Zunehmende Kluft zwischen Justiz und Gesellschaft
(dpa-Gespräch mit Dr. Heiko Raabe vom August 1998)
Hamburg (dpa/lno) - Eine zunehmende Kluft zwischen der Justiz und Teilen der Gesellschaft hat der Vorsitzende des Hamburgischen Richtervereins, Heiko Raabe, ausgemacht. In der Bevölkerung herrsche eine tiefsitzende Unkenntnis über das, was Richter machten und was sie machen könnten, sagte Raabe in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Gerichtsentscheidungen stießen deshalb immer häufiger auf Unverständnis und unberechtigte Kritik in der Bevölkerung. Hier die Bevölkerung sachlich zu informieren, sei auch Aufgabe der Medien.
Dennoch stehe auch die Justiz in der Pflicht, ihre Entscheidungen zu hinterfragen, sagte Raabe. «Wir Richter sind nicht dazu da, der Bevölkerung oder den Medien zu gefallen, auf Beifall zu hoffen. Wir sind aber auch verpflichtet, gesellschaftliche und soziale Probleme und Veränderungen wahrzunehmen und uns zu fragen, ob unsere Entscheidungen, die ja häufig Wertentscheidungen sind, der Wirklichkeit gerecht werden.»
Das liberale Jugendstrafrecht habe sich bewährt. Dennoch könne im Jugendstrafrecht vor 20 Jahren noch richtig gewesen sein, was heute möglicherweise nicht mehr in jedem Einzelfall passe, weil die Qualität der Kriminalität sich verändert habe. «Gerade im Bereich der Jugendkriminalität fragen wir uns, ob die verhängte Sanktion von dem einzelnen Jugendlichen ernstgenommen wird oder ob er den Sitzungssaal verläßt und sagt ‚Banane‘. Würden Sanktionen nicht ernstgenommen, so wäre das pädagogisch verheerend.» Es gehe hier also nicht um hohe
beziehungsweise harte Strafen, es gehe auch nicht nur um eine zeitnahe Sanktion, es gehe insbesondere um eine Sanktion, die als solche von dem Jugendlichen auch verstanden und wahrgenommen werde. Alle diese Fragen würden unter Richtern und Staatsanwälten ernsthaft diskutiert.
Raabe sprach sich für die Einführung gesicherter Heimplätze für eine kleine Gruppe besonders gewalttätiger Jugendlicher aus. «Wir brauchen diese weichere Alternative zur Untersuchungshaft», forderte der Vorsitzende des Hamburger Richtervereins, in dem rund 600 der 900 Richter der Hansestadt organisiert sind.
Die beiden Jugendlichen aus Tonndorf, die in einer offenen Jugendwohnung untergebracht waren und Ende Juni den Lebensmittelhändler Willi Dabelstein ermordet hatten, wären "klassische Fälle" für eine gesicherte Heimunterbringung gewesen, meinte Raabe. «Die Frage der Einrichtung gesicherter und pädagogisch besonders betreuter Heimplätze ist aber keine Frage, die allein die Justiz zu beantworten hat, sondern auch die Jugendpolitik. Raabe wies darauf hin, daß alle Hamburger Jugendrichter wie auch der Hamburgische Richterverein sich Anfang der 60er Jahre gegen die Abschaffung geschlossener Heime als Alternative zur Untersuchungshaft ausgesprochen hätten.