglichen Leben verankert war. Wie immer in jenen Zeiten finden wir zur selben Zeit das pralle Leben und den Gedanken an das Jenseits vereint. Sicher war die Gerichtslaube nicht nur mit einer Darstellung des Jüngsten Gerichts, sondern auch mit Mahnungen an die Urteilsfinder geschmückt. Beispiele hierfür finden wir gleichfalls in den Miniaturen des Stadtrechtes von 1497:

Juste iudicate! = Urteilt gerecht!
Seite 4 - hier Abb. 1 (Hamburg um 1320).und
Ein jegliches Urteil, das ihr sprecht, wird auf euch zurückfallen. Denn mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden. Darum sehet zu, was ihr tut, wenn ihr anderen ein Urteil sprecht. Denn ihr haltet nicht der Menschen, sondern Gottes Gericht.
Ob in der Gerichtslaube Recht unter Beachtung dieser Sätze gesprochen wurde, wollen wir hier nicht untersuchen, wie könnten wir dies auch? Die Laube jedenfalls wurde 1558 abgebrochen. Grund sei gewesen, daß Veränderungen an der Kaimauer nötig würden. Tatsächlich war es aber wohl so, daß der Rat (bestehend aus Großkaufleuten) dem Drängen der Kaufleute (zum Teil Ratsmitglieder) nachgab, ihren traditionellen Versammlungsort auf dem Markt durch einen umfriedeten Börsenplatz zu institutionalisieren. Hierzu brauchte man das Gelände. Die Börse entstand auf dem ehemaligen Platz der Gerichtslaube: Justitia wird von Merkur verdrängt. Ob hieran die Merkurfigur auf dem Ziviljustizgebäude am Sievekingplatz erinnern soll?

1560 - nach zwei Jahren - bezog das Niedergericht ein neues Gebäude (Abb. 2). Es war als Anbau zum Rathaus errichtet worden. Ein Bild aus dem Wappenbuch des Niedergerichts (Staatsarchiv Hamburg) gibt eine schöne Ansicht des "Richthus", wie es Jan Dierksen auf einem Stich aus dem Jahre 1600 nennt.

 
 
Abb. 2: Rathaus und Niedergericht um 1600

Noch aus der Tradition der offenen Halle herrührend, erhielt das Rathaus zum Markt hin Fensterläden, die der Öffentlichkeit in den Audienzsaal Einblick gewährten. Auch hier ist das Wappenbuch mit einer Abbildung des Audienzsaals, also des Sitzungszimmers hilfreich. Sie gibt den Zustand nach einer Renovierung im Jahre 1621 wieder.

 
 
 
 
 

Abb. 3: Audienzsaal nach 1621

Im mittleren Bild des Wandschmucks ist die Gerechtigkeit dargestellt mit der Unterschrift:

Recht thue ich gern jedermann, nehme keine Gunst noch Gaben an!
Die Abbildung 4 zeigt den Grundriß des Gerichtsgebäudes neben dem Rathaus. Deutlich erkennbar ist die Notwendigkeit, den Eingang zum ersten Stock des Rathauses, zur Akzise, mit zu benutzen, um in das obere Stockwerk des Gerichts zu gelangen. Die "Gerichtsverwaltung" saß höchst verborgen und unzugänglich im Obergeschoß, wo mancher sie ganz zu Unrecht auch heute noch gern sähe.
 
 
 
 

A Eingang in das Niedergericht und der niedergerichtliche Audienzsaal
B Die Relationsstube
C Die Wache (Corps de Garde) und Boutiquen
D Der Eingang zum Rathaus durch die große Rathaustür
E Vorzimmer vor der Cämmerei
F Eingang zur Cämmerei
G Ein Teil des großen Rathauses
I Treppe, auf der man vom großen Rathause zur alten Admiralität über
dem Niedergericht gelangte
K Eingang und Treppe zu den Localitäten der Accise in der oberen Etage
der Rathäuser
L Tür und Wendeltreppe um vom großen Rathause zu der Kanzlei über dem
Relationszimmer zu gelangen

Abb. 4: Grundriß des Niedergerichts-Gebäudes und eines Teils des Rathauses

Dieses erste geschlossene Gerichtsgebäude in Hamburg wurde fast 200 Jahre genutzt. 1757 ließ es die Stadt wegen Baufälligkeit abbrechen. Dieser Entschluß kam für die Mitglieder des Gerichts völlig überraschend. Die Art und Weise seiner Durchführung zeigt einen recht rüden Umgang mit den Hütern des Rechts:

Nachdem am 18. Februar 1757 die letzte Relation vor den Ferien gehalten worden war, ließ der Präses des Niedergerichtes das Kollegium nochmals zusammentreten und eröffnete diesem, der Bauhof habe plötzlich ohne weitere Anzeige oder vorherige Rücksprache am 19. Februar mit der Ausräumung des Audienzsaales begonnen. Er, der Präses, habe davon zufällig erfahren, weil der Gerichtsbote Zeuge jener Maßnahme geworden sei und ihn unterrichtet habe. Man staunt. Aber haben wir es heute mit dem rechtlichen Gehör vor Maßnahmen der Gerichtsverwaltung denn viel weiter gebracht?

Nach heftigen Vorstellungen einer Deputation von Gerichtsmitgliedern gegenüber dem Senat zog sich dieser auf die Erklärung zurück, der Bauhof habe eigenmächtig gehandelt und wies beschwichtigend darauf hin, daß es doch günstig sei, die notwendige Verlegung des Gerichts während der Ferien vorzunehmen. Das Kollegium wird dem nicht weiter widersprochen haben.

Bis zur Vollendung eines Neubaus zog das Niedergericht in den Kaiserhof. Der etwas sonderbare Gedanke, bei solchem Namen müsse es sich bei dem neuen Domizil für das Niedergericht um ein Gasthaus handeln, ist gleichwohl zutreffend. Die Stadt hatte das seit alters her bekannte Wirtshaus am Neß Nr. 66, das 1603 an Stelle eines älteren Gebäudes errichtet worden war, im Jahre 1726 erstanden (Abb. 5). Seine Fassade galt noch im 19. Jahrhundert als bedeutendes Beispiel Hamburgischer Renaissance-Architektur. Zwei Jahre residierte hier das Niedergericht.

 

 
Abb. 5: Kaiserhof am Neß 66

Die Einweihung des neuen Gerichtsgebäudes fand am 17. März 1759 anläßlich der Gerichtseröffnung nach den Ferien statt. Das Gebäude war wiederum ein Anbau des Rathauses. Es war recht stattlich und im neuen Stil gebaut, wie eine Zeichnung des Topographen Gaedechens zeigt (Abb. 6).
 
 
 

Abb. 6: Neubau 1759 (C. F. Gaedechens)