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Tagung der Richterakademie in Wustrau vom 27. bis 30.04.2006 zum Thema

"Berufsalltag von Richtern, Rechtsanwälten und Staatsanwälten

im Spannungsverhältnis von Berufs-Ethik und Ökonomie"

 

Vortrag von Dr. Heiko Raabe (PräsAG Hamburg)

 

Zunächst einige Aussprüche von dritter Seite, die mir zum Thema richterliche Unabhängigkeit in Erinnerung geblieben sind, in ihrer Verkürzung fragwürdig, aber vielleicht mit einem Kern Wahrheit:

Die richterliche Unabhängigkeit wird - so meine ich - in der Tat zu hoch gehängt, soweit es um angebliche Gefährdungen geht. Die Bedingungen sind nicht so, daß hier ernsthafte Befürchtungen gerechtfertigt werden. Ich arbeite seit 24 Jahren in Gerichtsverwaltungen und leitender Behördenfunktion - einen Eingriff bzw. Zugriff auf richterliche Unabhängigkeit von den anderen zwei Staatsgewalten habe ich bislang nicht erlebt, wenn man von seltenen Versuchen einmal absieht, die auf Präsidentenebene abgeblockt wurden. Druck wird immer wieder von Medien aufgebaut, das mag den einzelnen Richter beeinträchtigen. Hier ist Standhaftigkeit zu erwarten und zu fordern, im übrigen Flankenschutz durch die Gerichtsleitungen. Als jemand, der in den siebziger Jahren beruflich sozialisiert wurde, würde ich mir - im Gegenteil - bisweilen eine deutlichere Wahrnehmung richterlicher Unabhängigkeit wünschen. Anpassung und Wohlverhalten als Reflex auf tatsächliche oder vermutete Erwartungshaltung sind menschlich, aber mit den hehren Grundsätzen nicht vereinbar. Und der Satz des preußischen Justizministers Adolf Leonhardt: "Ich will den Richtern gern ihre so genannte Unabhängigkeit konzedieren, solange ich über ihre Beförderung entscheide", dürfte auch nicht ganz frei von Wahrheitsgehalt sein.

 

Aber darum geht es hier nicht. Welcher Zusammenhang besteht zwischen richterlicher Unabhängigkeit und sächlicher, insbesondere personeller Ausstattung der Gerichte ? Vordergründig gar keiner. Jeder Richter erhält sein Gehalt, ist unabsetzbar und nicht versetzbar - unabhängig von den dem Gericht zugewiesenen Ressourcen. Jeder Richter mag und kann richten - unabhängig von der jeweiligen Haushaltslage. Wo ist also das Problem ? Das Problem kommt auf leisen Sohlen, sozusagen subkutan. Wenn z.B. der Fraktionsvorsitzende einer Volkspartei in der Bürgerschaft - das ist das Hamburger Parlament - fordert, daß in Zeiten knapper Kassen die Bearbeitungstiefe zur Überprüfung anstehe. Wenn Erledigungszahlen als feststehendes und maßgebliches Qualitäts- und Qualifikationskriterium in Beurteilungen Raum greifen. Wenn der Präsident den jungen Richtern verdeutlicht - wir haben am Amtsgericht Hamburg zur Zeit 45 Proberichterinnen und -richter -, also verdeutlicht, daß keine Dissertationen erwartet werden, ja daß diese nicht erwünscht sind, sondern praktische Arbeit und im übrigen ein Richter nicht ständig mit dem Staudinger unter dem Arm durch die Gerichtsflure zu gehen hat. Wenn dieses so ist, haben wir die Lage: Wirtschaftliche und Haushaltsfragen treffen widerstreitend auf die richterliche Unabhängigkeit.

 

Was ist zu tun, wie läßt sich der Widerstreit auflösen ?

Der einfachere Teil der Übung ist die Einforderung eines Kostenbewußtseins: Richter leben nicht unter einer Käseglocke, auch sie müssen mit Steuermitteln wirtschaftlich und sparsam umgehen, wie dies im übrigen die Landeshaushaltsordnungen gebieten. Wenn zum Beispiel Dolmetscher bestellt werden, die einen Globalvertrag mit gedeckelten Dolmetschergebühren nicht unterschrieben haben, und sachliche Gründe für diese Bestellung nicht bestehen, so mag diese Entscheidung von der richterlichen Unabhängigkeit gedeckt sein, akzeptabel ist sie indessen nicht - und das ist deutlich zu machen. Entsprechendes gilt z.B., wenn ein Richter sich mit seiner Arbeits- und Verfügungstechnik nicht auf das EDV-Programm der Geschäftsstelle einlassen will - unter Berufung auf seine richterliche Unabhängigkeit.

 

Nicht auflösbar erscheint dagegen der Widerstreit zwischen richterlichem Selbstverständnis / eigenem Qualitätsanspruch einerseits und Erledigungsdruck / Sparsamkeitsgebot andererseits. Das hat mehrere Gründe:

 

Aussichtslos ist bereits eine ungeschminkte Bestandsaufnahme. Das Beispiel der Arbeit als gasförmige Substanz hat eine höhere Wahrheit für sich. Ich bin in meinem Berufsleben in allen Bereichen und in allen Funktionen der ordentlichen  Gerichtsbarkeit tätig gewesen. Eines habe ich eigentlich nie erlebt: Daß ein Kollege zu mir gesagt hat, er sei unterlastet. Der Aktenzufluß übt auf Richter offensichtlich nicht dieselbe Attraktion aus wie auf Rechtsanwälte. Positive Kompetenzkonflikte - vom Präsidium zu entscheiden - sind eher die Ausnahme. Das - insbesondere von Verbänden - geschürte Klagen gehört zum Ritual, führt in der Sache nicht weiter und schadet unserer Glaubwürdigkeit.

Ein Blick hinter die Klagemauer bietet ein völlig anderes, jedenfalls sehr differenziertes Bild. Zum Beispiel 270 Richter am Amtsgericht Hamburg: Da ist alles anzutreffen. Zwischen einem durch ein auskömmliches Zeitbudget geprägtes Richterleben mit einem entsprechenden Arbeitstag und Arbeitstakt bis hin zu ‑ insbesondere jüngeren - Kollegen, die jedes Wochenende das Gericht bevölkern. Natürlich: Hier spielt Berufsroutine eine große Rolle. Aber: Die entscheidenden Stellschrauben sind Qualität und Standard. Nur: Was ist das ? Und wer bedient diese Stellschrauben ? Sicherlich in erster Linie der entscheidende Richter. Und darüber hinaus ? Gibt es einen Konsens (quality-circle) ? Sicherlich nicht ! Und - damit sind wir bei dem Thema -: An welcher Qualität und an welchem Standard hat der "Geldgeber", also das Parlament sich zu orientieren ? An dem höchsten und damit kostenintensivsten ? Eher unwahrscheinlich ! Hier hilft keine auch noch so sorgfältig durchgeführte PEBB§Y-Erhebung. Es gibt natürlich Erfahrungswerte. Aber mit der Erfahrung ist es so eine Sache. Wie hat Bernhard Shaw gesagt:  Erfahrung ist häufig nichts anderes als das, was man zwanzig Jahre lang falsch gemacht hat.

Und Erfahrungen können auch irritieren: Als junger Richter - und Herr Dr. Büchel kann dies bestätigen - hatte ich eine Zivilabteilung mit 1.800 bis 2.000 Eingängen pro Jahr. Zugegeben: Die Zählweise war seinerzeit eine etwas andere, es gab im übrigen deutlich mehr Versäumnisurteile und die Struktur der Rechtsstreitigkeiten mag eine andere gewesen sein. Dennoch: Es standen 35 bis 40 Sachen auf der Terminsrolle und harrten der Erledigung. Und das sollte erst einmal geleistet werden. Heute ist ein Zivilrichter mit 700 Eingängen gut ausgelastet, zum Teil überlastet, und auch das ist gut nachvollziehbar. Was bedeuten vor diesem Hintergrund Qualität und Standard, was Gerechtigkeits- und Sparsamkeitsgebot, was Erledigungsdruck und was letztendlich richterliche Unabhängigkeit. Fragen über Fragen, zu denen mir so recht eine Antwort nicht einfällt.

Und im übrigen auch keine Lösungen. Gäbe es sie, wären sie längst gefunden worden.

 

Diskutiert werden können Lockerungen und Abmilderungen, nicht jedoch eine Auflösung der Zielkonflikte. Schlagworte: Eigenverantwortung der Gerichte und Planbarkeit der Ressourcen.

 

Selbstverwaltung der Gerichte, heftig umstritten, von vielen als Allheilmittel beschworen - meines Erachtens sinnvoll, aber kein Königsweg. Gerichte können sachgerechter über die Ressourcenverteilung entscheiden, frei von politischen Prioritäten und Eitelkeiten - ich habe während meiner Behördentätigkeit auf diesem Felde tolle Sachen erlebt. Gerichte können aber auch besser für eine gleichmäßige Auslastung sorgen - ein wichtiger Schritt in Richtung einer verantwortlichen Rechtsprechung mit entsprechender Qualität. Nur:  Ein Geldvermehrungsinstrument ist dieses Institut auch nicht. Ebenfalls im übrigen nicht die Beteiligung der Justiz an dem jeweiligen Haushalt mit einem festen Prozentsatz, wie immer wieder vorgeschlagen und ‑ so meine ich - in einigen Ländern auch praktiziert.

Für plausibel halte ich eine unterschiedliche Betrachtungsweise je nach Funktion bzw. Verfahrensart: Wenn die Gerichte als klassische Dienstleister angesprochen und gefordert sind - z.B. im Zivilprozeß - ist Kostendeckung anzustreben (z.Zt. haben wir einen Kostendeckungsgrad zwischen 80 und 90 %). Diese Forderung ist durchaus angemessen: Bei den Gerichten wird hoch professionelle Arbeit geleistet und abgeliefert, sie muß entsprechend bezahlt werden. Die Gerichte verfügten über einen kalkulierbaren Einnahmeposten - frei von politischer Einflußnahme. Die Ausgestaltung der PKH ist sodann eine politische Entscheidung. Sie muß von der Politik vor dem Hintergrund des Sozialstaatsprinzips getroffen werden. Betreuungsrecht: Eigentlich Kosten, die dem Sozialhaushalt zuzurechnen sind. Und dann unser kostenintensives Strafverfahren: Es geht hier um die innere Sicherheit. Und die Politik mag entscheiden, wie komfortabel das auszusehen hat, ob wir uns das hypertrophe Verfahrensrecht erlauben, leisten und es weiter bezahlen oder in Berlin einer hoch notwendigen Remedur unterziehen wollen. Der Einheits"mustopf" Justizhaushalt - noch angereichert durch den Strafvollzug - enthebt die Politik der Notwendigkeit und der Verpflichtung, unbequeme Fragen zu beantworten und noch unbequemere Entscheidungen zu treffen.

Dies sind nur einige Überlegungen, die die Probleme vielleicht mehr beschreiben als sie zu lösen.

 

Zurück:  Qualitätsanspruch und Standard steuern maßgeblich die Belastung. Und die richterliche Unabhängigkeit ? Wie paßt sie in dieses Dramadreieck ? Richterliche Unabhängigkeit ist eine innere Einstellung. Der aufrechte Gang ist vorhanden, ganz, teilweise oder überhaupt nicht - unabhängig von äußeren Faktoren. Ein Richter, der nur in Schönwetterzeiten unabhängig ist, ist nicht unabhängig.

 

Und ein letztes Wort zu unserem Nachwuchs - und dies ist mir besonders wichtig:

Wenn ich Berufsanfängern die Ernennungsurkunde aushändige, wird mir von diesen immer wieder mit strahlendem Gesicht gesagt: Herr Dr. Raabe, der Richterberuf ist mein Traumberuf. Wenn ich diese Berufsanfänger einige Zeit später wiedersehe und sie frage, ob es ihnen denn gut gehe, erhalte ich regelmäßig die Antwort: Es ist sehr sehr viel zu tun, aber es bringt auch sehr viel Spaß. Es wird deutlich: Die Ernsthaftigkeit in der Berufsauffassung geht einher mit Berufsfreude und Berufszufriedenheit.

 

Dies sind beste Voraussetzungen für einen engagierten, leistungsstarken und unabhängigen Richternachwuchs. Wir alle sollten die jungen Richter in dieser Einstellung bestärken und nicht durch eine Klage - und Jammerkultur sowie die Entwicklung von Schreckensszenarien einer zusammenbrechenden Justiz verunsichern.